Urteil vom Verwaltungsgericht Sigmaringen - 4 K 3935/20

Tenor

Die Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 2. Oktober 2020 werden aufgehoben.

Der Beklagte und der Beigeladene tragen jeweils die Hälfte der Kosten des Verfahrens und ihre außergerichtlichen Kosten jeweils selbst.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 28.06.2019 zum Ausbau des Dachgeschosses auf Grundstück Flst. Nr. 792, …, mit der zugleich das gemeindliche Einvernehmen der Klägerin ersetzt wurde.
Der Beigeladene beantragte am 08.02.2019 eine Baugenehmigung zum Ausbau des Dachgeschosses auf Grundstück Flst. Nr. 792, … durch die Erhöhung des Kniestockes und den Einbau von Gauben. Das Gebäude … wird bislang als Wohngebäude mit vier Wohnungen genutzt, durch den Ausbau des Dachgeschosses sollen zwei weitere Wohnungen entstehen. Der Bauantrag sieht dazu vor, die Traufhöhe des Gebäudes von bislang 3,10 m auf 3,90 m zu vergrößern und im Dach zwei Gauben einzubauen, wobei der Kniestock anschließend 1,15 m hoch sein soll. In der Südseite des Daches ist eine Gaube über eine Länge von 10,47 m geplant, in der Nordseite über eine Länge von 12,50 m. Beide Gauben sollen mit mehreren Fenstern versehen werden. Die Dachneigung soll über den Gauben jeweils 10 Grad betragen, im Übrigen 30 Grad. Im Lageplan des Bauantrages ist das Vorhaben wie folgt dargestellt:
(Auszug aus der Baugenehmigungsakte)
Für das Baugrundstück setzt der am 30.06.1971 beschlossene Bebauungsplan „Brühl II“ ein reines Wohngebiet nach § 3 BauNVO 1968 fest. Daneben enthält der Bebauungsplan weitere Festsetzungen, die als bauordnungsrechtliche Festsetzungen nach § 111 Abs. 1 Nr. 1 LBO 1964 bezeichnet sind. Darin wird für das Baugrundstück eine Dachneigung von 26 Grad festgesetzt, im Übrigen wird unter anderem geregelt:
„2. Bauordnungsrechtliche Festsetzungen (§ 111 LBO)
2.1 Gebäudehöhen (§ 111 Abs. 1 Nr. 1 LBO)
[…]
Gebäudehöhe als Normalgeschoss wird 3,10 m zugrunde gelegt von Oberkante Erdgeschoßfußboden bis Oberkante Traufhöhe bei einem angenommenen Dachvorsprung von 0,0 cm. Kniestöcke über die vorgeschriebene Traufhöhe hinaus sind nicht erlaubt. […]“
Das Plangebiet befindet sich in einer leichten Hanglage. Der Hang fällt von Westen nach Osten hin über eine Strecke von ca. 150 m um rund 7 m ab, woraus sich eine Steigung von schätzungsweise 4,6 % ergibt. Im westlichsten Teil des Plangebiets betragen die Erdgeschossfußbodenhöhen 606,80 m ü. NN bis 606,90 m ü. NN, im östlichsten Teil des Plangebiets hingegen nur noch 599,70 m ü. NN. In der Planbegründung vom 30.06.1970 ist folgendes zu den Festsetzungen ausgeführt:
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„[…] Die östlich der Haupterschließung liegende Gebäudegruppe ist als allgemeines Wohngebiet ausgewiesen und gehört zur Ortsmitte. Der übrige Teil der Bebauung liegt an einem nach Osten geneigten Hang. Die Erschließung dieses reinen Wohngebietes erfolgt nur über Gehwege. Die Parkierung ist nur jeweils am Rande der Wohngruppen möglich, um dadurch ein möglichst ungestörtes Wohnen zu gewährleisten. Die vorgesehene Terrassierung der einzelnen Häusergruppen hangaufwärts soll den einzelnen Gebäuden trotz der schwachen Hanglage eine günstige Aussicht und Besonnung nach Osten und Süden gewähren. Die Haupterschließung für Fußwege in Ostwestrichtung führt direkt zum Kinderspielplatz und von dort auf dem kürzesten Weg zur Schule.
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Die umfassenden Festlegungen des Bebauungsplanes für Sichtschutz und Geländeterrassierungen sind wegen des hohen Ausnutzungsgrades der Parzellen erforderlich. […]“.
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Der Bauantrag vom 08.02.2019 umfasst einen Teil eines ursprünglich umfangreicheren Vorhabens des Beigeladenen. Vorangegangen war dem Bauantrag vom 08.02.2019 ein Baugesuch vom 28.08.2015, mit dem der Beigeladene den damaligen Bestand von zwei Wohnungen – letztere genehmigt als Einfamilienhaus mit Einliegerwohnung durch die Baugenehmigung des Landratsamtes … vom 15.06.1972, Verzeichnis-Nr. R-501 – um vier weitere Wohnungen vergrößern wollte. Dazu sollte das Dachgeschoss ausgebaut werden, um darin zwei Wohnungen zu errichten. Der Kniestock sollte hierfür erhöht, Dachgauben sollten eingebaut, der Zugang zum Gebäude neugestaltet und ein Carport mit Fahrradstellplatz sollte errichtet werden. Nach Planergänzungen, Angrenzereinwendungen gegen das Bauvorhaben sowie der Versagung des gemeindlichen Einvernehmens spaltete der Beigeladene das Baugesuch in zwei Anträge auf. Am 11.07.2016 wurde ein erster Teil des nun aufgespaltenen Vorhabens genehmigt, nämlich der Einbau von zwei Wohnungen und eines Treppenzugangs. Für den nun vorliegenden Teil des ursprünglichen Vorhabens – die Erhöhung des Kniestockes und der Einbau von Gauben, um im Dachgeschoss zwei zusätzliche Wohnungen zu errichten – verweigerte die Klägerin ihr Einvernehmen. Der Antrag auf Erteilung der Baugenehmigung wurde vom Beklagten mit Bescheid vom 23.01.2018 ursprünglich abgelehnt. Im Widerspruchsverfahren regte das Regierungspräsidium Tübingen mit Bedenkenerlass vom 21.09.2018 an, dem Widerspruch abzuhelfen und die Baugenehmigung zu erteilen. Daraufhin teilte die Klägerin dem Beklagten mit E-Mail vom 30.04.2019 mit, dass sie Widerspruch gegen die Baugenehmigung einlegen werde, da auch der Gemeinderat dem Bauvorhaben nicht zugestimmt habe. Anschließend hörte der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 03.06.2019 zur Ersetzung ihres Einvernehmens an.
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Mit der Baugenehmigung vom 28.06.2019 ersetzte der Beklagte das Einvernehmen der Klägerin. Zur Begründung führte er unter anderem aus, entsprechend dem Bedenkenerlass des Regierungspräsidiums vom 21.09.2018 ergebe sich die Zulässigkeit einer Befreiung vorliegend nicht aus § 31 BauGB, sondern aus § 56 LBO. Die Voraussetzungen aus § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO seien erfüllt und ein Einvernehmen der Gemeinde sehe die Norm nicht vor. Die Versagung des Einvernehmens durch die Klägerin sei daher rechtswidrig und habe ersetzt werden müssen.
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Mit Schreiben vom 24.07.2019 erhob die Klägerin Widerspruch gegen die Baugenehmigung vom 28.06.2019. Zur Begründung führte sie im Kern aus, sie sei widerspruchsbefugt und das versagte Einvernehmen habe nicht ersetzt werden dürfen. Das Aufstellen von Bauleitplänen gehöre zur Planungshoheit der Gemeinden (Art. 28 Abs. 2 GG). Werde von deren Inhalten durch eine Befreiung abgewichen, so sei die Planungshoheit durch § 36 BauGB abgesichert. Hieraus folge eine Widerspruchsbefugnis der Gemeinde. Dies müsse auch dann gelten, wenn von örtlichen Bauvorschriften der Gemeinde abgewichen werde. Die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens sei schon deshalb rechtswidrig, da ein Einvernehmen der Klägerin nach § 36 BauGB für das „Gesamtvorhaben“ nicht erforderlich gewesen sei. Nicht § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO, sondern § 31 Abs. 2 BauGB sei vorliegend die Rechtsgrundlage für die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB lägen nicht vor, weshalb die Klägerin ihr Einvernehmen rechtmäßig versagt habe. Die streitgegenständlichen örtlichen Bauvorschriften im Bebauungsplan „Brühl II“ vom 06.12.1971 seien noch nach den alten Vorschriften der Landesbauordnung erlassen worden. Erst durch die Änderung der Landesbauordnung im Jahre 1996 habe der Landesgesetzgeber § 74 LBO dahingehend geändert, dass örtliche Bauvorschriften nicht mehr als Festsetzung eines Bebauungsplanes erlassen werden könnten. Er habe damit bewirken wollen, dass für später erlassene örtliche Bauvorschriften einheitlich nur noch § 56 LBO für Ausnahmen und Befreiungen Anwendung finde und nicht mehr § 31 BauGB. Für örtliche Bauvorschriften aus – wie hier – älteren Bebauungsplänen gelte dies jedoch nicht. Die hier maßgeblichen Vorschriften über die Höhe eines Kniestockes und die Dachneigung seien als Festsetzung eines Bebauungsplanes erlassen worden. Die Voraussetzungen aus § 31 Abs. 2 BauGB seien nicht erfüllt. Die unter Verstoß gegen § 31 Abs. 2 BauGB erteilte Baugenehmigung verletze die Klägerin in ihrer Planungshoheit.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 02.10.2020 wies das Regierungspräsidium Tübingen den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte es aus, die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens in der Baugenehmigung sei rechtmäßig gewesen und es habe keinen Grund gegeben, die Genehmigung zu versagen. Es sei eine Abweichung nach § 56 Abs. 2 LBO erforderlich gewesen, diese Vorschrift sehe aber schon kein Einvernehmen der Gemeinde vor. Die Aufnahme von örtlichen Bauvorschriften in einen Bebauungsplan lasse deren Charakter als Normen des Bauordnungsrechts unberührt. Es sei deshalb nur § 56 LBO anzuwenden, nicht aber § 31 BauGB. Nach § 9 Abs. 4 BBauG habe zwar die Möglichkeit für Bundesländer bestanden, in Landesgesetzen zu bestimmen, dass auf die in den Bebauungsplan aufgenommenen landesrechtlichen Regelungen die Vorschriften des Bundesbaugesetzes Anwendung finden sollten. Von dieser Befugnis habe das Land Baden-Württemberg aber erstmals am 21.06.1977 in § 111 Abs. 6 S. 2 LBO 1977 Gebrauch gemacht. Für ältere örtliche Bauvorschriften in Bebauungsplänen sei daher nur § 56 LBO anzuwenden. Die Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 LBO lägen vor. Die Erhöhung des Kniestocks, der Einbau der Gauben und die abweichende Dachneigung um 4 Grad beeinträchtigten die nachbarlichen Belange nicht zusätzlich und seien auch mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Im Bebauungsplan sei ohnehin eine Grenzbebauung vorgesehen, die Befreiung von bauordnungsrechtlichen Vorschriften führe daher nicht zu einer intensiveren Nutzung des Wohngebäudes gegenüber den Nachbarn. Selbst wenn man auf § 31 Abs. 2 BauGB als Rechtsgrundlage für die Befreiung abstelle, sei das Ersetzen des gemeindlichen Einvernehmens rechtmäßig gewesen. Auch die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB lägen vor. Selbst wenn das Einvernehmen der Klägerin objektiv nicht erforderlich gewesen sein sollte, sei dieses zu ersetzen gewesen. Die Klägerin habe dann nämlich ihr Einvernehmen rechtswidrig versagt, weil es nicht erforderlich gewesen sei. Dies habe zur Folge, dass nur die Versagung des Einvernehmens durch die Klägerin rechtswidrig gewesen sei; die Baugenehmigung, die das Einvernehmen ersetze, sei dann rechtmäßig. Nach § 36 Abs. 2 S. 3 BauGB könne nur ein von der Gemeinde rechtswidrig versagtes Einvernehmen ersetzt werden. Die Norm sehe eine gebundene Entscheidung der Baurechtsbehörde vor. Die Befreiung berühre nicht die Grundzüge der Planung. Der Bebauungsplan habe das Kernkonzept eines Wohngebietes mit jeweils versetzter Grenzbebauung. Dieses Konzept bleibe auch bei Erhöhung des Kniestockes und Einbau von Gauben gewahrt. Derartige Befreiungen seien auch abwägungsfehlerfrei planbar gewesen. Im Übrigen werde auf die Ausführungen in der Baugenehmigung verwiesen. Der Widerspruchsbescheid ging der Klägerin am 09.10.2020 zu.
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Die Klägerin hat am 02.11.2020 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und ergänzt sie ihr Vorbringen aus der Widerspruchsbegründung. Ergänzend dazu trägt sie vor, eine Befreiung scheitere an § 31 Abs. 2 BauGB, da die Grundzüge der Planung berührt seien. Der Bebauungsplan „Brühl II“ setze bewusst ein stark verdichtetes Wohngebiet fest, das nur dann sinnvoll realisierbar sei, wenn jede Festsetzung des Planes auch eingehalten werde. Die Anordnung der Gebäude sowie deren Höhe, insbesondere die Festsetzungen zur Traufhöhe, zum Kniestock und zur Dachneigung seien gerade deshalb getroffen worden, um die Nutzung der Dachgeschosse einzuschränken. Es sei das Ziel gewesen, die Einsehbarkeit der Nachbargrundstücke auf diese Weise zu senken und Wohnruhe trotz der verdichteten Bodennutzung herzustellen. Diese besonderen Festsetzungen seien für das Baugebiet „Brühl II“ prägend und gehörten zu den Grundzügen der Planung. Vor diesem Hintergrund überschreite die gewährte Befreiung auch die Grenze zur Planänderung, weshalb die Befreiung nicht städtebaulich vertretbar sei. Auch die Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 LBO seien nicht erfüllt. Die Abweichung sei nicht mit den öffentlichen Belangen vereinbar, da sie den Zielen des Bebauungsplanes zuwiderlaufe. Letzterer solle trotz hoher Verdichtung ein qualitätsvolles Wohnen ermöglichen, was gerade durch die bauordnungsrechtlichen Festsetzungen geschaffen werden sollte. Es sei bewusst nur eine ein- bis maximal zweigeschossige Bauweise ohne Aufstockungsmöglichkeit festgesetzt worden, um trotz verdichteter Bebauung viel Privatsphäre und Wohnruhe sicherzustellen. Dieses besondere Konzept des Bebauungsplanes sei zudem beim Landeswettbewerb „…“ im Jahr 1981 ausgezeichnet worden.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid des Beklagten vom 28. Juni 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Tübingen vom 02. Oktober 2020 aufzuheben sowie die Hinzuziehung der Klägervertreterin im Vorverfahren für notwendig zu erklären.
19 
Der Beklagte und der Beigeladene beantragen,
20 
die Klage abzuweisen.
21 
Zur Begründung wiederholen und vertiefen sie das Vorbringen des Beklagten aus der Baugenehmigung und dem Widerspruchsbescheid. Ergänzend führen sie aus, die Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 LBO seien erfüllt. Es solle durch das Vorhaben zusätzlicher Wohnraum geschaffen werden, die Baugenehmigung für die Errichtung des Gebäudes liege auch schon länger als 5 Jahre zurück. Die Abweichung sei auch mit öffentlichen Interessen vereinbar. Der Bebauungsplan „Brühl II“ lasse sich nicht dahin auslegen, dass er – gerade im Interesse von Nachbarn – durch seine zahlreichen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und mit seinen örtlichen Bauvorschriften ein besonders hohes Maß an Privatsphäre gewährleisten wolle. Eine derartige Zielsetzung habe schon in vorangegangen Gerichtsverfahren von Nachbarn gegen die Baugenehmigung weder vom Verwaltungsgericht Sigmaringen noch vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg festgestellt werden können. Im Übrigen sei es ohnehin so, dass die Klägerin in der Vergangenheit schon mehrfach ihr Einvernehmen zu Aufstockungen von Gebäuden im Baugebiet „Brühl II“ erteilt habe, bei denen – wie hier – die Traufhöhe und Kniestöcke vergrößert worden seien und von der festgesetzten Dachform abgewichen worden sei. Es könne keine Rede davon sein, dass die Grundzüge der Planung berührt seien.
