Beschluss vom Bundesgerichtshof (9. Zivilsenat) - IX ZR 156/14

Tenor

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 15. Zivilsenats in Kassel des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22. Juni 2006 wird auf Kosten des Klägers als unzulässig verworfen.

Der Wert des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde wird auf 84.800 € festgesetzt.

Gründe

I.

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Der Kläger verlangt von der beklagten S.        Zahlung von Masseprovision für die freihändige Veräußerung von zur Masse gehörenden, zugunsten der Beklagten belasteten Grundstücken aufgrund einer Vereinbarung, die die Parteien unterschiedlich auslegen. Seine Klage wurde durch Urteil vom 30. Mai 2005 abgewiesen. Das Berufungsgericht sah weiteren Klärungsbedarf, weswegen die Parteien auf Vorschlag des Gerichts einen widerruflichen Vergleich schlossen. Für den Fall des Widerrufs bestimmte das Gericht einen Verkündungstermin auf den 22. Juni 2006. Der Kläger widerrief den Vergleich. Im Juni 2009 suchte der Prozessbevollmächtigte des Klägers das Berufungsgericht auf, um Akteneinsicht zu nehmen. Dabei stellte er fest, dass ein handschriftlich ausgefülltes und unterschriebenes Verkündungsprotokoll mit dem Datum des 22. Juni 2006 und ein handschriftlicher, unterschriebener Urteilstenor lose bei der Akte lagen. Von diesen Urkunden sind Leseabschriften gefertigt und den Parteien am 11. Februar 2014 zugestellt worden. Am 4. Juli 2014 hat der Kläger Nichtzulassungsbeschwerde gegen dieses Urteil eingelegt und sie am 4. August 2014 begründet.

II.

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Die Nichtzulassungsbeschwerde ist gemäß § 544 Abs. 1 Satz 2 Fall 2, § 544 Abs. 2 Satz 1 Fall 2 ZPO unzulässig. Denn sie wurde nicht innerhalb von sechs Monaten nach der Verkündung des Urteils beim Bundesgerichtshof eingelegt und nicht innerhalb von sieben Monaten nach der Verkündung des Urteils begründet, sondern mehr als sieben Jahre später. Entgegen der Annahme des Klägers waren die Fristen des § 544 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 ZPO am 22. Juni 2006 an- und zum Zeitpunkt des Eingangs der Nichtzulassungsbeschwerde und ihrer Begründung abgelaufen.

3

1. Bei dem Urteil vom 22. Juni 2006 handelt es sich entgegen der Ansicht des Klägers um ein Urteil im Rechtssinne (vgl. BGH, Urteil vom 11. Oktober 1994 - XI ZR 72/94, NJW 1994, 3358). Denn das Urteil ist an diesem Tag wirksam verkündet worden, wie das Protokoll vom 22. Juni 2006 belegt.

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a) Nach § 165 Satz 1 ZPO kann die Beachtung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden. Zu diesen Förmlichkeiten gehört gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO auch die Verkündung des Urteils. Ausweislich des Verkündungsprotokolls vom 22. Juni 2006 wurde in Abwesenheit der Parteien durch den Einzelrichter "anliegendes Urteil verkündet". Damit ist dem Erfordernis des § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO genügt (vgl. BGH, Urteil vom 7. Oktober 1953 - II ZR 208/52, BGHZ 10, 327, 329; BGH, Urteil vom 16. Oktober 1984 - VI ZR 205/83, NJW 1985, 1782, 1783) und gemäß § 165 Satz 1 ZPO die Verkündung des in Bezug genommenen Urteils vom 22. Juni 2006 bewiesen (vgl. BGH, Urteil vom 11. Oktober 1994 - XI ZR 72/94, NJW 1994, 3358). Durch den Verweis auf das anliegende Urteil ist der Bezug zwischen dem Verkündungsprotokoll und dem verkündeten Urteil eindeutig und muss das Verkündungsprotokoll nicht fest mit dem verkündeten Urteil verbunden sein. Denn ein anderes Urteil als das angefochtene findet sich nicht bei den Akten.

5

Es ist unschädlich, dass bis Sommer 2009 das Verkündungsprotokoll und der Entscheidungstenor nicht in die Gerichtsakte eingeheftet und paginiert, sondern lose in die Aktentasche eingelegt waren. In dieser Aktentasche befanden sich noch weitere Papiere, die dem Klägervertreter nicht zur Akteneinsicht ausgehändigt wurden. Eine dienstliche Stellungnahme der Geschäftsstelle, was der Inhalt dieser Papiere war, findet sich nicht bei den Akten, einer solchen bedurfte es auch nicht. Denn der Vorsitzende hat dem Kläger mitgeteilt, dass es sich hierbei um Überstücke von Anwaltsschriftsätzen, Senatsentscheidungen und insbesondere um die Aufzeichnungen der bearbeitenden Richter handele, die nicht Aktenbestandteil sind. Nach dieser Auskunft befand sich keine andere Entscheidung bei den Akten. Das Verkündungsprotokoll kann sich deswegen allein auf das nunmehr in die Gerichtsakte eingegliederte Urteil beziehen. Damit ist eine zweifelsfreie Zuordnung des Verkündungsprotokolls zu dem verkündeten Urteil möglich, ohne dass es auf eine körperliche Verbindung dieser Schriftstücke ankommt (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juli 2004 - XII ZB 12/03, NJW-RR 2004, 1651, 1652).

