Beschluss vom Bundesverwaltungsgericht (2. Senat) - 2 B 23/14

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. Oktober 2013 wird aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

1

Die allein auf Verfahrensfehler gestützte Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache gemäß § 69 BDG i.V.m. § 133 Abs. 6, § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen ist.

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1. Der 1969 geborene Beklagte steht als Polizeiobermeister (Besoldungsgruppe A 8 BBesO) im Dienst der Klägerin und wird im Grenzschutz verwendet. Durch rechtskräftigen Strafbefehl verurteilte ihn das Amtsgericht im Jahr 2009 wegen 22 tatmehrheitlich begangener Fälle des Betrugs zu einer Gesamtgeldstrafe von 150 Tagessätzen. Ausweislich der tatsächlichen Feststellungen im Strafbefehl hatte der Beklagte im Internet Mobiltelefone versteigert, obwohl er weder willens noch in der Lage war, diese auch zu liefern. Nach Zahlung zweier Raten hat der Beklagte Privatinsolvenz angemeldet und den Strafrest als Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt.

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Im nachfolgenden Disziplinarverfahren wurde der Beklagte wegen dieses Pflichtenverstoßes sowie der Ausübung ungenehmigter Nebentätigkeiten aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Der Verwaltungsgerichtshof ging dabei zwar davon aus, dem Beklagten müsse zugute gehalten werden, dass er zur Zeit der Tathandlungen an einem depressiven Symptom gelitten habe. Die entlastenden Gesichtspunkte hätten in ihrer Gesamtwürdigung aber kein ausreichendes Gewicht, um von der Verhängung der Höchstmaßnahme absehen zu können.

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2. Die hiergegen gerichtete Verfahrensrüge hat Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hätte den in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag, den behandelnden Facharzt als sachverständigen Zeugen zum Schweregrad des angenommenen depressiven Symptoms zu vernehmen, nicht mit der Begründung ablehnen dürfen, hierüber liege bereits ein gerichtliches Sachverständigengutachten vor, das der Beklagte nicht mit Argumenten in Frage stellen könne.

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Nach § 58 Abs. 1 BDG hat das Gericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. Bestehen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Schuldfähigkeit des Beamten bei Begehung der Tat erheblich gemindert war, so darf das Tatsachengericht im Rahmen seiner Bemessungsentscheidung diesen Aspekt nicht offen lassen oder zu Gunsten des Betroffenen unterstellen und sogleich auf die Einsehbarkeit der betreffenden Pflicht abstellen. Vielmehr muss es die Frage einer Minderung der Schuldfähigkeit des Beamten aufklären. Hat der Beamte zum Tatzeitpunkt an einer krankhaften seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB gelitten oder kann eine solche Störung nach dem Grundsatz „in dubio pro reo" nicht ausgeschlossen werden und ist die Verminderung der Schuldfähigkeit des Beamten erheblich, so ist dieser Umstand bei der Bewertung der Schwere des Dienstvergehens mit dem ihm zukommenden erheblichen Gewicht heranzuziehen. Bei einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit kann die Höchstmaßnahme regelmäßig nicht mehr ausgesprochen werden (Urteil vom 25. März 2010 - BVerwG 2 C 83.08 - BVerwGE 136, 173 = Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 11, jeweils Rn. 29 ff.; Beschlüsse vom 20. Oktober 2011 - BVerwG 2 B 61.10 - juris Rn. 9 und vom 11. Januar 2012 - BVerwG 2 B 78.11 - juris Rn. 5).

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Die Frage, ob die Verminderung der Steuerungsfähigkeit aufgrund einer krankhaften seelischen Störung „erheblich" war, ist zwar eine Rechtsfrage, die die Verwaltungsgerichte in eigener Verantwortung zu beantworten haben (Urteil vom 29. Mai 2008 - BVerwG 2 C 59.07 - juris Rn. 30 § 70 BDG Nr. 3>). Als Vorfrage muss indes geklärt werden, ob der Beamte im Tatzeitraum an einer Krankheit gelitten hat, die seine Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, vermindert hat. Erst wenn die seelische Störung und ihr Schweregrad feststehen oder nach dem Grundsatz „in dubio pro reo" nicht ausgeschlossen werden können, kann beurteilt werden, ob die Voraussetzungen für eine erheblich geminderte Schuldfähigkeit vorliegen (Beschluss vom 4. Juli 2013 - BVerwG 2 B 76.12 - juris Rn. 20 = DokBer 2014, 32).