22 
Der Kammer liegen die Behördenakten sowie die Widerspruchsakte des Regierungspräsidiums Tübingen vor. Zur Ergänzung wird auf diese sowie auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
23 
Die Klage ist zulässig (I.) und begründet (II.), sie hat daher Erfolg.
24 
I. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) zulässig, insbesondere ist die Klägerin auch klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO).
25 
Nach § 42 Abs. 2 VwGO ist die (Anfechtungs- oder Verpflichtungs-) Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. Dies setzt die Möglichkeit der behaupteten Rechtsverletzung voraus. Die Möglichkeit der Rechtsverletzung besteht nicht, wenn die geltend gemachten Rechte unter Zugrundelegung des Klagevorbringens offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise bestehen oder dem Kläger zustehen können, eine Verletzung subjektiver Rechte des Klägers also nicht in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.7.2001 - 1 C 35.00 = BVerwG NVwZ 2001, 1396, 1397; mwN: Sennekamp, in: Fehling/Kastner/Störmer Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 42 VwGO Rn. 54).
26 
Nach diesem Maßstab ist es nicht ausgeschlossen und daher möglich, dass die Klägerin durch die angegriffene Baugenehmigung entweder in ihrem subjektiven öffentlichen Recht aus § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB oder in ihrer Planungshoheit aus Art. 28 Abs. 2 GG verletzt wird. Ob § 31 Abs. 2 BauGB oder § 56 Abs. 2 LBO die zutreffende Rechtsgrundlage für die dem Beigeladenen mit der Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 erteilten Abweichungen oder Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplanes „Brühl II“ oder darin enthaltener örtlicher Bauvorschriften nach § 111 Abs. 1 Nr. 1 LBO 1964 bildet, kann im Rahmen der Klagebefugnis dahinstehen. In beiden Fällen erscheint eine Verletzung der Klägerin in subjektiven öffentlichen Rechten nämlich möglich. Sollte § 31 Abs. 2 BauGB die zutreffende Rechtsgrundlage für die Befreiung von den in Streit stehenden Regelungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ sein, so wäre der Anwendungsbereich des § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB eröffnet mit der Folge, dass die Klägerin durch die Ersetzung ihres gemeindlichen Einvernehmens durch den Beklagten möglicherweise in ihrem subjektiven öffentlichen Recht aus § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB verletzt ist. Das absolute Beteiligungsrecht der Gemeinden aus § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB ist ein Ausfluss ihrer Planungshoheit und begründet für sie ein subjektives öffentliches Recht (vgl. mwN: BVerwG, Beschluss vom 11.8.2008 - 4 B 25.08 = BVerwG NVwZ 2008, 1347, 1347 f.). Auch wenn § 56 Abs. 2 LBO die zutreffende Rechtsgrundlage für die in der Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 erteilten Abweichungen sein sollte, wäre eine Verletzung der Klägerin in ihrer Planungshoheit möglich (Art. 28 Abs. 2 GG). Denn nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg ist auch die Aufstellung örtlicher Bauvorschriften zur Durchführung baugestalterischer Absichten (§ 74 Abs. 1 LBO) der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie – d.h. ihrer Planungshoheit – zuzurechnen (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.03.2017 – 5 S 2427/15, juris, Rn. 16; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.02.2017 – 3 S 1748/14, juris, Rn. 48). Sollte der Beklagte – wie die Klägerin geltend macht – unter Verstoß gegen die Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 LBO eine Abweichung von örtlichen Bauvorschriften der Klägerin erteilt haben, wäre die Klägerin dadurch möglicherweise in ihrer Planungshoheit verletzt (Art. 28 Abs. 2 GG), was eine Klagebefugnis ebenfalls begründet.
27 
II. Die Klage ist begründet. Die Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 ist rechtswidrig (1.) und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (2.), § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.
28 
1. Die auf § 58 Abs. 1 S. 1 LBO beruhende Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 ist rechtswidrig. Sie verstößt entweder gegen §§ 31 Abs. 2, 36 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 und 3 BauGB (b.) oder gegen § 56 Abs. 2 und 5 LBO (c.), da weder die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB noch die Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 und 5 LBO vorliegen. Ob § 31 Abs. 2 BauGB oder § 56 Abs. 2 und 5 LBO die zutreffende Rechtsgrundlage für die erteilten Abweichungen oder Befreiungen bildet, kann deshalb dahinstehen (a.).
29 
Für die Beurteilung der Frage, ob die Erteilung einer Baugenehmigung die Gemeinde in ihrer Planungshoheit verletzt, ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung maßgeblich. Allerdings sind nachträgliche Änderungen zugunsten des Bauherrn zu berücksichtigen. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass es mit der nach Maßgabe des einschlägigen Rechts gewährleisteten Baufreiheit nicht vereinbar wäre, eine zur Zeit des Erlasses rechtswidrige Baugenehmigung aufzuheben, die sogleich nach der Aufhebung wieder erteilt werden müsste (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.04.1998 - 4 B 40.98 -, juris). Die erst am 28.5.2021 erlassene Veränderungssperre kann der Erteilung der Baugenehmigung bereits deswegen nicht entgegengehalten werden (vgl. auch § 14 Abs. 3 Alt. 1 BauGB).
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a. Es kann dahinstehen, ob die Festsetzungen zur Traufhöhe und zum Kniestock unter Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ vom 30.06.1971 Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung (§ 9 Abs. 1 Nr. 1a BBauG 1960) oder Festsetzungen über die äußere Gestaltung baulicher Anlagen sind (§ 9 Abs. 2 BBauG 1960 i.V.m. § 111 Abs. 1 Nr. 1 LBO 1964). Denn in ersterem Fall liegen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB für eine Befreiung von der Festsetzung zur Traufhöhe und zum Kniestock nicht vor, wodurch zugleich die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens der Klägerin durch die Beklagte rechtswidrig ist (b). Im zweiten Fall liegen die Voraussetzungen für eine Abweichung oder Befreiung von der örtlichen Bauvorschrift zur Traufhöhe und zum Kniestock gemäß § 56 Abs. 2 und 5 LBO nicht vor, wodurch die Baugenehmigung auch dann rechtswidrig ist (c.).
31 
Unabhängig von der Einstufung der Festsetzungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes (Traufhöhe und Kniestock) als Vorgabe zum Maß der baulichen Nutzung oder zur äußeren Gestaltung baulicher Anlagen ist der Bebauungsplan „Brühl II“ vom 30.06.1971 jedenfalls wirksam. Der Bebauungsplan wurde ordnungsgemäß ausgefertigt (1), Verfahrens- und Formfehler sowie Abwägungsfehler sind ebenfalls nicht ersichtlich, wären aber ohnehin durch Fristablauf gem. §§ 215 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 3, 214 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 3 sowie Abs. 2 und Abs. 3 S. 2, 233 Abs. 2 S. 1 BauGB unbeachtlich geworden (2). Der Bebauungsplan ist auch nicht funktionslos geworden (3).
32 
(1) Der Bebauungsplan „Brühl II“ wurde ordnungsgemäß ausgefertigt.
33 
Die Ausfertigung von Rechtsnormen ist rechtsstaatlich geboten, um sicherzustellen, dass diese nicht mit einem anderen als dem vom Normgeber gewollten Inhalt erlassen werden. Das Rechtsstaatsgebot (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG) verlangt die Identität der anzuwendenden Norm und ihres Inhalts mit dem vom Normgeber Beschlossenen („Identitätsfunktion”, „Beurkundungs- und Gewährleistungsfunktion”). Die Ausfertigung ist daher Wirksamkeitsvoraussetzung einer jeden Norm (mwN.: BVerwG, Urteil vom 1.7.2010 - 4 C 4.08 = BVerwG NVwZ 2011, 61 Rn. 13). Art, Inhalt und Umfang der Ausfertigung von Bebauungsplänen gehören zum (irreversiblen) Landesrecht (BVerwG, Beschluss vom 16.05.1991 - 4 NB 26.90 = BVerwG NVwZ 1992, 371). In Baden-Württemberg trifft die Gemeindeordnung – insbesondere nicht in § 4 GemO – keine näheren gesetzlichen Vorgaben zu Art, Inhalt und Umfang der Ausfertigung gemeindlicher Satzungen. Es kommt daher nur darauf an, dass die Identitätsfunktion sowie die Beurkundungs- und Gewährleistungsfunktion der Ausfertigung gewährleistet sind. Ausreichend ist daher, dass der Satzungsbeschluss des Bebauungsplanes ordnungsgemäß ausgefertigt ist und in diesem in einer Weise auf sonstige Bestandteile der Satzung Bezug genommen wird, die Zweifel an der Identität ausschließen.
34 
Es genügt auch, wenn bei Bebauungsplänen durch eindeutige Angaben im Satzungstext oder auch auf andere Weise jeder Zweifel an der Zugehörigkeit des Plans zur Satzung ausgeschlossen wird und damit eine Art „gedankliche Schnur" – zwischen dem Plan und dem Satzungsbeschluss – hergestellt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn in der Satzung auf einen bestimmten, genau bezeichneten Plan Bezug genommen wird und kein Zweifel bestehen kann, welcher Plan damit gemeint ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 08.05.1990 - 5 S 3064/88 = VGH Baden-Württemberg NVwZ-RR 1991, 20; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.05.2019 – 3 S 2811/17, juris, Rn. 54). Die Unterzeichnung des den Satzungsbeschluss enthaltenden Gemeinderatsprotokolls durch den Bürgermeister genügt für eine ordnungsgemäße Ausfertigung eines Bebauungsplans, sofern in dem Beschluss die Bestandteile des Plans in einer Weise bezeichnet sind, dass Zweifel an der Identität des Plans nicht bestehen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2006 - 8 S 1989/05, juris, Rn. 34).
35 
Diesen Anforderungen wird der Bebauungsplan „Brühl II“ gerecht. Es ist ausreichend, dass das Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 30.06.1971, in dem der Satzungsbeschluss des Bebauungsplanes enthalten ist, am 08.07.1971 vom damaligen Bürgermeister der Klägerin unterzeichnet worden ist. Der zeichnerische Teil des Bebauungsplanes ist zusätzlich mit einem Vermerk des damaligen Bürgermeisters – wenn auch ohne Datum – und seiner Unterschrift nebst Stempel der Gemeinde versehen („Anerkannt“), aus dem ersichtlich wird, dass überprüft wurde, ob die Planzeichnung und der Satzungsbeschluss inhaltlich übereinstimmen. Das Protokoll der Gemeinderatssitzung bezeichnet ferner unter § 2 im Einzelnen die Bestandteile des Bebauungsplans und gibt Aufschluss über den Stand der maßgeblichen Planzeichnung (Lageplan vom 30.06.1970 mit Ergänzungen vom 13.01.1971) sowie alle sonstigen Bestandteile des Bebauungsplanes. Hierdurch ist die „gedankliche Schnur“ zwischen dem Satzungsbeschluss und der Planzeichnung gewahrt.
36 
(2) Verfahrens- und Formfehler sowie Abwägungsfehler des Bebauungsplanes „Brühl II“ sind von den Beteiligten nicht geltend gemacht, aber auch sonst für die Kammer nicht ersichtlich. Im Übrigen wären derartige Fehler inzwischen aber ohnehin durch Fristablauf gem. §§ 215 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 3, 214 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 3 sowie Abs. 2 und Abs. 3 S. 2, 233 Abs. 2 S. 1 BauGB unbeachtlich geworden. Nach § 233 Abs. 2 S. 1 BauGB finden die Planerhaltungsvorschriften aus § 214 und § 215 BauGB auch – wie hier – rückwirkend auf solche Bebauungspläne Anwendung, die auf der Grundlage älterer Fassungen des Baugesetzbuches in Kraft getreten sind. Soweit Vorschriften im Bebauungsplan möglicherweise entgegen ihrer bauplanungsrechtlichen Qualität unrichtig als bauordnungsrechtlich bezeichnet wurden, würde dies die Wirksamkeit des Bebauungsplans nicht tangieren.
37 
(3) Der Bebauungsplan „Brühl II“ ist nicht funktionslos geworden.
38 
Eine bauplanerische Festsetzung tritt wegen Funktionslosigkeit nur dann außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt, und wenn diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient (BVerwG, Urteil vom 03.12.1998 - 4 CN 3.97 = BVerwGE 108, 71, 76; BVerwG, Beschluss vom 23.01.2003 - 4 B 79.02 = BVerwG NVwZ 2003, 749, 750; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 04.12.2003 - 5 S 1746/02 -, juris).
39 
Derartige Verhältnisse liegen nach den vom Gericht anhand der vorgelegten Unterlagen, Luftaufnahmen und Pläne getroffenen Feststellungen in Bezug auf die Traufhöhen und Kniestöcke innerhalb des Plangebiets „Brühl II“ nicht vor. Im Plangebiet sind zwar einige – jeweils mit Einvernehmen der Klägerin genehmigte – Bauten vorhanden, die eine größere Traufhöhe als 3,10 m und auch Kniestöcke von bis zu 1,15 m aufweisen, nämlich auf den Grundstücken ... (Flst. Nr. 748), ... (Flst. Nr. 784), n... (Flst. Nr. 742), ... (Flst. Nr. 791) und ... (Flst. Nr. 717). Diese fünf Bauten schließen indessen die Verwirklichung der Festsetzungen zur Traufhöhe und zum Kniestock in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ insgesamt nicht aus. Das Plangebiet umfasst nämlich erheblich mehr als nur diese fünf Grundstücke; bereits im zeichnerischen Teil des Bebauungsplanes sind insgesamt 39 Gebäude eingezeichnet, die auch tatsächlich errichtet worden sind. Letzteres ist bereits über Luftaufnahmen aus Google Maps ersichtlich (vgl. ...nn) und aus der Liegenschaftskarte der Klägerin aus dem Jahre 2015 (GAS 121). Die hiernach ersichtlichen Umrisse der einzelnen Gebäude stimmen zudem weitestgehend mit den im Bebauungsplan eingezeichneten Baukörpern überein. Insbesondere die versetzte Anordnung der Gebäude zueinander sowie die L-förmige Kubatur zahlreicher Gebäude – wie im Bebauungsplan festgesetzt – fällt hierbei auf. Innerhalb dieser Bebauung bilden die zuvor genannten fünf Häuser mit größeren Traufhöhen und Kniestöcken eine Ausnahmeerscheinung; die Festsetzungen zur Traufhöhe und zu Kniestöcken werden dagegen bei den übrigen 34 Gebäuden eingehalten, d.h. vom weit überwiegenden Großteil aller Gebäude. Die Festsetzungen des Bebauungsplanes „Brühl II“ wurden insoweit auf den meisten Grundstücken tatsächlich verwirklicht, er hat seine Steuerungsfunktion erfüllt und erfüllt diese auch weiterhin. Hierauf dürfen die Eigentümer der 34 plangemäß bebauten Grundstück auch weiter vertrauen.
40 
b. Die auf § 58 Abs. 1 S. 1 LBO beruhende Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 verstößt gegen §§ 31 Abs. 2, 36 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 und 3 BauGB, wenn die Regelungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ zur Traufhöhe und zum Kniestock als Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung einzustufen sind. Ausnahmen von den Regelungen zur Traufhöhe und zum Kniestock (§ 31 Abs. 1 BauGB) sieht der Bebauungsplan „Brühl II“ selbst nicht vor. Die Voraussetzungen für eine Befreiung gem. § 31 Abs. 2 BauGB liegen nicht vor, weil die Grundzüge der Planung berührt sind (1). Die Ersetzung des Einvernehmens der Klägerin gem. § 36 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 und 3 BauGB ist hierdurch rechtswidrig (2).
41 
(1) Die Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB liegen nicht vor, weil die Grundzüge der Planung berührt sind.
42 
Nach § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes unter anderem dann befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, die Abweichung städtebaulich vertretbar ist und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Die Grundzüge der Planung ergeben sich aus der den Festsetzungen des Bebauungsplans zugrundeliegenden und in ihnen zum Ausdruck kommenden planerischen Konzeption. Ob sie berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto näher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (BVerwG, Urteil vom 18.11.2010 − 4 C 10.09 = BVerwG NVwZ 2011, 748, 752 Rn. 37; BVerwG, Urteil vom 9.8.2018 – 4 C 7.17 = BVerwG NVwZ 2018, 1808 Rn. 8). Die Beantwortung der Frage, ob Grundzüge der Planung berührt werden, setzt einerseits die Feststellung voraus, was zum planerischen Grundkonzept gehört und andererseits die Feststellung, ob dieses planerische Grundkonzept gerade durch die in Frage stehende Befreiung berührt wird (BVerwG, Urteil vom 18.11.2010 − 4 C 10.09 = BVerwG NVwZ 2011, 748, 752 Rn. 37). Ob es sich bei einer Festsetzung um einen Grundzug der Planung handelt, ist nicht allein aufgrund der Begründung des Bebauungsplans zu beurteilen, sondern kann sich auch aus der Festsetzung selbst ergeben (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.9.2016 – 5 S 114/14 = VGH Baden-Württemberg NVwZ-RR 2017, 315, 316 Rn. 31).