6

b) Das Berufungsgericht hat bei der Verkündung des angefochtenen Urteils auch nicht mit der Folge gegen unerlässliche Formvorschriften verstoßen, dass das verkündete Urteil als Nichturteil angesehen werden müsste (vgl. MünchKomm-ZPO/Musielak, 4. Aufl., § 310 Rn. 11, 13). Zwar war das angefochtene Urteil entgegen § 310 Abs. 2 ZPO bei der Verkündung nicht in vollständiger Form abgefasst. Doch ist die Verkündung eines Urteils in einem dazu anberaumten Termin auch dann wirksam, wenn das Urteil bei der Verkündung noch nicht in vollständiger Form vorliegt. Denn auch dann, wenn bei einer Verkündung nach § 310 Abs. 2 ZPO Tatbestand und Entscheidungsgründe noch nicht abgesetzt sind, wird nicht ein Entwurf, sondern bereits ein Urteil verkündet (BGH, Beschluss vom 2. März 1988 - IVa ZB 2/88, NJW 1988, 2046). An einer wirksamen Verlautbarung des Urteils fehlt es ferner nicht deshalb, weil das Protokoll vom 22. Juni 2006 nicht ausweist, in welcher der beiden nach § 311 Abs. 2 Satz 1 und 2 ZPO hier möglichen Formen das Urteil verkündet worden ist. Wegen der Gleichwertigkeit beider Verlautbarungsformen reicht es aus, wenn im Protokoll angegeben ist, dass das "anliegende Urteil verkündet" worden ist (vgl. BGH, Urteil vom 11. Oktober 1994 - XI ZR 72/94, NJW 1994, 3358).

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c) Nach § 165 Satz 2 ZPO kann die Beweiskraft der Sitzungsniederschrift nur durch den Nachweis der Protokollfälschung zerstört werden. Eine solche Fälschung liegt vor, wenn eine Feststellung im Protokoll wissentlich falsch getroffen oder ihre Niederschrift nachträglich vorsätzlich gefälscht (§§ 267, 271, 348 StGB) worden ist (MünchKomm-ZPO/Wagner, aaO § 165 Rn. 18). Der ihm obliegende Nachweis einer Protokollfälschung ist dem Kläger nicht gelungen (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 3. März 2004 - VIII ZB, aaO. (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 3. März 2004 - VIII ZB 121/03, BGHReport 2004, 979, 980 f; vom 26. Mai 2010 - XII ZB 205/08, FamRZ 2010, 1326 Rn. 19). Der entscheidende Richter hat in seiner dienstlichen Stellungnahme vom 26. Oktober 2010 bestätigt, das Urteil am 22. Juni 2006 verkündet zu haben, indem er angegeben hat, zum Absetzen der Entscheidungsgründe des aus seiner Sicht rechtskräftigen Urteils sei er wegen der Arbeitsüberlastung nicht gekommen. Schon vor der Akteneinsicht, nämlich im September 2008, hat er zudem der Beklagten die telefonische Auskunft erteilt, die klägerische Berufung zurückgewiesen zu haben. Der Umstand, dass der Klägervertreter im Jahr 2009 Protokoll und Urteilstenor in der Aktentasche vorgefunden hat, belegt eine Fälschung des Protokolls deswegen ebenso wenig wie der Umstand, dass der Richter Sachstandsanfragen nicht beantwortet hat. Dass in der Aktentasche keine andere Entscheidung verwahrt worden ist, ergibt sich aus dem Schreiben des Vorsitzenden vom 25. November 2013.

8

2. Aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20. April 1977 (IV ZR 68/76, BB 1977, 1121) ergibt sich nichts anderes. Nach dieser Entscheidung soll § 517 ZPO (§ 516 ZPO aF), dessen Regelungsgehalt insoweit § 544 Abs. 1 ZPO entspricht, nicht gelten, wenn die durch das Urteil beschwerte Partei im Verhandlungstermin nicht vertreten und zu diesem Termin auch nicht ordnungsgemäß geladen war. Denn dieser Vorschrift liegt der Gedanke zugrunde, dass eine Partei, die vor Gericht streitig verhandelt hat, mit dem Erlass einer Entscheidung rechnen muss; es kann ihr daher zugemutet werden, sich danach zu erkundigen, ob und mit welchem Inhalt eine solche Entscheidung ergangen ist.

9

Der Kläger hat hier jedoch als beschwerte Partei streitig verhandelt und kannte deswegen den angesetzten Verkündungstermin. Zwar hatte das Berufungsgericht Bedenken geäußert, ob die Sache entscheidungsreif sei, der Kläger konnte sich aber nicht sicher sein, dass das Gericht nur einen Hinweis- oder Beweisbeschluss verkünden würde. Denn das Berufungsgericht hat am Schluss der Verhandlung einen "Termin zur Verkündung einer Entscheidung" anberaumt. In einem solchen Fall müssen die Parteien auch mit dem Erlass eines Urteils rechnen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 1983 - III ZB 14/83, VersR 1983, 1082). Nachdem der Verkündungstermin verstrichen war, ohne dass dem Kläger eine Entscheidung zugestellt worden war, hat er nicht alles ihm Zumutbare unternommen, den Inhalt der verkündeten Entscheidung in Erfahrung zu bringen. Vielmehr hat er sich erstmals mit Schriftsatz vom 3. April 2009 - also über anderthalb Jahre nach Ablauf der Rechtsmittelfrist - nach der Entscheidung erkundigt. Deswegen folgt die Unanwendbarkeit von § 544 Abs. 1 und 2 ZPO auch nicht aus dem Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG iVm Art. 20 Abs. 2 GG).

Kayser                      Vill                         Lohmann

                  Pape                  Möhring

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