43 
Nach diesem Maßstab gehören die Festsetzungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ zur Traufhöhe und zu Kniestöcken jeweils zum planerischen Grundkonzept, neben den Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung (§ 3 und § 4 BauNVO 1968), die Zahl der Vollgeschosse und der versetzten Anordnung der Baukörper zueinander (Baulinien und Baugrenzen). Dies ergibt sich aus einer Zusammenschau beider Festsetzungen mit der Planbegründung und der Hanglage des Plangebiets. Die Planbegründung hebt – ohne dass aus ihr allein die Grundzüge der Planung ersichtlich wären – darauf ab, dass im Plangebiet eine Terrassierung vorgesehen sei, um die Aussicht und Besonnung nach Süden und Osten zu gewährleisten; wegen des hohen Ausnutzungsgrades der Parzellen seien zudem umfassende Festsetzungen getroffen worden („[…] Die vorgesehene Terrassierung der einzelnen Häusergruppen hangaufwärts soll den einzelnen Gebäuden trotz der schwachen Hanglage eine günstige Aussicht und Besonnung nach Osten und Süden gewähren. […] Die umfassenden Festlegungen des Bebauungsplanes für Sichtschutz und Geländeterrassierungen sind wegen des hohen Ausnutzungsgrades der Parzellen erforderlich. […]“). Im Bebauungsplan sind die Festsetzungen unter Ziff. 2.1 zur Traufhöhe und zu Kniestöcken für das gesamte Plangebiet vorgesehen, zudem ist für das gesamte reine Wohngebiet (§ 3 BauNVO 1968) eine Bebauung mit nur einem Vollgeschoss vorgesehen. Hieraus ergibt sich mit der leichten Hanglage im Plangebiet ein Wohngebiet mit besonderer Prägung, nämlich einer stark verdichteten, aber niedrigen Bebauung, die trotz der Bebauungsdichte von anderen Grundstücken aus nicht oder nur schwer einsehbare Freiflächen bietet. Die besondere Prägung wird dadurch erreicht, dass die Häusergruppen mit ihren Baukörpern jeweils versetzt zueinander angeordnet sind und eine nur geringe Gebäudehöhe (3,10 m Traufhöhe) bei eingeschossiger Bebauung aufweisen. Auf diese Weise entsteht auf vergleichsweise wenig Fläche ein stark verdichtetes Wohngebiet, bei dem trotzdem jeweils den Oberliegern ein Teil der Aussicht hangabwärts nach Osten erhalten bleibt. Durch die gezielt versetzte Anordnung der Baukörper zueinander bleibt trotz der Verdichtung auch Besonnung aus südlicher und östlicher Richtung möglich.
44 
Dieses planerische Grundkonzept – versetzt angeordnete, niedrige Wohnbebauung mit nicht oder schwer einsehbaren Freiflächen – wird durch die Befreiungen von den Festsetzungen zur Traufhöhe und zu Kniestöcken konterkariert und daher berührt. Die Gebäudeaufstockung infolge der Befreiungen führt nämlich dazu, dass vor allem Oberliegern entgegen der Plankonzeption ein Teil ihrer Aussicht abgeschnitten wird und ihre Grundstücke vor allem morgens stärker verschattet werden. Ausschlaggebend ist aber, dass die wegen der Befreiungen mögliche Gebäudeaufstockung eine Nutzung des Dachgeschosses als vollwertige Wohnung mit zahlreichen Fenstern nach Norden und Süden ermöglicht. Diese Wohnnutzung in einem optisch fast als dritten Geschoss wirkenden Dachgeschoss – neben der Wohnnutzung im Unter- und Erdgeschoss – erlaubt eine Einsichtnahme in die Freiflächen benachbarter Grundstücke, die so nach der Plankonzeption verhindert werden sollte. Gerade wegen der starken Ausnutzung der Parzellen enthält der Bebauungsplan „Brühl II“ umfassende Festsetzungen zum Sichtschutz und zur Terrassierung bei allen Grundstücken im reinen Wohngebiet, unter anderem in Form der Festsetzungen zur Traufhöhe und zu Kniestöcken.
45 
Dass der Grundzug der Planung nicht mehr berührt werden konnte, weil er durch eine ihm entgegenlaufende tatsächliche Entwicklung ohnehin bereits nachhaltig gestört gewesen sein soll, vermochte das Gericht nicht festzustellen.
46 
Ein Grundzug der Planung kann durch ein Vorhaben unter anderem dann nicht mehr berührt werden, wenn er bereits durch die bisherige tatsächliche Entwicklung im Baugebiet so nachhaltig gestört ist, dass das Hinzutreten des Vorhabens nicht mehr ins Gewicht fällt. Das insoweit maßgebende Baugebiet kann ein Teil des Bebauungsplangebiets sein, für den der Bebauungsplan einheitliche Festsetzungen enthält. Ist das einheitlich überplante Gebiet sehr groß, kommt es dagegen auf die Situation im Umfeld des Baugrundstücks an. Denn bei der Prüfung, ob die planerische Grundkonzeption bereits so sehr gestört ist, dass eine weitere Störung nicht mehr ins Gewicht fällt, ist der Einfluss der vorhandenen Bebauung auf das Baugrundstück sowie umgekehrt die Beziehung des Baugrundstücks zu seiner Umgebung zu betrachten. Das setzt eine gewisse räumliche Nähe voraus. Die Umgebung muss das Baugrundstück und – umgekehrt – das Baugrundstück seine Umgebung im Sinne einer städtebaulichen Ordnung (§ 1 Abs. 3 BauGB) beeinflussen können (mwN.: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.9.2016 – 5 S 114/14 = VGH Baden-Württemberg NVwZ-RR 2017, 315, 316 Rn. 34).
47 
Nach diesem Maßstab fällt die Abweichung durch das Bauvorhaben von den Festsetzungen zur Traufhöhe und zum Kniestock auch weiterhin ins Gewicht. Durch die das Baugrundstück umgebende Bebauung ist die planerische Grundkonzeption im Hinblick auf die Traufhöhe und Kniestöcke bislang nicht nachhaltig gestört. Drei der fünf Gebäude im Plangebiet, deren Traufhöhe 3,10 m überschreitet, liegen schon nicht in der Umgebung des Baugrundstückes. Das Baugrundstück – Flst. Nr. 792, … – liegt in einem Quartier innerhalb des Plangebiets zwischen der Nelkenstraße im Norden, der Rosenstraße im Osten, dem Sonnenblumenweg im Süden und dem Gladiolenweg im Westen. Die Gebäude … (Flst. Nr. 748), … (Flst. Nr. 717) und … (Flst. Nr. 742) – die eine größere Traufhöhe als 3,10 m aufweisen – befinden sich in anderen Quartieren innerhalb des Plangebiets, die von anderen Straßen eingegrenzt werden. Sie vermögen daher die städtebauliche Ordnung in dem Quartier, in dem das Baugrundstück liegt, nicht zu beeinflussen. Lediglich die Gebäude … (Flst. Nr. 784) und … (Flst. Nr. 791) befinden sich innerhalb desselben Quartiers wie das Vorhabengrundstück und wirken sich daher auf die städtebauliche Ordnung in diesem Quartier aus. Insoweit ist hinsichtlich des Gebäudes … (Flst. Nr. 784) der Einfluss auf die städtebauliche Ordnung mit Blick auf das Baugrundstück herabgesetzt, weil zwischen dem Baugrundstück und diesem Gebäude noch die Gebäude … und … liegen. Das Gebäude … (Flst. Nr. 791) liegt unmittelbar südlich des Baugrundstücks und wirkt daher unmittelbar im Hinblick auf das Baugrundstück. Bei dieser Sachlage vermag das Gericht nicht festzustellen, dass die tatsächliche Entwicklung innerhalb des Quartiers des Baugrundstücks die Grundzüge der Planung – bezogen auf Traufhöhen und Kniestöcke – bereits so nachhaltig gestört hat, dass eine weitere Abweichung von den Vorgaben zu Traufhöhen und Kniestöcken nicht mehr ins Gewicht fällt. Innerhalb des Quartiers befinden sich nämlich insgesamt sechs Wohnhäuser sowie fünf weitere Nebengebäude. Die Traufhöhen der Gebäude … und … bilden hierin immer noch eine Ausnahmeerscheinung, der weit überwiegende Großteil der Gebäude hält die Festsetzungen zur Traufhöhe und zu Kniestöcken ein.
48 
(2) Die Ersetzung des Einvernehmens der Klägerin gem. § 36 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 und 3 BauGB ist hierdurch (siehe oben unter II. 1. b. (1)) rechtswidrig.
49 
Nach § 36 Abs. 2 S. 3 BauGB kann die nach Landesrecht zuständige Behörde ein rechtswidrig versagtes Einvernehmen der Gemeinde ersetzen. Diese Voraussetzungen lagen nicht vor, da die Klägerin ihr gemeindliches Einvernehmen zu Recht verweigert hatte. Das Einvernehmen der Gemeinde darf nach § 36 Abs. 2 S. 1 BauGB nur aus den sich aus §§ 31, 33, 34 und 35 BauGB ergebenden Gründen versagt werden. Erforderlich ist das Einvernehmen der Gemeinde hierbei nur, wenn über die Zulässigkeit von Vorhaben nach den §§ 31, 33 bis 35 BauGB im bauaufsichtlichen Verfahren entschieden wird. Da die Grundzüge der Planung berührt sind (s.o.), ist die Verweigerung des gemeindlichen Einvernehmens durch die Klägerin rechtmäßig (§§ 36 Abs. 2 S. 1, 31 Abs. 2 BauGB).
50 
c. Die auf § 58 Abs. 1 S. 1 LBO beruhende Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 ver-stößt gegen § 56 Abs. 2 und 5 LBO, wenn die Regelungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ zur Traufhöhe und zum Kniestock als örtliche Bauvorschriften zur äußeren Gestaltung baulicher Anlagen gem. § 111 Abs. 1 Nr. 1 LBO 1964 einzustufen sind. § 56 Abs. 2 und 5 LBO enthalten in diesem Fall die maßgebliche Rechtsgrundlage für Abweichungen und Befreiungen von der örtlichen Bauvorschrift (1). Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 56 Abs. 2 und 5 LBO liegen jedoch nicht vor ((2) und (3)). Auf die Einhaltung der Zahl der Vollgeschosse (4 aa.) und der Wartefrist von 5 Jahren (4 bb.) kommt es danach nicht mehr an.
51 
(1) Für Abweichungen und Befreiungen von den Festsetzungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ zur Traufhöhe und zum Kniestock enthalten § 56 Abs. 2 und 5 LBO die maßgebliche Rechtsgrundlage, wenn die Festsetzungen als örtliche Bauvorschriften einzustufen sind. § 31 Abs. 2 BauGB kommt vorliegend nach § 111 Abs. 5 S. 4 LBO 1964 nicht als Rechtsgrundlage für Abweichungen und Befreiungen von der örtlichen Bauvorschrift in Betracht.
52 
§ 111 LBO 1964 enthält keine Regelung dahin, dass für auf der Grundlage der Landesbauordnung 1964 erlassene örtliche Bauvorschriften die Regelungen des Bundesbaugesetzes entsprechend Anwendung finden, die für bauplanungsrechtliche Festsetzungen in Bebauungsplänen gelten. Rechtsgrundlage für Abweichungen und Befreiungen von den Festsetzungen zur Traufhöhe und zu Kniestöcken im Bebauungsplan „Brühl II“ vom 30.06.1971 sind daher § 56 Abs. 2 und 5 LBO.
53 
Nach dem für den Bebauungsplan „Brühl II“ vom 30.06.1971 anwendbaren § 111 Abs. 5 S. 4 LBO 1964 können örtliche Bauvorschriften zusammen mit einem Bebauungsplan beschlossen werden. Die Norm sieht – anders als § 111 Abs. 6 S. 2 LBO 1977 und § 73 Abs. 6 S. 2 LBO 1983 – nicht vor, dass auf örtliche Bauvorschriften, die zusammen mit einem Bebauungsplan beschlossen wurden, die Vorschriften entsprechend anzuwenden sind, die für bauplanungsrechtliche Festsetzungen nach § 9 BauGB (oder § 9 BBauG) gelten. Zum vorliegend maßgeblichen Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bebauungsplanes am 18.11.1971 bestand auch (noch) keine dem heutigen § 9 Abs. 4 BauGB entsprechende Länderöffnungsklausel, die es den Landesgesetzgebern ermöglicht hätte, für örtliche Bauvorschriften die Anwendung der Regelungen für bauplanungsrechtliche Festsetzungen vorzusehen. Die erste dem heutigen § 9 Abs. 4 BauGB entsprechende Länderöffnungsklausel wurde mit § 9 Abs. 4 BBauG 1976 geschaffen (BGBl. I S. 2256) – also rund 5 Jahre nach Inkrafttreten des Bebauungsplanes „Brühl II“.
54 
(2) Die Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO liegen nicht vor. Die Abweichungen des Vorhabens von den Festsetzungen zur Traufhöhe und zu Kniestöcken sind mit den öffentlichen Belangen nicht vereinbar.
55 
Nach dem hier einzig in Betracht kommenden § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO sind unter anderem Abweichungen von den Vorschriften aufgrund dieses Gesetzes zuzulassen zur Schaffung von zusätzlichem Wohnraum durch Ausbau, Anbau, Nutzungsänderung, Aufstockung oder Änderung des Daches, wenn die Baugenehmigung oder die Kenntnisgabe für die Errichtung des Gebäudes mindestens fünf Jahre zurückliegt und wenn die Abweichungen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Das Erfordernis der Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen ist dahin auszulegen, dass das von der Vorschrift erfasste Schutzgut, von der abgewichen werden soll, bzw. der vom Gesetzgeber verfolgte Normzweck, durch das geplante Vorhaben überhaupt nicht oder nur unwesentlich verletzt werden darf; erheblich oder wesentlich darf in das Konzept des Normgebers nicht eingegriffen werden (mwN.: Gassner, in: BeckOK Bauordnungsrecht Baden-Württemberg, Stand: 01.11.2021, § 56 LBO Rn. 19). Welcher öffentliche Belang mit der Vorschrift verfolgt werden soll, von der abgewichen werden soll, ist durch Auslegung zu ermitteln. Anschließend ist zu prüfen, ob die Abweichung noch die Erreichung der mit der Norm verfolgten Ziele zulässt (Sauter, LBO Baden-Württemberg, 54. EL 2019, § 56 LBO Rn. 13 und 28 f.). Hierbei ist eine Abwägung vorzunehmen zwischen dem öffentlichen Interesse an der Schaffung zusätzlichen Wohnraums und dem in der Norm verkörperten öffentlichen Interesse, von der abgewichen werden soll (vgl. Sauter, LBO Baden-Württemberg, 54. EL 2019, § 56 LBO Rn. 13; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 03.03.2015 - 3 S 1913/14, juris, Rn. 21; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.01.2010 - 8 S 1977/09, juris, Rn. 15).
56 
Dieses Auslegungsergebnis ergibt sich aus dem Wortlaut der Norm, systematischen und teleologischen Erwägungen sowie der Gesetzgebungshistorie.
57 
Der Wortlaut des § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO verlangt, dass die Abweichungen mit den öffentlichen Belangen „vereinbar“ sein müssen. Vereinbar bedeutet bereits nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, dass etwas aufeinander abgestimmt sein muss; weitere Synonyme sind kombinierbar, zusammenpassend oder auch im Einklang (vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/vereinbar und https://www.duden.de/synonyme/vereinbar). Vereinbar bringt hiernach die Wertung zum Ausdruck, dass zwei Dinge oder Anliegen miteinander möglich sein müssen und sie sich nicht in einem Grad widersprechen dürfen, der nur die Verwirklichung eines Anliegens unter Aufgabe des anderen zulässt. Dass bei Abweichungen stets der Zweck der Norm nicht vereitelt werden darf, von der abgewichen werden soll, folgt auch aus § 56 Abs. 1 LBO und dem Sinn der Abweichungsregelungen in § 56 Abs. 1 und 2 LBO. Nach dem klaren Wortlaut des § 56 Abs. 1 LBO sind Abweichungen von technischen Bauvorschriften zuzulassen, wenn auf andere Weise dem Zweck dieser Vorschriften nachweislich entsprochen wird. Der Gesetzgeber bringt hiermit deutlich zum Ausdruck, dass durch Abweichungen der Normzweck nicht ausgehöhlt werden darf. Dies steht im Einklang mit dem generellen Sinn von Abweichungsvorschriften wie § 56 Abs. 1 und 2 LBO. Gesetzliche Regelungen wie die zahlreichen Anforderungen der oder aufgrund der Landesbauordnung sind stets abstrakt und generell und von daher immer in einem gewissen Umfang unbestimmt und offen. Die Vielgestaltigkeit des Baugeschehens – das die Landesbauordnung regelt – kann dabei wegen der nötigen Allgemeinheit der gesetzlichen Regelungen nicht in allen Einzelfallgestaltungen abgedeckt werden (vgl. Sauter, LBO Baden-Württemberg, 56. EL 2019, § 56 LBO Rn. 1). Die Abweichungsvorschriften sollen die sachgerechte und flexible Handhabung auch atypischer Sachverhalte ermöglichen, ohne den Sinn der Vorschriften zu vernachlässigen, von denen abgewichen werden soll (vgl. Sauter, LBO Baden-Württemberg, 56. EL 2019, § 56 LBO Rn. 1).
58 
Aus der Gesetzgebungshistorie geht die Wertung, dass der Normzweck nicht wesentlich verletzt werden darf, ebenfalls hervor. § 56 Abs. 2 LBO 1995 änderte eine Reihe von Voraussetzungen für Abweichungen im Vergleich zu den Vorgängerregelungen aus § 57 Abs. 2 LBO 1983, § 94 Abs. 1 LBO 1972 sowie § 94 Abs. 1 LBO 1964, ließ aber das Erfordernis der Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen unverändert bestehen. § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO in der heutigen Fassung wurde mit Gesetz vom 19.07.1995 beschlossen, am 08.09.1995 verkündet (GBl BW 1995, S. 617) und trat gem. § 79 LBO 1995 zum 01.01.1996 in Kraft. Mit Inkrafttreten des § 56 Abs. 2 LBO 1995 wurden die Voraussetzungen für eine Abweichung dahin modifiziert, dass – anders als noch nach der Vorgängerregelung in § 57 Abs. 2 LBO 1983 und deren Vorgängerregelungen in § 94 Abs. 1 LBO 1972 und § 94 Abs. 1 LBO 1964 – nun auch von anderen Vorschriften als solchen, die als Regel- oder Soll-Vorschriften aufgestellt sind oder in denen Ausnahmen vorgesehen sind, Abweichungen möglich wurden. Erweitert wurde die Möglichkeit von Abweichungen auch dadurch, dass sie fortan keine Ermessensausübung mehr erforderten. § 56 Abs. 2 LBO enthält dadurch einen allgemeinen gesetzlichen Vorbehalt, unter dessen Voraussetzungen Abweichungen zuzulassen sind, ohne dass es einer atypischen Fallgestaltung oder einer Ermessensausübung bedarf (LT-Drucks. 11/5337, S. 116). Keine Änderung erfuhr dabei das Erfordernis der Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen. Dieses hatte der Gesetzgeber beibehalten, um bauordnungsrechtlich unvertretbare Zustände zu verhindern. Hierzu stellte der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung klar, § 56 Abs. 2 LBO könne nicht zu bauordnungsrechtlich nicht vertretbaren Verhältnissen führen, weil die öffentlichen Belange gewahrt werden müssten (LT-Drucks. 11/5337, S. 116). Wohnungsbauvorhaben im Bestand sollten aber nicht an einzelnen bauordnungsrechtlichen Anforderungen scheitern, die im Hinblick auf die öffentlichen Belange verzichtbar seien (LT-Drucks. 11/5337, S. 116). Bereits zur den Vorgängerregelungen aus § 94 Abs. 1 LBO 1964 und 1972 wurde vertreten, die Abweichung sei mit öffentlichen Belangen dann nicht vertretbar, wenn infolge des Abweichens ein ordnungswidriger Zustand entstehe, der im öffentlichen Interesse wieder beseitigt werden müsse (Schlez, in: Schlez LBO BW, 1. Aufl. 1967, § 94 Rn. 23). Dem lässt sich die Wertung entnehmen, dass durch eine Abweichung jedenfalls nicht wesentlich in den Normzweck der Vorschrift eingegriffen werden darf, von der abgewichen werden soll. Hieran wollte der Gesetzgeber mit der Änderung des § 56 Abs. 2 LBO im Jahre 1995 nichts ändern, indem er das Erfordernis der Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen beibehielt (vgl. LT-Drucks. 11/5337, S. 116).
59 
Nach diesem Maßstab greifen die Abweichungen des Vorhabens des Beigeladenen hinsichtlich der Traufhöhe und der Kniestöcke wesentlich in das normative Konzept der Festsetzungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ zu den Traufhöhen und zu Kniestöcken ein. Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ bestimmt ausdrücklich, dass als Traufhöhe im Plangebiet maximal 3,10 m zulässig sind, wobei Kniestöcke über diese Höhe hinaus ausdrücklich nicht zulässig sind. Ausnahmen sieht der Bebauungsplan nicht vor, Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes gilt zudem für das gesamte Plangebiet. Diese Festsetzungen sind – was sich dem Bebauungsplan „Brühl II“ durch Auslegung entnehmen lässt – Bestandteil eines besonderen normativen Konzepts, das mit diesen beiden Festsetzungen sowie den Festsetzungen des Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung (§ 3 und § 4 BauNVO 1968), die Zahl der Vollgeschosse und der versetzten Anordnung der Baukörper zueinander (Baulinien und Baugrenzen) erreicht werden sollte. Der Bebauungsplan „Brühl II“ zielt ersichtlich darauf ab, ein – überwiegend – reines Wohngebiet mit besonderer, einzigartiger Prägung wegen der Anordnung und Dimension der Gebäude im Plangebiet zu schaffen. Die besondere Prägung besteht darin, dass in der Hanglage im Plangebiet ein stark verdichtetes, aber trotzdem sehr ruhiges Wohngebiet, mit versetzt angeordneter, niedriger Bebauung mit nicht oder nur schwer einsehbaren Freiflächen geschaffen wurde. Hierzu heißt es in der Planbegründung, dass die umfassenden Festlegungen des Bebauungsplanes für Sichtschutz und Geländeterrassierungen wegen des hohen Ausnutzungsgrades der Parzellen erforderlich seien. Die vorgesehene Terrassierung der einzelnen Häusergruppen hangaufwärts – die nur erhalten bleibt, wenn die nach dem Bebauungsplan festgesetzten Gebäudehöhen eingehalten werden – solle den einzelnen Gebäuden trotz der schwachen Hanglage eine günstige Aussicht und Besonnung nach Osten und Süden gewähren. Dass dieses normative Konzept des Bebauungsplanes „Brühl II“ besonders ist und ihn von zahlreichen anderen Bebauungsplänen unterscheidet, die in anderen leichten Hanglagen ebenfalls reine Wohngebiete festsetzen, lässt sich ferner daran erkennen, dass die Klägerin für dieses Konzept hinter dem Bebauungsplan Brühl II (und Brühl I) im Landeswettbewerb „...“ im Jahr 1981 den ersten Preis gewonnen hat und als Landessieger in der Gruppe der Gemeinden bis 10.000 Einwohner ausgezeichnet wurde (vgl. GAS 103). Ohne ein solches besonderes normatives Konzept hinter den Festsetzungen des Bebauungsplanes – d.h. „nur“ übliche Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, der überbaubaren Grundstücksfläche und örtlichen Bauvorschriften aus allgemeinen städtebaulichen Gründen heraus – wäre die Klägerin für (u.a.) den Bebauungsplan „Brühl II“ nicht im Landeswettbewerb ausgezeichnet worden; ihr Bebauungsplan hätte sich dann nicht von den übrigen eingereichten Bebauungsplänen zum Thema „…“ abgesetzt.
60 
In das eben beschriebene normative Konzept des Bebauungsplanes „Brühl II“ greifen die Abweichungen des Vorhabens des Beigeladenen hinsichtlich der Traufhöhe und der Kniestöcke wesentlich, und nicht nur in Randbereichen, ein. Dies gilt unabhängig davon, ob für die Bewertung, ob ein wesentlicher Eingriff vorliegt, eine konkrete Betrachtungsweise anzustellen ist, oder eine generelle Betrachtungsweise. Wenn insoweit auf eine konkrete, auf die vorhandene Bebauung bezogene, Betrachtung abzustellen ist, wäre zu überprüfen, wie sich das Vorhaben durch seine Abweichungen auf die Bebauung in der näheren Umgebung auswirkt. Bei Anwendung einer solchen konkreten Betrachtungsweise führt das Vorhaben des Beigeladenen zu einer negativen Vorbildwirkung in der näheren Umgebung und dazu, dass das Gebäude Gladiolenweg 5 künftig von mehr Gebäuden umgeben wäre, die eine Traufhöhe von über 3,10 m und darüber hinausgehende Kniestöcke aufweisen, als von solchen Gebäuden, deren Traufhöhe maximal 3,10 m beträgt. Durch die Auswirkung würde das derzeit noch bestehende tatsächliche Gefüge in der näheren Umgebung des Baugrundstücks zerstört. Auch eine generelle Betrachtungsweise, d.h. allein auf die normativen Regelungen des Bebauungsplanes „Brühl II“ bezogen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Stellt man nur darauf ab, wie sich die Abweichungen des Vorhabens des Beigeladenen zum Regelungskonzept des Bebauungsplanes „Brühl II“ verhalten – ohne Berücksichtigung der Auswirkungen in tatsächlicher Hinsicht auf die Bebauung in der näheren Umgebung – so ist festzuhalten, dass mit den Abweichungen eine Gebäudehöhe ermöglicht wird, die der Bebauungsplan „Brühl II“ gerade verhindern wollte. Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes sieht – um die Terrassierung im Plangebiet zu ermöglichen und geschützte private Außenbereiche um die Gebäude zu schaffen – bewusst für das ganze Plangebiet vor, dass die Traufhöhe auf 3,10 m begrenzt ist, ohne Ausnahmen oder darüber hinausgehende Kniestöcke zuzulassen. Die Abweichungen durch das Bauvorhaben des Beigeladenen sind auch nicht unwesentlich, denn die Traufhöhe wird um 0,80 m überschritten, was zusammen mit dem Kniestock des Vorhabens das Dachgeschoss nahezu zu einem zusätzlichen Vollgeschoss werden lässt. Angesichts dieses Verhältnisses zwischen dem öffentlichen Interesse an der Schaffung zusätzlichen Wohnraums durch das Vorhaben des Beigeladenen und dem im Bebauungsplan „Brühl II“ zum Ausdruck kommenden öffentlichen Interesse an der Erhaltung des besonderen Konzepts des Baugebiets Brühl II, war letzterem der Vorzug einzuräumen. Das Gericht berücksichtigt hierbei zusätzlich, dass das Vorhaben des Beigeladenen in Grünkraut liegt, also nicht in einer Gemeinde mit einem besonders stark angespannten Wohnungsmarkt (vgl. § 556d BGB und § 1 Mietpreisbegrenzungsverordnung BW).
61 
Der in der mündlichen Verhandlung gestellte bedingte Beweisantrag des Beklagtenvertreters, die Umgebungsbebauung in Augenschein zu nehmen (vgl. das Protokoll der mündlichen Verhandlung, GAS 163), war abzulehnen.
62 
Einen weiteren Aufklärungsbedarf sieht das Gericht nicht, weswegen die Anordnung einer Beweisaufnahme unterbleibt. Dem in der mündlichen Verhandlung gestellten bedingten Beweisantrag des Beklagtenvertreters, die Umgebungsbebauung in Augenschein zu nehmen (vgl. das Protokoll der mündlichen Verhandlung, GAS 163), wird nicht stattgegeben. Dahinstehen kann dabei, ob der Antrag aufgrund seiner Formulierung ein Beweisantrag ist oder lediglich ein Beweisermittlungsantrag war. Seinem Wortlaut nach ist der Antrag nämlich nicht auf die Feststellung einer Tatsache, sondern auf eine rechtliche Wertung gerichtet („[…] ob die streitgegenständliche Baugenehmigung und die bisher genehmigten Abweichungen mit öffentlichen Belangen im Sinne des § 56 LBO zu vereinbaren sind.“). Wenn man den Antrag des Beklagtenvertreters dahin auslegt, dass durch die Inaugenscheinnahme der Umgebungsbebauung festgestellt werden sollte, dass die Traufhöhen der Gebäude … (Flst. Nr. 748), … (Flst. Nr. 784), … (Flst. Nr. 742), … (Flst. Nr. 791) und … (Flst. Nr. 717) ein Maß von 3,10 m überschreiten und dass diese Gebäude Kniestöcke aufweisen, die über eine Traufhöhe von 3,10 m hinausragen, so konnte die Beweistatsache als wahr unterstellt werden (vgl. schon oben II. 1. a. (3) und II. 1. b. (1)). Der Beweisantrag war daher abzulehnen, § 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 6 StPO analog. Die Ablehnungsgründe für Beweisanträge nach § 244 Abs. 3 S. 3 StPO finden auch im Verwaltungsprozess analog Anwendung (vgl. mwN.: OVG Lüneburg, Beschluss vom 17. Dezember 2021 – 1 LA 91/20 –, juris Rn. 44 und 49). Im Übrigen greift auch der Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit aus § 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 2 StPO analog. Dass die zuvor aufgeführten fünf Gebäude Traufhöhen von mehr als 3,10 m und darüber hinausgehende Kniestöcke aufweisen, führt nämlich nicht dazu, dass der Bebauungsplan „Brühl II“ funktionslos wäre (vgl. oben II. 1. a. (3)), die Abweichungen durch das Vorhaben des Beigeladenen die Grundzüge der Planung nicht mehr berühren könnten (vgl. oben II. 1. b. (1)) oder dass die Abweichungen durch das Vorhaben des Beigeladenen mit den öffentlichen Belangen vereinbar wären. Die Beweistatsache hat daher keinen Einfluss auf das Ergebnis des Verfahrens.
63 
(3) Die Voraussetzungen des § 56 Abs. 5 LBO liegen ebenfalls nicht vor. Die Abweichungen sind nicht mit den öffentlichen Belangen vereinbar.
64 
Nach § 56 Abs. 5 LBO kann von den Vorschriften in den §§ 4 bis 39 dieses Gesetzes oder auf Grund dieses Gesetzes Befreiung erteilt werden, wenn – unter anderem – die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Ob die Abweichung mit öffentlichen Belangen vereinbar ist, beurteilt sich im Ausgangspunkt nach den gleichen Grundsätzen wie im Rahmen des § 56 Abs. 2 LBO (vgl. Gassner, in: BeckOK Bauordnungsrecht Baden-Württemberg, Stand: 01.11.2021, § 56 LBO Rn. 75; Sauter, LBO Baden-Württemberg, 56. EL 2019, § 56 LBO Rn. 51, 13 und 29), wobei zusätzlich aber auch die durch die Abweichung betroffenen nachbarlichen Belange zu würdigen sind. Hierfür sind die Gründe, die eine Befreiung erfordern, mit anderen öffentlichen Belangen unter Würdigung der nachbarlichen Interessen abzuwägen. Dabei ist maßgebend, in welchem Umfang und in welcher Intensität der Nachbar von dem Vorhaben selbst oder von dessen Folgewirkungen beeinträchtigt werden kann (Sauter, LBO Baden-Württemberg, 56. EL 2019, § 56 LBO Rn. 47; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09. Februar 2018 – 5 S 2130/17 –, juris Rn. 16).
65 
Nach diesem Maßstab genießt das im Bebauungsplan „Brühl II“ zum Ausdruck kommende öffentliche Interesse an der Erhaltung des besonderen Konzepts des Baugebiets Brühl II Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an der Schaffung zusätzlichen Wohnraums durch das Vorhaben des Beigeladenen. Dies folgt schon aus der oben (vgl. II. 1. c. (2)) durchgeführten Abwägung ohne zusätzliche Berücksichtigung nachbarlicher Belange. Stellt man zusätzlich nachbarliche Belange in die Abwägung mit ein – etwa die zusätzlichen Einsichtsmöglichkeiten in die privaten Freiflächen der Gebäude Nelkenstraße 1 und Gladiolenweg 3 – so vermag dies das Abwägungsergebnis nicht zu Gunsten des Bauvorhabens zu beeinflussen.
66 
(4) aa. Ob die Baugenehmigung zusätzlich auch wegen der Zahl der Vollgeschosse gegen § 20 Abs. 1 BauNVO i.V.m. § 2 Abs. 6 LBO verstößt, kann offenbleiben. Es kann daher dahinstehen, ob das Dachgeschoss des Vorhabens ein Vollgeschoss ist (§ 2 Abs. 6 S. 3 Nr. 2 LBO) und auch, ob die Flächenberechnung des unter dem Dachgeschoss liegenden Geschosses im Bauantrag zutreffend erfolgt ist und Flächen einbeziehen durfte, die ihrerseits nicht mehr unter dem Dachgeschoss liegen.
67 
bb. Ebenso kann dahinstehen, ob der streitgegenständlichen Baugenehmigung bezüglich der Abweichungen hier die Wartefrist von 5 Jahren nach § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO entgegensteht. Nach dem Wortlaut der Vorschrift und nach der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 11/5337, S. 116 f.) dürfte das eher nicht der Fall sein, sondern läuft die Wartefrist wohl nur einmalig und zwar ab der für die erstmalige Errichtung des Gebäudes erteilten Baugenehmigung. Soweit Sinn und Zweck der Vorschrift aber dahin zu verstehen sein sollten, dass verhindert werden soll, dass in naher zeitlicher Abfolge und scheibchenweise Abweichung um Abweichung genehmigt wird, könnte die Anwendung der Wartefrist auch in anderer Form erfolgen und dann im vorliegenden Fall dem Vorgehen des Beigeladenen und des Beklagten entgegenstehen. Das ursprüngliche Baugesuch vom 28.8.2015 (Erweiterung des Wohnhauses mit 2 Wohnungen um 4 weitere Wohnungen, also um das Doppelte) wurde aufgespalten, damit im ersten Zug am 11.7.2016 dem Beigeladenen die Erweiterung um 2 Wohnungen genehmigt werden konnte. Bereits 2,5 Jahre später, nämlich am 8.2.2019, folgte das nächste, hier streitgegenständliche Baugesuch bezüglich des Dachausbaus und der Erweiterung um 2 weitere Wohnungen.
68 
2. Die Klägerin ist durch die Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 in ihren Rechten verletzt.
69 
a. Soweit die erteilten Befreiungen auf § 31 Abs. 2 BauGB beruhen sollten (s.o. unter II. 1. b.), wird die Klägerin in ihrem subjektiven öffentlichen Recht aus § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB verletzt.
70 
b. Soweit die erteilten Ausnahmen auf § 56 Abs. 2 und 5 LBO beruhen sollten, wird die Klägerin in ihrer Planungshoheit verletzt (Art. 28 Abs. 2 GG).
71 
Der Erlass örtlicher Bauvorschriften ist vom Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden, d.h. ihrer Planungshoheit aus Art. 28 Abs. 2 GG, erfasst. Gegen unter Verstoß gegen ihre örtlichen Bauvorschriften erteilte Baugenehmigungen sind sie klagebefugt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.03.2017 – 5 S 2427/15 –, juris Rn. 13 und 19). Örtliche Bauvorschriften beruhen auf Abwägungsprozessen der Gemeinde (vgl. LT-Drucks. 13/4385, S. 11 und 18) und wurden daher vom Landesgesetzgeber Bürgerentscheiden entzogen (§ 21 Abs. 2 Nr. 6 GemO). Hierin kommt die Wertung des Gesetzgebers zum Ausdruck, dass die Planungshoheit der Gemeinden örtliche Bauvorschriften erfasst.
72 
Abweichungen, Ausnahmen und Befreiungen von örtlichen Bauvorschriften unter Verstoß gegen die Voraussetzungen des § 56 LBO verletzen danach die Planungshoheit der betroffenen Gemeinde.
73 
c. Die Klägerin hat ihr subjektives öffentliches Recht aus § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB oder aus Art. 28 Abs. 2 GG auch nicht durch Erteilung ihres Einvernehmens zu den Abweichungen bei anderen Vorhaben im Plangebiet verloren.
74 
Die Gemeinde verliert ihre subjektiven öffentlichen Rechte aus § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB und Art. 28 Abs. 2 GG nicht dadurch, dass sie – wie hier für die Gebäude … (Flst. Nr. 748), … (Flst. Nr. 784), … (Flst. Nr. 742), … (Flst. Nr. 791) und … (Flst. Nr. 717) – bei anderen, früheren Vorhaben ihr Einvernehmen zu Abweichungen oder Befreiungen von ihren bauplanerischen Festsetzungen oder örtlichen Bauvorschriften erteilt. Sähe man dies anders, so könnte sie schon nach einmaliger Erteilung ihres Einvernehmens weitere Abweichungen oder Befreiungen von ihren bauplanerischen Festsetzungen oder örtlichen Bauvorschriften nicht mehr verhindern. Bereits die erste Erteilung ihres Einvernehmens brächte es dann mit sich, dass ihre bauplanerischen Festsetzungen oder örtlichen Bauvorschriften potenziell funktionslos würden, weil sie nachfolgenden Abweichungen oder Befreiungen nicht mehr entgegentreten könnte. Dies würde der verfassungsrechtlich geschützten Planungshoheit nicht hinreichend gerecht.
75 
Die in Art. 28 GG garantierte Planungshoheit der Gemeinde ist vielmehr bei Zulassung einer Abweichung gemäß § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO und bei Beteiligung gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB gleichermaßen zu respektieren und zu schützen. Die Annahme, dass von der Gemeinde eine Verletzung ihrer Planungshoheit durch Zulassung einer Abweichung, die Grundzüge ihrer Planung berührt, im Rahmen des § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO hinzunehmen ist, trifft nicht zu.
76 
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 3 VwGO. Dem Beigeladenen war neben dem Beklagten die Hälfte der Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, da er einen Antrag gestellt hat und mit dem Beklagten unterlegen ist.
77 
4. Von der Möglichkeit, das Urteil für vorläufig vollstreckbar zu erklären, macht das Gericht keinen Gebrauch (§ 167 Abs. 2 VwGO).
78 
5. Die Berufung ist zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 124 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
79 
Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, wenn sie eine in der Rechtsprechung bislang noch nicht geklärte fallübergreifende, verallgemeinerungsfähige Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, die für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich war und auch für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich und damit klärungsfähig ist, und die im Interesse der Rechtssicherheit, der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung im Berufungsverfahren bedarf (Roth, in: BeckOK VwGO, Stand: 01.01.2022, § 124 VwGO Rn. 53; BVerfG, Kammerentscheidung, Beschluss vom 9. Juni 2016 – 1 BvR 2453/12 = BVerfG NVwZ 2016, 1243 Rn. 20).
80 
Gemessen hieran enthält die Rechtssache mehrere fallübergreifende, verallgemeinerungsfähige und bislang nicht abschließend geklärte Rechtsfragen. In der Rechtsprechung bislang nicht geklärt ist, unter welchen Voraussetzungen angenommen werden kann, dass eine Abweichung von örtlichen Bauvorschriften mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist (§ 56 Abs. 2 LBO), insbesondere, ob eine Abweichung oder Befreiung nicht wesentlich in das normative Konzept der örtlichen Bauvorschrift eingreifen darf. Entschieden ist im Zusammenhang mit Abweichungen von den Abstandsflächenregelungen in § 5 LBO – nicht aber örtlichen Bauvorschriften – lediglich, dass die Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen eine Abwägungsentscheidung erfordert zwischen dem mit § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO verfolgten öffentlichen Interesse an der Schaffung zusätzlichen Wohnraums und den von § 5 LBO geschützten öffentlichen und privaten Interessen (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 03. März 2015 – 3 S 1913/14 –, juris Rn. 16). Ob dieser Maßstab ohne Weiteres auch für Fälle – wie hier – einer Klage einer Gemeinde gegen die Baugenehmigung unter Abweichungen von örtlichen Bauvorschriften gilt, ist nicht geklärt. Gleiches gilt für die Frage, auf welche Weise die von der örtlichen Bauvorschrift geschützten öffentlichen Belange zu ermitteln sind und inwieweit diese öffentlichen Belange auch in der Planbegründung zum Ausdruck kommen müssen.

Gründe

 
23 
Die Klage ist zulässig (I.) und begründet (II.), sie hat daher Erfolg.
24 
I. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) zulässig, insbesondere ist die Klägerin auch klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO).
25 
Nach § 42 Abs. 2 VwGO ist die (Anfechtungs- oder Verpflichtungs-) Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein. Dies setzt die Möglichkeit der behaupteten Rechtsverletzung voraus. Die Möglichkeit der Rechtsverletzung besteht nicht, wenn die geltend gemachten Rechte unter Zugrundelegung des Klagevorbringens offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise bestehen oder dem Kläger zustehen können, eine Verletzung subjektiver Rechte des Klägers also nicht in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.7.2001 - 1 C 35.00 = BVerwG NVwZ 2001, 1396, 1397; mwN: Sennekamp, in: Fehling/Kastner/Störmer Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 42 VwGO Rn. 54).
26 
Nach diesem Maßstab ist es nicht ausgeschlossen und daher möglich, dass die Klägerin durch die angegriffene Baugenehmigung entweder in ihrem subjektiven öffentlichen Recht aus § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB oder in ihrer Planungshoheit aus Art. 28 Abs. 2 GG verletzt wird. Ob § 31 Abs. 2 BauGB oder § 56 Abs. 2 LBO die zutreffende Rechtsgrundlage für die dem Beigeladenen mit der Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 erteilten Abweichungen oder Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplanes „Brühl II“ oder darin enthaltener örtlicher Bauvorschriften nach § 111 Abs. 1 Nr. 1 LBO 1964 bildet, kann im Rahmen der Klagebefugnis dahinstehen. In beiden Fällen erscheint eine Verletzung der Klägerin in subjektiven öffentlichen Rechten nämlich möglich. Sollte § 31 Abs. 2 BauGB die zutreffende Rechtsgrundlage für die Befreiung von den in Streit stehenden Regelungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ sein, so wäre der Anwendungsbereich des § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB eröffnet mit der Folge, dass die Klägerin durch die Ersetzung ihres gemeindlichen Einvernehmens durch den Beklagten möglicherweise in ihrem subjektiven öffentlichen Recht aus § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB verletzt ist. Das absolute Beteiligungsrecht der Gemeinden aus § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB ist ein Ausfluss ihrer Planungshoheit und begründet für sie ein subjektives öffentliches Recht (vgl. mwN: BVerwG, Beschluss vom 11.8.2008 - 4 B 25.08 = BVerwG NVwZ 2008, 1347, 1347 f.). Auch wenn § 56 Abs. 2 LBO die zutreffende Rechtsgrundlage für die in der Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 erteilten Abweichungen sein sollte, wäre eine Verletzung der Klägerin in ihrer Planungshoheit möglich (Art. 28 Abs. 2 GG). Denn nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg ist auch die Aufstellung örtlicher Bauvorschriften zur Durchführung baugestalterischer Absichten (§ 74 Abs. 1 LBO) der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie – d.h. ihrer Planungshoheit – zuzurechnen (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.03.2017 – 5 S 2427/15, juris, Rn. 16; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.02.2017 – 3 S 1748/14, juris, Rn. 48). Sollte der Beklagte – wie die Klägerin geltend macht – unter Verstoß gegen die Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 LBO eine Abweichung von örtlichen Bauvorschriften der Klägerin erteilt haben, wäre die Klägerin dadurch möglicherweise in ihrer Planungshoheit verletzt (Art. 28 Abs. 2 GG), was eine Klagebefugnis ebenfalls begründet.
27 
II. Die Klage ist begründet. Die Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 ist rechtswidrig (1.) und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (2.), § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.
28 
1. Die auf § 58 Abs. 1 S. 1 LBO beruhende Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 ist rechtswidrig. Sie verstößt entweder gegen §§ 31 Abs. 2, 36 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 und 3 BauGB (b.) oder gegen § 56 Abs. 2 und 5 LBO (c.), da weder die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB noch die Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 und 5 LBO vorliegen. Ob § 31 Abs. 2 BauGB oder § 56 Abs. 2 und 5 LBO die zutreffende Rechtsgrundlage für die erteilten Abweichungen oder Befreiungen bildet, kann deshalb dahinstehen (a.).
29 
Für die Beurteilung der Frage, ob die Erteilung einer Baugenehmigung die Gemeinde in ihrer Planungshoheit verletzt, ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung maßgeblich. Allerdings sind nachträgliche Änderungen zugunsten des Bauherrn zu berücksichtigen. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass es mit der nach Maßgabe des einschlägigen Rechts gewährleisteten Baufreiheit nicht vereinbar wäre, eine zur Zeit des Erlasses rechtswidrige Baugenehmigung aufzuheben, die sogleich nach der Aufhebung wieder erteilt werden müsste (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.04.1998 - 4 B 40.98 -, juris). Die erst am 28.5.2021 erlassene Veränderungssperre kann der Erteilung der Baugenehmigung bereits deswegen nicht entgegengehalten werden (vgl. auch § 14 Abs. 3 Alt. 1 BauGB).
30 
a. Es kann dahinstehen, ob die Festsetzungen zur Traufhöhe und zum Kniestock unter Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ vom 30.06.1971 Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung (§ 9 Abs. 1 Nr. 1a BBauG 1960) oder Festsetzungen über die äußere Gestaltung baulicher Anlagen sind (§ 9 Abs. 2 BBauG 1960 i.V.m. § 111 Abs. 1 Nr. 1 LBO 1964). Denn in ersterem Fall liegen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB für eine Befreiung von der Festsetzung zur Traufhöhe und zum Kniestock nicht vor, wodurch zugleich die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens der Klägerin durch die Beklagte rechtswidrig ist (b). Im zweiten Fall liegen die Voraussetzungen für eine Abweichung oder Befreiung von der örtlichen Bauvorschrift zur Traufhöhe und zum Kniestock gemäß § 56 Abs. 2 und 5 LBO nicht vor, wodurch die Baugenehmigung auch dann rechtswidrig ist (c.).
31 
Unabhängig von der Einstufung der Festsetzungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes (Traufhöhe und Kniestock) als Vorgabe zum Maß der baulichen Nutzung oder zur äußeren Gestaltung baulicher Anlagen ist der Bebauungsplan „Brühl II“ vom 30.06.1971 jedenfalls wirksam. Der Bebauungsplan wurde ordnungsgemäß ausgefertigt (1), Verfahrens- und Formfehler sowie Abwägungsfehler sind ebenfalls nicht ersichtlich, wären aber ohnehin durch Fristablauf gem. §§ 215 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 3, 214 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 3 sowie Abs. 2 und Abs. 3 S. 2, 233 Abs. 2 S. 1 BauGB unbeachtlich geworden (2). Der Bebauungsplan ist auch nicht funktionslos geworden (3).
32 
(1) Der Bebauungsplan „Brühl II“ wurde ordnungsgemäß ausgefertigt.
33 
Die Ausfertigung von Rechtsnormen ist rechtsstaatlich geboten, um sicherzustellen, dass diese nicht mit einem anderen als dem vom Normgeber gewollten Inhalt erlassen werden. Das Rechtsstaatsgebot (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG) verlangt die Identität der anzuwendenden Norm und ihres Inhalts mit dem vom Normgeber Beschlossenen („Identitätsfunktion”, „Beurkundungs- und Gewährleistungsfunktion”). Die Ausfertigung ist daher Wirksamkeitsvoraussetzung einer jeden Norm (mwN.: BVerwG, Urteil vom 1.7.2010 - 4 C 4.08 = BVerwG NVwZ 2011, 61 Rn. 13). Art, Inhalt und Umfang der Ausfertigung von Bebauungsplänen gehören zum (irreversiblen) Landesrecht (BVerwG, Beschluss vom 16.05.1991 - 4 NB 26.90 = BVerwG NVwZ 1992, 371). In Baden-Württemberg trifft die Gemeindeordnung – insbesondere nicht in § 4 GemO – keine näheren gesetzlichen Vorgaben zu Art, Inhalt und Umfang der Ausfertigung gemeindlicher Satzungen. Es kommt daher nur darauf an, dass die Identitätsfunktion sowie die Beurkundungs- und Gewährleistungsfunktion der Ausfertigung gewährleistet sind. Ausreichend ist daher, dass der Satzungsbeschluss des Bebauungsplanes ordnungsgemäß ausgefertigt ist und in diesem in einer Weise auf sonstige Bestandteile der Satzung Bezug genommen wird, die Zweifel an der Identität ausschließen.
34 
Es genügt auch, wenn bei Bebauungsplänen durch eindeutige Angaben im Satzungstext oder auch auf andere Weise jeder Zweifel an der Zugehörigkeit des Plans zur Satzung ausgeschlossen wird und damit eine Art „gedankliche Schnur" – zwischen dem Plan und dem Satzungsbeschluss – hergestellt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn in der Satzung auf einen bestimmten, genau bezeichneten Plan Bezug genommen wird und kein Zweifel bestehen kann, welcher Plan damit gemeint ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 08.05.1990 - 5 S 3064/88 = VGH Baden-Württemberg NVwZ-RR 1991, 20; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.05.2019 – 3 S 2811/17, juris, Rn. 54). Die Unterzeichnung des den Satzungsbeschluss enthaltenden Gemeinderatsprotokolls durch den Bürgermeister genügt für eine ordnungsgemäße Ausfertigung eines Bebauungsplans, sofern in dem Beschluss die Bestandteile des Plans in einer Weise bezeichnet sind, dass Zweifel an der Identität des Plans nicht bestehen (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2006 - 8 S 1989/05, juris, Rn. 34).
35 
Diesen Anforderungen wird der Bebauungsplan „Brühl II“ gerecht. Es ist ausreichend, dass das Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 30.06.1971, in dem der Satzungsbeschluss des Bebauungsplanes enthalten ist, am 08.07.1971 vom damaligen Bürgermeister der Klägerin unterzeichnet worden ist. Der zeichnerische Teil des Bebauungsplanes ist zusätzlich mit einem Vermerk des damaligen Bürgermeisters – wenn auch ohne Datum – und seiner Unterschrift nebst Stempel der Gemeinde versehen („Anerkannt“), aus dem ersichtlich wird, dass überprüft wurde, ob die Planzeichnung und der Satzungsbeschluss inhaltlich übereinstimmen. Das Protokoll der Gemeinderatssitzung bezeichnet ferner unter § 2 im Einzelnen die Bestandteile des Bebauungsplans und gibt Aufschluss über den Stand der maßgeblichen Planzeichnung (Lageplan vom 30.06.1970 mit Ergänzungen vom 13.01.1971) sowie alle sonstigen Bestandteile des Bebauungsplanes. Hierdurch ist die „gedankliche Schnur“ zwischen dem Satzungsbeschluss und der Planzeichnung gewahrt.
36 
(2) Verfahrens- und Formfehler sowie Abwägungsfehler des Bebauungsplanes „Brühl II“ sind von den Beteiligten nicht geltend gemacht, aber auch sonst für die Kammer nicht ersichtlich. Im Übrigen wären derartige Fehler inzwischen aber ohnehin durch Fristablauf gem. §§ 215 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 3, 214 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 3 sowie Abs. 2 und Abs. 3 S. 2, 233 Abs. 2 S. 1 BauGB unbeachtlich geworden. Nach § 233 Abs. 2 S. 1 BauGB finden die Planerhaltungsvorschriften aus § 214 und § 215 BauGB auch – wie hier – rückwirkend auf solche Bebauungspläne Anwendung, die auf der Grundlage älterer Fassungen des Baugesetzbuches in Kraft getreten sind. Soweit Vorschriften im Bebauungsplan möglicherweise entgegen ihrer bauplanungsrechtlichen Qualität unrichtig als bauordnungsrechtlich bezeichnet wurden, würde dies die Wirksamkeit des Bebauungsplans nicht tangieren.
37 
(3) Der Bebauungsplan „Brühl II“ ist nicht funktionslos geworden.
38 
Eine bauplanerische Festsetzung tritt wegen Funktionslosigkeit nur dann außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt, und wenn diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient (BVerwG, Urteil vom 03.12.1998 - 4 CN 3.97 = BVerwGE 108, 71, 76; BVerwG, Beschluss vom 23.01.2003 - 4 B 79.02 = BVerwG NVwZ 2003, 749, 750; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 04.12.2003 - 5 S 1746/02 -, juris).
39 
Derartige Verhältnisse liegen nach den vom Gericht anhand der vorgelegten Unterlagen, Luftaufnahmen und Pläne getroffenen Feststellungen in Bezug auf die Traufhöhen und Kniestöcke innerhalb des Plangebiets „Brühl II“ nicht vor. Im Plangebiet sind zwar einige – jeweils mit Einvernehmen der Klägerin genehmigte – Bauten vorhanden, die eine größere Traufhöhe als 3,10 m und auch Kniestöcke von bis zu 1,15 m aufweisen, nämlich auf den Grundstücken ... (Flst. Nr. 748), ... (Flst. Nr. 784), n... (Flst. Nr. 742), ... (Flst. Nr. 791) und ... (Flst. Nr. 717). Diese fünf Bauten schließen indessen die Verwirklichung der Festsetzungen zur Traufhöhe und zum Kniestock in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ insgesamt nicht aus. Das Plangebiet umfasst nämlich erheblich mehr als nur diese fünf Grundstücke; bereits im zeichnerischen Teil des Bebauungsplanes sind insgesamt 39 Gebäude eingezeichnet, die auch tatsächlich errichtet worden sind. Letzteres ist bereits über Luftaufnahmen aus Google Maps ersichtlich (vgl. ...nn) und aus der Liegenschaftskarte der Klägerin aus dem Jahre 2015 (GAS 121). Die hiernach ersichtlichen Umrisse der einzelnen Gebäude stimmen zudem weitestgehend mit den im Bebauungsplan eingezeichneten Baukörpern überein. Insbesondere die versetzte Anordnung der Gebäude zueinander sowie die L-förmige Kubatur zahlreicher Gebäude – wie im Bebauungsplan festgesetzt – fällt hierbei auf. Innerhalb dieser Bebauung bilden die zuvor genannten fünf Häuser mit größeren Traufhöhen und Kniestöcken eine Ausnahmeerscheinung; die Festsetzungen zur Traufhöhe und zu Kniestöcken werden dagegen bei den übrigen 34 Gebäuden eingehalten, d.h. vom weit überwiegenden Großteil aller Gebäude. Die Festsetzungen des Bebauungsplanes „Brühl II“ wurden insoweit auf den meisten Grundstücken tatsächlich verwirklicht, er hat seine Steuerungsfunktion erfüllt und erfüllt diese auch weiterhin. Hierauf dürfen die Eigentümer der 34 plangemäß bebauten Grundstück auch weiter vertrauen.
40 
b. Die auf § 58 Abs. 1 S. 1 LBO beruhende Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 verstößt gegen §§ 31 Abs. 2, 36 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 und 3 BauGB, wenn die Regelungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ zur Traufhöhe und zum Kniestock als Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung einzustufen sind. Ausnahmen von den Regelungen zur Traufhöhe und zum Kniestock (§ 31 Abs. 1 BauGB) sieht der Bebauungsplan „Brühl II“ selbst nicht vor. Die Voraussetzungen für eine Befreiung gem. § 31 Abs. 2 BauGB liegen nicht vor, weil die Grundzüge der Planung berührt sind (1). Die Ersetzung des Einvernehmens der Klägerin gem. § 36 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 und 3 BauGB ist hierdurch rechtswidrig (2).
41 
(1) Die Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB liegen nicht vor, weil die Grundzüge der Planung berührt sind.
42 
Nach § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes unter anderem dann befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, die Abweichung städtebaulich vertretbar ist und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Die Grundzüge der Planung ergeben sich aus der den Festsetzungen des Bebauungsplans zugrundeliegenden und in ihnen zum Ausdruck kommenden planerischen Konzeption. Ob sie berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto näher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (BVerwG, Urteil vom 18.11.2010 − 4 C 10.09 = BVerwG NVwZ 2011, 748, 752 Rn. 37; BVerwG, Urteil vom 9.8.2018 – 4 C 7.17 = BVerwG NVwZ 2018, 1808 Rn. 8). Die Beantwortung der Frage, ob Grundzüge der Planung berührt werden, setzt einerseits die Feststellung voraus, was zum planerischen Grundkonzept gehört und andererseits die Feststellung, ob dieses planerische Grundkonzept gerade durch die in Frage stehende Befreiung berührt wird (BVerwG, Urteil vom 18.11.2010 − 4 C 10.09 = BVerwG NVwZ 2011, 748, 752 Rn. 37). Ob es sich bei einer Festsetzung um einen Grundzug der Planung handelt, ist nicht allein aufgrund der Begründung des Bebauungsplans zu beurteilen, sondern kann sich auch aus der Festsetzung selbst ergeben (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.9.2016 – 5 S 114/14 = VGH Baden-Württemberg NVwZ-RR 2017, 315, 316 Rn. 31).
43 
Nach diesem Maßstab gehören die Festsetzungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ zur Traufhöhe und zu Kniestöcken jeweils zum planerischen Grundkonzept, neben den Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung (§ 3 und § 4 BauNVO 1968), die Zahl der Vollgeschosse und der versetzten Anordnung der Baukörper zueinander (Baulinien und Baugrenzen). Dies ergibt sich aus einer Zusammenschau beider Festsetzungen mit der Planbegründung und der Hanglage des Plangebiets. Die Planbegründung hebt – ohne dass aus ihr allein die Grundzüge der Planung ersichtlich wären – darauf ab, dass im Plangebiet eine Terrassierung vorgesehen sei, um die Aussicht und Besonnung nach Süden und Osten zu gewährleisten; wegen des hohen Ausnutzungsgrades der Parzellen seien zudem umfassende Festsetzungen getroffen worden („[…] Die vorgesehene Terrassierung der einzelnen Häusergruppen hangaufwärts soll den einzelnen Gebäuden trotz der schwachen Hanglage eine günstige Aussicht und Besonnung nach Osten und Süden gewähren. […] Die umfassenden Festlegungen des Bebauungsplanes für Sichtschutz und Geländeterrassierungen sind wegen des hohen Ausnutzungsgrades der Parzellen erforderlich. […]“). Im Bebauungsplan sind die Festsetzungen unter Ziff. 2.1 zur Traufhöhe und zu Kniestöcken für das gesamte Plangebiet vorgesehen, zudem ist für das gesamte reine Wohngebiet (§ 3 BauNVO 1968) eine Bebauung mit nur einem Vollgeschoss vorgesehen. Hieraus ergibt sich mit der leichten Hanglage im Plangebiet ein Wohngebiet mit besonderer Prägung, nämlich einer stark verdichteten, aber niedrigen Bebauung, die trotz der Bebauungsdichte von anderen Grundstücken aus nicht oder nur schwer einsehbare Freiflächen bietet. Die besondere Prägung wird dadurch erreicht, dass die Häusergruppen mit ihren Baukörpern jeweils versetzt zueinander angeordnet sind und eine nur geringe Gebäudehöhe (3,10 m Traufhöhe) bei eingeschossiger Bebauung aufweisen. Auf diese Weise entsteht auf vergleichsweise wenig Fläche ein stark verdichtetes Wohngebiet, bei dem trotzdem jeweils den Oberliegern ein Teil der Aussicht hangabwärts nach Osten erhalten bleibt. Durch die gezielt versetzte Anordnung der Baukörper zueinander bleibt trotz der Verdichtung auch Besonnung aus südlicher und östlicher Richtung möglich.
44 
Dieses planerische Grundkonzept – versetzt angeordnete, niedrige Wohnbebauung mit nicht oder schwer einsehbaren Freiflächen – wird durch die Befreiungen von den Festsetzungen zur Traufhöhe und zu Kniestöcken konterkariert und daher berührt. Die Gebäudeaufstockung infolge der Befreiungen führt nämlich dazu, dass vor allem Oberliegern entgegen der Plankonzeption ein Teil ihrer Aussicht abgeschnitten wird und ihre Grundstücke vor allem morgens stärker verschattet werden. Ausschlaggebend ist aber, dass die wegen der Befreiungen mögliche Gebäudeaufstockung eine Nutzung des Dachgeschosses als vollwertige Wohnung mit zahlreichen Fenstern nach Norden und Süden ermöglicht. Diese Wohnnutzung in einem optisch fast als dritten Geschoss wirkenden Dachgeschoss – neben der Wohnnutzung im Unter- und Erdgeschoss – erlaubt eine Einsichtnahme in die Freiflächen benachbarter Grundstücke, die so nach der Plankonzeption verhindert werden sollte. Gerade wegen der starken Ausnutzung der Parzellen enthält der Bebauungsplan „Brühl II“ umfassende Festsetzungen zum Sichtschutz und zur Terrassierung bei allen Grundstücken im reinen Wohngebiet, unter anderem in Form der Festsetzungen zur Traufhöhe und zu Kniestöcken.
45 
Dass der Grundzug der Planung nicht mehr berührt werden konnte, weil er durch eine ihm entgegenlaufende tatsächliche Entwicklung ohnehin bereits nachhaltig gestört gewesen sein soll, vermochte das Gericht nicht festzustellen.
46 
Ein Grundzug der Planung kann durch ein Vorhaben unter anderem dann nicht mehr berührt werden, wenn er bereits durch die bisherige tatsächliche Entwicklung im Baugebiet so nachhaltig gestört ist, dass das Hinzutreten des Vorhabens nicht mehr ins Gewicht fällt. Das insoweit maßgebende Baugebiet kann ein Teil des Bebauungsplangebiets sein, für den der Bebauungsplan einheitliche Festsetzungen enthält. Ist das einheitlich überplante Gebiet sehr groß, kommt es dagegen auf die Situation im Umfeld des Baugrundstücks an. Denn bei der Prüfung, ob die planerische Grundkonzeption bereits so sehr gestört ist, dass eine weitere Störung nicht mehr ins Gewicht fällt, ist der Einfluss der vorhandenen Bebauung auf das Baugrundstück sowie umgekehrt die Beziehung des Baugrundstücks zu seiner Umgebung zu betrachten. Das setzt eine gewisse räumliche Nähe voraus. Die Umgebung muss das Baugrundstück und – umgekehrt – das Baugrundstück seine Umgebung im Sinne einer städtebaulichen Ordnung (§ 1 Abs. 3 BauGB) beeinflussen können (mwN.: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.9.2016 – 5 S 114/14 = VGH Baden-Württemberg NVwZ-RR 2017, 315, 316 Rn. 34).
47 
Nach diesem Maßstab fällt die Abweichung durch das Bauvorhaben von den Festsetzungen zur Traufhöhe und zum Kniestock auch weiterhin ins Gewicht. Durch die das Baugrundstück umgebende Bebauung ist die planerische Grundkonzeption im Hinblick auf die Traufhöhe und Kniestöcke bislang nicht nachhaltig gestört. Drei der fünf Gebäude im Plangebiet, deren Traufhöhe 3,10 m überschreitet, liegen schon nicht in der Umgebung des Baugrundstückes. Das Baugrundstück – Flst. Nr. 792, … – liegt in einem Quartier innerhalb des Plangebiets zwischen der Nelkenstraße im Norden, der Rosenstraße im Osten, dem Sonnenblumenweg im Süden und dem Gladiolenweg im Westen. Die Gebäude … (Flst. Nr. 748), … (Flst. Nr. 717) und … (Flst. Nr. 742) – die eine größere Traufhöhe als 3,10 m aufweisen – befinden sich in anderen Quartieren innerhalb des Plangebiets, die von anderen Straßen eingegrenzt werden. Sie vermögen daher die städtebauliche Ordnung in dem Quartier, in dem das Baugrundstück liegt, nicht zu beeinflussen. Lediglich die Gebäude … (Flst. Nr. 784) und … (Flst. Nr. 791) befinden sich innerhalb desselben Quartiers wie das Vorhabengrundstück und wirken sich daher auf die städtebauliche Ordnung in diesem Quartier aus. Insoweit ist hinsichtlich des Gebäudes … (Flst. Nr. 784) der Einfluss auf die städtebauliche Ordnung mit Blick auf das Baugrundstück herabgesetzt, weil zwischen dem Baugrundstück und diesem Gebäude noch die Gebäude … und … liegen. Das Gebäude … (Flst. Nr. 791) liegt unmittelbar südlich des Baugrundstücks und wirkt daher unmittelbar im Hinblick auf das Baugrundstück. Bei dieser Sachlage vermag das Gericht nicht festzustellen, dass die tatsächliche Entwicklung innerhalb des Quartiers des Baugrundstücks die Grundzüge der Planung – bezogen auf Traufhöhen und Kniestöcke – bereits so nachhaltig gestört hat, dass eine weitere Abweichung von den Vorgaben zu Traufhöhen und Kniestöcken nicht mehr ins Gewicht fällt. Innerhalb des Quartiers befinden sich nämlich insgesamt sechs Wohnhäuser sowie fünf weitere Nebengebäude. Die Traufhöhen der Gebäude … und … bilden hierin immer noch eine Ausnahmeerscheinung, der weit überwiegende Großteil der Gebäude hält die Festsetzungen zur Traufhöhe und zu Kniestöcken ein.
48 
(2) Die Ersetzung des Einvernehmens der Klägerin gem. § 36 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 und 3 BauGB ist hierdurch (siehe oben unter II. 1. b. (1)) rechtswidrig.
49 
Nach § 36 Abs. 2 S. 3 BauGB kann die nach Landesrecht zuständige Behörde ein rechtswidrig versagtes Einvernehmen der Gemeinde ersetzen. Diese Voraussetzungen lagen nicht vor, da die Klägerin ihr gemeindliches Einvernehmen zu Recht verweigert hatte. Das Einvernehmen der Gemeinde darf nach § 36 Abs. 2 S. 1 BauGB nur aus den sich aus §§ 31, 33, 34 und 35 BauGB ergebenden Gründen versagt werden. Erforderlich ist das Einvernehmen der Gemeinde hierbei nur, wenn über die Zulässigkeit von Vorhaben nach den §§ 31, 33 bis 35 BauGB im bauaufsichtlichen Verfahren entschieden wird. Da die Grundzüge der Planung berührt sind (s.o.), ist die Verweigerung des gemeindlichen Einvernehmens durch die Klägerin rechtmäßig (§§ 36 Abs. 2 S. 1, 31 Abs. 2 BauGB).
50 
c. Die auf § 58 Abs. 1 S. 1 LBO beruhende Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 ver-stößt gegen § 56 Abs. 2 und 5 LBO, wenn die Regelungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ zur Traufhöhe und zum Kniestock als örtliche Bauvorschriften zur äußeren Gestaltung baulicher Anlagen gem. § 111 Abs. 1 Nr. 1 LBO 1964 einzustufen sind. § 56 Abs. 2 und 5 LBO enthalten in diesem Fall die maßgebliche Rechtsgrundlage für Abweichungen und Befreiungen von der örtlichen Bauvorschrift (1). Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 56 Abs. 2 und 5 LBO liegen jedoch nicht vor ((2) und (3)). Auf die Einhaltung der Zahl der Vollgeschosse (4 aa.) und der Wartefrist von 5 Jahren (4 bb.) kommt es danach nicht mehr an.
51 
(1) Für Abweichungen und Befreiungen von den Festsetzungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ zur Traufhöhe und zum Kniestock enthalten § 56 Abs. 2 und 5 LBO die maßgebliche Rechtsgrundlage, wenn die Festsetzungen als örtliche Bauvorschriften einzustufen sind. § 31 Abs. 2 BauGB kommt vorliegend nach § 111 Abs. 5 S. 4 LBO 1964 nicht als Rechtsgrundlage für Abweichungen und Befreiungen von der örtlichen Bauvorschrift in Betracht.
52 
§ 111 LBO 1964 enthält keine Regelung dahin, dass für auf der Grundlage der Landesbauordnung 1964 erlassene örtliche Bauvorschriften die Regelungen des Bundesbaugesetzes entsprechend Anwendung finden, die für bauplanungsrechtliche Festsetzungen in Bebauungsplänen gelten. Rechtsgrundlage für Abweichungen und Befreiungen von den Festsetzungen zur Traufhöhe und zu Kniestöcken im Bebauungsplan „Brühl II“ vom 30.06.1971 sind daher § 56 Abs. 2 und 5 LBO.
53 
Nach dem für den Bebauungsplan „Brühl II“ vom 30.06.1971 anwendbaren § 111 Abs. 5 S. 4 LBO 1964 können örtliche Bauvorschriften zusammen mit einem Bebauungsplan beschlossen werden. Die Norm sieht – anders als § 111 Abs. 6 S. 2 LBO 1977 und § 73 Abs. 6 S. 2 LBO 1983 – nicht vor, dass auf örtliche Bauvorschriften, die zusammen mit einem Bebauungsplan beschlossen wurden, die Vorschriften entsprechend anzuwenden sind, die für bauplanungsrechtliche Festsetzungen nach § 9 BauGB (oder § 9 BBauG) gelten. Zum vorliegend maßgeblichen Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bebauungsplanes am 18.11.1971 bestand auch (noch) keine dem heutigen § 9 Abs. 4 BauGB entsprechende Länderöffnungsklausel, die es den Landesgesetzgebern ermöglicht hätte, für örtliche Bauvorschriften die Anwendung der Regelungen für bauplanungsrechtliche Festsetzungen vorzusehen. Die erste dem heutigen § 9 Abs. 4 BauGB entsprechende Länderöffnungsklausel wurde mit § 9 Abs. 4 BBauG 1976 geschaffen (BGBl. I S. 2256) – also rund 5 Jahre nach Inkrafttreten des Bebauungsplanes „Brühl II“.
54 
(2) Die Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO liegen nicht vor. Die Abweichungen des Vorhabens von den Festsetzungen zur Traufhöhe und zu Kniestöcken sind mit den öffentlichen Belangen nicht vereinbar.
55 
Nach dem hier einzig in Betracht kommenden § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO sind unter anderem Abweichungen von den Vorschriften aufgrund dieses Gesetzes zuzulassen zur Schaffung von zusätzlichem Wohnraum durch Ausbau, Anbau, Nutzungsänderung, Aufstockung oder Änderung des Daches, wenn die Baugenehmigung oder die Kenntnisgabe für die Errichtung des Gebäudes mindestens fünf Jahre zurückliegt und wenn die Abweichungen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Das Erfordernis der Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen ist dahin auszulegen, dass das von der Vorschrift erfasste Schutzgut, von der abgewichen werden soll, bzw. der vom Gesetzgeber verfolgte Normzweck, durch das geplante Vorhaben überhaupt nicht oder nur unwesentlich verletzt werden darf; erheblich oder wesentlich darf in das Konzept des Normgebers nicht eingegriffen werden (mwN.: Gassner, in: BeckOK Bauordnungsrecht Baden-Württemberg, Stand: 01.11.2021, § 56 LBO Rn. 19). Welcher öffentliche Belang mit der Vorschrift verfolgt werden soll, von der abgewichen werden soll, ist durch Auslegung zu ermitteln. Anschließend ist zu prüfen, ob die Abweichung noch die Erreichung der mit der Norm verfolgten Ziele zulässt (Sauter, LBO Baden-Württemberg, 54. EL 2019, § 56 LBO Rn. 13 und 28 f.). Hierbei ist eine Abwägung vorzunehmen zwischen dem öffentlichen Interesse an der Schaffung zusätzlichen Wohnraums und dem in der Norm verkörperten öffentlichen Interesse, von der abgewichen werden soll (vgl. Sauter, LBO Baden-Württemberg, 54. EL 2019, § 56 LBO Rn. 13; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 03.03.2015 - 3 S 1913/14, juris, Rn. 21; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.01.2010 - 8 S 1977/09, juris, Rn. 15).
56 
Dieses Auslegungsergebnis ergibt sich aus dem Wortlaut der Norm, systematischen und teleologischen Erwägungen sowie der Gesetzgebungshistorie.
57 
Der Wortlaut des § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO verlangt, dass die Abweichungen mit den öffentlichen Belangen „vereinbar“ sein müssen. Vereinbar bedeutet bereits nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, dass etwas aufeinander abgestimmt sein muss; weitere Synonyme sind kombinierbar, zusammenpassend oder auch im Einklang (vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/vereinbar und https://www.duden.de/synonyme/vereinbar). Vereinbar bringt hiernach die Wertung zum Ausdruck, dass zwei Dinge oder Anliegen miteinander möglich sein müssen und sie sich nicht in einem Grad widersprechen dürfen, der nur die Verwirklichung eines Anliegens unter Aufgabe des anderen zulässt. Dass bei Abweichungen stets der Zweck der Norm nicht vereitelt werden darf, von der abgewichen werden soll, folgt auch aus § 56 Abs. 1 LBO und dem Sinn der Abweichungsregelungen in § 56 Abs. 1 und 2 LBO. Nach dem klaren Wortlaut des § 56 Abs. 1 LBO sind Abweichungen von technischen Bauvorschriften zuzulassen, wenn auf andere Weise dem Zweck dieser Vorschriften nachweislich entsprochen wird. Der Gesetzgeber bringt hiermit deutlich zum Ausdruck, dass durch Abweichungen der Normzweck nicht ausgehöhlt werden darf. Dies steht im Einklang mit dem generellen Sinn von Abweichungsvorschriften wie § 56 Abs. 1 und 2 LBO. Gesetzliche Regelungen wie die zahlreichen Anforderungen der oder aufgrund der Landesbauordnung sind stets abstrakt und generell und von daher immer in einem gewissen Umfang unbestimmt und offen. Die Vielgestaltigkeit des Baugeschehens – das die Landesbauordnung regelt – kann dabei wegen der nötigen Allgemeinheit der gesetzlichen Regelungen nicht in allen Einzelfallgestaltungen abgedeckt werden (vgl. Sauter, LBO Baden-Württemberg, 56. EL 2019, § 56 LBO Rn. 1). Die Abweichungsvorschriften sollen die sachgerechte und flexible Handhabung auch atypischer Sachverhalte ermöglichen, ohne den Sinn der Vorschriften zu vernachlässigen, von denen abgewichen werden soll (vgl. Sauter, LBO Baden-Württemberg, 56. EL 2019, § 56 LBO Rn. 1).
58 
Aus der Gesetzgebungshistorie geht die Wertung, dass der Normzweck nicht wesentlich verletzt werden darf, ebenfalls hervor. § 56 Abs. 2 LBO 1995 änderte eine Reihe von Voraussetzungen für Abweichungen im Vergleich zu den Vorgängerregelungen aus § 57 Abs. 2 LBO 1983, § 94 Abs. 1 LBO 1972 sowie § 94 Abs. 1 LBO 1964, ließ aber das Erfordernis der Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen unverändert bestehen. § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO in der heutigen Fassung wurde mit Gesetz vom 19.07.1995 beschlossen, am 08.09.1995 verkündet (GBl BW 1995, S. 617) und trat gem. § 79 LBO 1995 zum 01.01.1996 in Kraft. Mit Inkrafttreten des § 56 Abs. 2 LBO 1995 wurden die Voraussetzungen für eine Abweichung dahin modifiziert, dass – anders als noch nach der Vorgängerregelung in § 57 Abs. 2 LBO 1983 und deren Vorgängerregelungen in § 94 Abs. 1 LBO 1972 und § 94 Abs. 1 LBO 1964 – nun auch von anderen Vorschriften als solchen, die als Regel- oder Soll-Vorschriften aufgestellt sind oder in denen Ausnahmen vorgesehen sind, Abweichungen möglich wurden. Erweitert wurde die Möglichkeit von Abweichungen auch dadurch, dass sie fortan keine Ermessensausübung mehr erforderten. § 56 Abs. 2 LBO enthält dadurch einen allgemeinen gesetzlichen Vorbehalt, unter dessen Voraussetzungen Abweichungen zuzulassen sind, ohne dass es einer atypischen Fallgestaltung oder einer Ermessensausübung bedarf (LT-Drucks. 11/5337, S. 116). Keine Änderung erfuhr dabei das Erfordernis der Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen. Dieses hatte der Gesetzgeber beibehalten, um bauordnungsrechtlich unvertretbare Zustände zu verhindern. Hierzu stellte der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung klar, § 56 Abs. 2 LBO könne nicht zu bauordnungsrechtlich nicht vertretbaren Verhältnissen führen, weil die öffentlichen Belange gewahrt werden müssten (LT-Drucks. 11/5337, S. 116). Wohnungsbauvorhaben im Bestand sollten aber nicht an einzelnen bauordnungsrechtlichen Anforderungen scheitern, die im Hinblick auf die öffentlichen Belange verzichtbar seien (LT-Drucks. 11/5337, S. 116). Bereits zur den Vorgängerregelungen aus § 94 Abs. 1 LBO 1964 und 1972 wurde vertreten, die Abweichung sei mit öffentlichen Belangen dann nicht vertretbar, wenn infolge des Abweichens ein ordnungswidriger Zustand entstehe, der im öffentlichen Interesse wieder beseitigt werden müsse (Schlez, in: Schlez LBO BW, 1. Aufl. 1967, § 94 Rn. 23). Dem lässt sich die Wertung entnehmen, dass durch eine Abweichung jedenfalls nicht wesentlich in den Normzweck der Vorschrift eingegriffen werden darf, von der abgewichen werden soll. Hieran wollte der Gesetzgeber mit der Änderung des § 56 Abs. 2 LBO im Jahre 1995 nichts ändern, indem er das Erfordernis der Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen beibehielt (vgl. LT-Drucks. 11/5337, S. 116).
59 
Nach diesem Maßstab greifen die Abweichungen des Vorhabens des Beigeladenen hinsichtlich der Traufhöhe und der Kniestöcke wesentlich in das normative Konzept der Festsetzungen in Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ zu den Traufhöhen und zu Kniestöcken ein. Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes „Brühl II“ bestimmt ausdrücklich, dass als Traufhöhe im Plangebiet maximal 3,10 m zulässig sind, wobei Kniestöcke über diese Höhe hinaus ausdrücklich nicht zulässig sind. Ausnahmen sieht der Bebauungsplan nicht vor, Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes gilt zudem für das gesamte Plangebiet. Diese Festsetzungen sind – was sich dem Bebauungsplan „Brühl II“ durch Auslegung entnehmen lässt – Bestandteil eines besonderen normativen Konzepts, das mit diesen beiden Festsetzungen sowie den Festsetzungen des Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung (§ 3 und § 4 BauNVO 1968), die Zahl der Vollgeschosse und der versetzten Anordnung der Baukörper zueinander (Baulinien und Baugrenzen) erreicht werden sollte. Der Bebauungsplan „Brühl II“ zielt ersichtlich darauf ab, ein – überwiegend – reines Wohngebiet mit besonderer, einzigartiger Prägung wegen der Anordnung und Dimension der Gebäude im Plangebiet zu schaffen. Die besondere Prägung besteht darin, dass in der Hanglage im Plangebiet ein stark verdichtetes, aber trotzdem sehr ruhiges Wohngebiet, mit versetzt angeordneter, niedriger Bebauung mit nicht oder nur schwer einsehbaren Freiflächen geschaffen wurde. Hierzu heißt es in der Planbegründung, dass die umfassenden Festlegungen des Bebauungsplanes für Sichtschutz und Geländeterrassierungen wegen des hohen Ausnutzungsgrades der Parzellen erforderlich seien. Die vorgesehene Terrassierung der einzelnen Häusergruppen hangaufwärts – die nur erhalten bleibt, wenn die nach dem Bebauungsplan festgesetzten Gebäudehöhen eingehalten werden – solle den einzelnen Gebäuden trotz der schwachen Hanglage eine günstige Aussicht und Besonnung nach Osten und Süden gewähren. Dass dieses normative Konzept des Bebauungsplanes „Brühl II“ besonders ist und ihn von zahlreichen anderen Bebauungsplänen unterscheidet, die in anderen leichten Hanglagen ebenfalls reine Wohngebiete festsetzen, lässt sich ferner daran erkennen, dass die Klägerin für dieses Konzept hinter dem Bebauungsplan Brühl II (und Brühl I) im Landeswettbewerb „...“ im Jahr 1981 den ersten Preis gewonnen hat und als Landessieger in der Gruppe der Gemeinden bis 10.000 Einwohner ausgezeichnet wurde (vgl. GAS 103). Ohne ein solches besonderes normatives Konzept hinter den Festsetzungen des Bebauungsplanes – d.h. „nur“ übliche Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, der überbaubaren Grundstücksfläche und örtlichen Bauvorschriften aus allgemeinen städtebaulichen Gründen heraus – wäre die Klägerin für (u.a.) den Bebauungsplan „Brühl II“ nicht im Landeswettbewerb ausgezeichnet worden; ihr Bebauungsplan hätte sich dann nicht von den übrigen eingereichten Bebauungsplänen zum Thema „…“ abgesetzt.
60 
In das eben beschriebene normative Konzept des Bebauungsplanes „Brühl II“ greifen die Abweichungen des Vorhabens des Beigeladenen hinsichtlich der Traufhöhe und der Kniestöcke wesentlich, und nicht nur in Randbereichen, ein. Dies gilt unabhängig davon, ob für die Bewertung, ob ein wesentlicher Eingriff vorliegt, eine konkrete Betrachtungsweise anzustellen ist, oder eine generelle Betrachtungsweise. Wenn insoweit auf eine konkrete, auf die vorhandene Bebauung bezogene, Betrachtung abzustellen ist, wäre zu überprüfen, wie sich das Vorhaben durch seine Abweichungen auf die Bebauung in der näheren Umgebung auswirkt. Bei Anwendung einer solchen konkreten Betrachtungsweise führt das Vorhaben des Beigeladenen zu einer negativen Vorbildwirkung in der näheren Umgebung und dazu, dass das Gebäude Gladiolenweg 5 künftig von mehr Gebäuden umgeben wäre, die eine Traufhöhe von über 3,10 m und darüber hinausgehende Kniestöcke aufweisen, als von solchen Gebäuden, deren Traufhöhe maximal 3,10 m beträgt. Durch die Auswirkung würde das derzeit noch bestehende tatsächliche Gefüge in der näheren Umgebung des Baugrundstücks zerstört. Auch eine generelle Betrachtungsweise, d.h. allein auf die normativen Regelungen des Bebauungsplanes „Brühl II“ bezogen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Stellt man nur darauf ab, wie sich die Abweichungen des Vorhabens des Beigeladenen zum Regelungskonzept des Bebauungsplanes „Brühl II“ verhalten – ohne Berücksichtigung der Auswirkungen in tatsächlicher Hinsicht auf die Bebauung in der näheren Umgebung – so ist festzuhalten, dass mit den Abweichungen eine Gebäudehöhe ermöglicht wird, die der Bebauungsplan „Brühl II“ gerade verhindern wollte. Ziff. 2.1 des Bebauungsplanes sieht – um die Terrassierung im Plangebiet zu ermöglichen und geschützte private Außenbereiche um die Gebäude zu schaffen – bewusst für das ganze Plangebiet vor, dass die Traufhöhe auf 3,10 m begrenzt ist, ohne Ausnahmen oder darüber hinausgehende Kniestöcke zuzulassen. Die Abweichungen durch das Bauvorhaben des Beigeladenen sind auch nicht unwesentlich, denn die Traufhöhe wird um 0,80 m überschritten, was zusammen mit dem Kniestock des Vorhabens das Dachgeschoss nahezu zu einem zusätzlichen Vollgeschoss werden lässt. Angesichts dieses Verhältnisses zwischen dem öffentlichen Interesse an der Schaffung zusätzlichen Wohnraums durch das Vorhaben des Beigeladenen und dem im Bebauungsplan „Brühl II“ zum Ausdruck kommenden öffentlichen Interesse an der Erhaltung des besonderen Konzepts des Baugebiets Brühl II, war letzterem der Vorzug einzuräumen. Das Gericht berücksichtigt hierbei zusätzlich, dass das Vorhaben des Beigeladenen in Grünkraut liegt, also nicht in einer Gemeinde mit einem besonders stark angespannten Wohnungsmarkt (vgl. § 556d BGB und § 1 Mietpreisbegrenzungsverordnung BW).
61 
Der in der mündlichen Verhandlung gestellte bedingte Beweisantrag des Beklagtenvertreters, die Umgebungsbebauung in Augenschein zu nehmen (vgl. das Protokoll der mündlichen Verhandlung, GAS 163), war abzulehnen.
62 
Einen weiteren Aufklärungsbedarf sieht das Gericht nicht, weswegen die Anordnung einer Beweisaufnahme unterbleibt. Dem in der mündlichen Verhandlung gestellten bedingten Beweisantrag des Beklagtenvertreters, die Umgebungsbebauung in Augenschein zu nehmen (vgl. das Protokoll der mündlichen Verhandlung, GAS 163), wird nicht stattgegeben. Dahinstehen kann dabei, ob der Antrag aufgrund seiner Formulierung ein Beweisantrag ist oder lediglich ein Beweisermittlungsantrag war. Seinem Wortlaut nach ist der Antrag nämlich nicht auf die Feststellung einer Tatsache, sondern auf eine rechtliche Wertung gerichtet („[…] ob die streitgegenständliche Baugenehmigung und die bisher genehmigten Abweichungen mit öffentlichen Belangen im Sinne des § 56 LBO zu vereinbaren sind.“). Wenn man den Antrag des Beklagtenvertreters dahin auslegt, dass durch die Inaugenscheinnahme der Umgebungsbebauung festgestellt werden sollte, dass die Traufhöhen der Gebäude … (Flst. Nr. 748), … (Flst. Nr. 784), … (Flst. Nr. 742), … (Flst. Nr. 791) und … (Flst. Nr. 717) ein Maß von 3,10 m überschreiten und dass diese Gebäude Kniestöcke aufweisen, die über eine Traufhöhe von 3,10 m hinausragen, so konnte die Beweistatsache als wahr unterstellt werden (vgl. schon oben II. 1. a. (3) und II. 1. b. (1)). Der Beweisantrag war daher abzulehnen, § 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 6 StPO analog. Die Ablehnungsgründe für Beweisanträge nach § 244 Abs. 3 S. 3 StPO finden auch im Verwaltungsprozess analog Anwendung (vgl. mwN.: OVG Lüneburg, Beschluss vom 17. Dezember 2021 – 1 LA 91/20 –, juris Rn. 44 und 49). Im Übrigen greift auch der Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit aus § 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 2 StPO analog. Dass die zuvor aufgeführten fünf Gebäude Traufhöhen von mehr als 3,10 m und darüber hinausgehende Kniestöcke aufweisen, führt nämlich nicht dazu, dass der Bebauungsplan „Brühl II“ funktionslos wäre (vgl. oben II. 1. a. (3)), die Abweichungen durch das Vorhaben des Beigeladenen die Grundzüge der Planung nicht mehr berühren könnten (vgl. oben II. 1. b. (1)) oder dass die Abweichungen durch das Vorhaben des Beigeladenen mit den öffentlichen Belangen vereinbar wären. Die Beweistatsache hat daher keinen Einfluss auf das Ergebnis des Verfahrens.
63 
(3) Die Voraussetzungen des § 56 Abs. 5 LBO liegen ebenfalls nicht vor. Die Abweichungen sind nicht mit den öffentlichen Belangen vereinbar.
64 
Nach § 56 Abs. 5 LBO kann von den Vorschriften in den §§ 4 bis 39 dieses Gesetzes oder auf Grund dieses Gesetzes Befreiung erteilt werden, wenn – unter anderem – die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Ob die Abweichung mit öffentlichen Belangen vereinbar ist, beurteilt sich im Ausgangspunkt nach den gleichen Grundsätzen wie im Rahmen des § 56 Abs. 2 LBO (vgl. Gassner, in: BeckOK Bauordnungsrecht Baden-Württemberg, Stand: 01.11.2021, § 56 LBO Rn. 75; Sauter, LBO Baden-Württemberg, 56. EL 2019, § 56 LBO Rn. 51, 13 und 29), wobei zusätzlich aber auch die durch die Abweichung betroffenen nachbarlichen Belange zu würdigen sind. Hierfür sind die Gründe, die eine Befreiung erfordern, mit anderen öffentlichen Belangen unter Würdigung der nachbarlichen Interessen abzuwägen. Dabei ist maßgebend, in welchem Umfang und in welcher Intensität der Nachbar von dem Vorhaben selbst oder von dessen Folgewirkungen beeinträchtigt werden kann (Sauter, LBO Baden-Württemberg, 56. EL 2019, § 56 LBO Rn. 47; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09. Februar 2018 – 5 S 2130/17 –, juris Rn. 16).
65 
Nach diesem Maßstab genießt das im Bebauungsplan „Brühl II“ zum Ausdruck kommende öffentliche Interesse an der Erhaltung des besonderen Konzepts des Baugebiets Brühl II Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an der Schaffung zusätzlichen Wohnraums durch das Vorhaben des Beigeladenen. Dies folgt schon aus der oben (vgl. II. 1. c. (2)) durchgeführten Abwägung ohne zusätzliche Berücksichtigung nachbarlicher Belange. Stellt man zusätzlich nachbarliche Belange in die Abwägung mit ein – etwa die zusätzlichen Einsichtsmöglichkeiten in die privaten Freiflächen der Gebäude Nelkenstraße 1 und Gladiolenweg 3 – so vermag dies das Abwägungsergebnis nicht zu Gunsten des Bauvorhabens zu beeinflussen.
66 
(4) aa. Ob die Baugenehmigung zusätzlich auch wegen der Zahl der Vollgeschosse gegen § 20 Abs. 1 BauNVO i.V.m. § 2 Abs. 6 LBO verstößt, kann offenbleiben. Es kann daher dahinstehen, ob das Dachgeschoss des Vorhabens ein Vollgeschoss ist (§ 2 Abs. 6 S. 3 Nr. 2 LBO) und auch, ob die Flächenberechnung des unter dem Dachgeschoss liegenden Geschosses im Bauantrag zutreffend erfolgt ist und Flächen einbeziehen durfte, die ihrerseits nicht mehr unter dem Dachgeschoss liegen.
67 
bb. Ebenso kann dahinstehen, ob der streitgegenständlichen Baugenehmigung bezüglich der Abweichungen hier die Wartefrist von 5 Jahren nach § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO entgegensteht. Nach dem Wortlaut der Vorschrift und nach der Gesetzesbegründung (LT-Drucks. 11/5337, S. 116 f.) dürfte das eher nicht der Fall sein, sondern läuft die Wartefrist wohl nur einmalig und zwar ab der für die erstmalige Errichtung des Gebäudes erteilten Baugenehmigung. Soweit Sinn und Zweck der Vorschrift aber dahin zu verstehen sein sollten, dass verhindert werden soll, dass in naher zeitlicher Abfolge und scheibchenweise Abweichung um Abweichung genehmigt wird, könnte die Anwendung der Wartefrist auch in anderer Form erfolgen und dann im vorliegenden Fall dem Vorgehen des Beigeladenen und des Beklagten entgegenstehen. Das ursprüngliche Baugesuch vom 28.8.2015 (Erweiterung des Wohnhauses mit 2 Wohnungen um 4 weitere Wohnungen, also um das Doppelte) wurde aufgespalten, damit im ersten Zug am 11.7.2016 dem Beigeladenen die Erweiterung um 2 Wohnungen genehmigt werden konnte. Bereits 2,5 Jahre später, nämlich am 8.2.2019, folgte das nächste, hier streitgegenständliche Baugesuch bezüglich des Dachausbaus und der Erweiterung um 2 weitere Wohnungen.
68 
2. Die Klägerin ist durch die Baugenehmigung vom 28. Juni 2019 in ihren Rechten verletzt.
69 
a. Soweit die erteilten Befreiungen auf § 31 Abs. 2 BauGB beruhen sollten (s.o. unter II. 1. b.), wird die Klägerin in ihrem subjektiven öffentlichen Recht aus § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB verletzt.
70 
b. Soweit die erteilten Ausnahmen auf § 56 Abs. 2 und 5 LBO beruhen sollten, wird die Klägerin in ihrer Planungshoheit verletzt (Art. 28 Abs. 2 GG).
71 
Der Erlass örtlicher Bauvorschriften ist vom Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden, d.h. ihrer Planungshoheit aus Art. 28 Abs. 2 GG, erfasst. Gegen unter Verstoß gegen ihre örtlichen Bauvorschriften erteilte Baugenehmigungen sind sie klagebefugt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.03.2017 – 5 S 2427/15 –, juris Rn. 13 und 19). Örtliche Bauvorschriften beruhen auf Abwägungsprozessen der Gemeinde (vgl. LT-Drucks. 13/4385, S. 11 und 18) und wurden daher vom Landesgesetzgeber Bürgerentscheiden entzogen (§ 21 Abs. 2 Nr. 6 GemO). Hierin kommt die Wertung des Gesetzgebers zum Ausdruck, dass die Planungshoheit der Gemeinden örtliche Bauvorschriften erfasst.
72 
Abweichungen, Ausnahmen und Befreiungen von örtlichen Bauvorschriften unter Verstoß gegen die Voraussetzungen des § 56 LBO verletzen danach die Planungshoheit der betroffenen Gemeinde.
73 
c. Die Klägerin hat ihr subjektives öffentliches Recht aus § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB oder aus Art. 28 Abs. 2 GG auch nicht durch Erteilung ihres Einvernehmens zu den Abweichungen bei anderen Vorhaben im Plangebiet verloren.
74 
Die Gemeinde verliert ihre subjektiven öffentlichen Rechte aus § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB und Art. 28 Abs. 2 GG nicht dadurch, dass sie – wie hier für die Gebäude … (Flst. Nr. 748), … (Flst. Nr. 784), … (Flst. Nr. 742), … (Flst. Nr. 791) und … (Flst. Nr. 717) – bei anderen, früheren Vorhaben ihr Einvernehmen zu Abweichungen oder Befreiungen von ihren bauplanerischen Festsetzungen oder örtlichen Bauvorschriften erteilt. Sähe man dies anders, so könnte sie schon nach einmaliger Erteilung ihres Einvernehmens weitere Abweichungen oder Befreiungen von ihren bauplanerischen Festsetzungen oder örtlichen Bauvorschriften nicht mehr verhindern. Bereits die erste Erteilung ihres Einvernehmens brächte es dann mit sich, dass ihre bauplanerischen Festsetzungen oder örtlichen Bauvorschriften potenziell funktionslos würden, weil sie nachfolgenden Abweichungen oder Befreiungen nicht mehr entgegentreten könnte. Dies würde der verfassungsrechtlich geschützten Planungshoheit nicht hinreichend gerecht.
75 
Die in Art. 28 GG garantierte Planungshoheit der Gemeinde ist vielmehr bei Zulassung einer Abweichung gemäß § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO und bei Beteiligung gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB gleichermaßen zu respektieren und zu schützen. Die Annahme, dass von der Gemeinde eine Verletzung ihrer Planungshoheit durch Zulassung einer Abweichung, die Grundzüge ihrer Planung berührt, im Rahmen des § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO hinzunehmen ist, trifft nicht zu.
76 
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 3 VwGO. Dem Beigeladenen war neben dem Beklagten die Hälfte der Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, da er einen Antrag gestellt hat und mit dem Beklagten unterlegen ist.
77 
4. Von der Möglichkeit, das Urteil für vorläufig vollstreckbar zu erklären, macht das Gericht keinen Gebrauch (§ 167 Abs. 2 VwGO).
78 
5. Die Berufung ist zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 124 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
79 
Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, wenn sie eine in der Rechtsprechung bislang noch nicht geklärte fallübergreifende, verallgemeinerungsfähige Rechts- oder Tatsachenfrage aufwirft, die für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich war und auch für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich und damit klärungsfähig ist, und die im Interesse der Rechtssicherheit, der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung im Berufungsverfahren bedarf (Roth, in: BeckOK VwGO, Stand: 01.01.2022, § 124 VwGO Rn. 53; BVerfG, Kammerentscheidung, Beschluss vom 9. Juni 2016 – 1 BvR 2453/12 = BVerfG NVwZ 2016, 1243 Rn. 20).
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Gemessen hieran enthält die Rechtssache mehrere fallübergreifende, verallgemeinerungsfähige und bislang nicht abschließend geklärte Rechtsfragen. In der Rechtsprechung bislang nicht geklärt ist, unter welchen Voraussetzungen angenommen werden kann, dass eine Abweichung von örtlichen Bauvorschriften mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist (§ 56 Abs. 2 LBO), insbesondere, ob eine Abweichung oder Befreiung nicht wesentlich in das normative Konzept der örtlichen Bauvorschrift eingreifen darf. Entschieden ist im Zusammenhang mit Abweichungen von den Abstandsflächenregelungen in § 5 LBO – nicht aber örtlichen Bauvorschriften – lediglich, dass die Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen eine Abwägungsentscheidung erfordert zwischen dem mit § 56 Abs. 2 Nr. 1 LBO verfolgten öffentlichen Interesse an der Schaffung zusätzlichen Wohnraums und den von § 5 LBO geschützten öffentlichen und privaten Interessen (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 03. März 2015 – 3 S 1913/14 –, juris Rn. 16). Ob dieser Maßstab ohne Weiteres auch für Fälle – wie hier – einer Klage einer Gemeinde gegen die Baugenehmigung unter Abweichungen von örtlichen Bauvorschriften gilt, ist nicht geklärt. Gleiches gilt für die Frage, auf welche Weise die von der örtlichen Bauvorschrift geschützten öffentlichen Belange zu ermitteln sind und inwieweit diese öffentlichen Belange auch in der Planbegründung zum Ausdruck kommen müssen.

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