7

Hierzu bedarf es in der Regel besonderer ärztlicher Sachkunde. Für die in Rede stehenden medizinischen Fachfragen gibt es keine eigene, nicht durch entsprechende medizinische Sachverständigengutachten vermittelte Sachkunde des Richters (vgl. Urteil vom 25. Juli 2013 - BVerwG 2 C 12.11 - BVerwGE 147, 244 = Buchholz 232.01 § 9 BeamtStG Nr. 1, jeweils Rn. 11 und zuletzt etwa Beschluss vom 26. Mai 2014 - BVerwG 2 B 69.12 - juris Rn. 10 = IÖD 2014, 172). Demgemäß hat der Verwaltungsgerichtshof seine Feststellungen zum gesundheitlichen Zustand des Beklagten und einer hieraus folgenden Einschränkung seiner Schuldfähigkeit auf die Feststellungen und Erläuterungen eines gerichtlich bestellten Gutachters gestützt.

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Über die Einholung eines weiteren Gutachtens entscheidet das Gericht nach seinem Ermessen (§ 3 BDG, § 98 VwGO i.V.m. § 412 Abs. 1 ZPO). Die unterlassene Einholung zusätzlicher Gutachten kann deshalb nur dann verfahrensfehlerhaft sein, wenn die vorliegenden Gutachten ihren Zweck nicht zu erfüllen vermögen, dem Gericht die zur Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts erforderliche Sachkunde zu vermitteln und ihm dadurch die Bildung der für die Entscheidung notwendigen Überzeugung zu ermöglichen. Liegen dem Gericht bereits sachverständige Äußerungen zu einem Beweisthema vor, muss es ein zusätzliches Gutachten deshalb nur ausnahmsweise einholen (Beschluss vom 29. Mai 2009 - BVerwG 2 B 3.09 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 5 Rn. 7 m.w.N.).

9

Angesichts der Tatsache, dass nur der behandelnde Facharzt zeitnah zum maßgeblichen Tatzeitraum April/Mai 2008 persönlichen Kontakt mit dem Beklagten hatte, der sich am 11. Juni 2008 erstmals bei ihm vorstellte, hätte sich dem Verwaltungsgerichtshof eine persönliche Vernehmung des Facharztes als sachverständigen Zeugen indes aufdrängen müssen (Beschluss vom 4. Juli 2013 - BVerwG 2 B 76.12 - a.a.O. Rn. 24; vgl. zur Bedeutung der persönlichen Befragung durch den Gutachter auch Beschluss vom 3. Juni 2014 - BVerwG 2 B 105.12 - juris Rn. 43). Dies gilt umso mehr, als der Sachverständige im Rahmen der Erläuterung seines Gutachtens angegeben hatte, Aussagen über den Verlauf des depressiven Syndroms vor dem ersten Vorstellungstermin seien aufgrund des schriftlichen Arztbriefes nicht möglich. Die Stellungnahme sage nichts über den Schweregrad der depressiven Erkrankung in diesem Zeitraum aus (Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof S. 2). Denn damit lag eine ausreichende Tatsachenbasis für die vom Verwaltungsgerichtshof zu treffende Einschätzung der „Erheblichkeit" einer vorhandenen Minderung der Steuerungsfähigkeit im maßgeblichen Zeitpunkt nicht vor.

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Auch der Sachverständige hat nicht ausgeschlossen, dass eine Vernehmung des den Beklagten damals (und im Folgenden) behandelnden Facharztes weitere Erkenntnisse erbringen könnte. Die Einschätzung, regelmäßig könne sich ein Facharzt für in der Vergangenheit liegende Anamnesen auch nur auf seine schriftlichen Unterlagen stützen, bedeutet nicht, dass dies auch im vorliegenden Fall so sein muss. Die prognostizierte Wahrscheinlichkeit des voraussichtlichen Ergebnisses einer Beweisaufnahme rechtfertigt indes nicht deren Unterlassung (Beschluss vom 15. März 2013 - BVerwG 2 B 22.12 - NVwZ-RR 2013, 557 Rn. 11). Im Übrigen erscheint durchaus naheliegend, dass der behandelnde Facharzt über den dem Sachverständigen vorliegenden Arztbrief hinaus weitere schriftliche Unterlagen zum damaligen Befund besitzt.

11

Jedenfalls durfte der Verwaltungsgerichtshof nicht von der Erfolglosigkeit weiterer Aufklärungsbemühungen ausgehen, ohne den behandelnden Facharzt - ggf. zumindest zunächst in einer schriftlichen Voranfrage - hierzu um Auskunft gebeten zu haben. Ohne eine entsprechende Aussage des behandelnden Arztes kann nicht ausgeschlossen werden, dass durch ihn weitere Erkenntnisse zum Ausmaß der im Tatzeitpunkt bestehenden seelischen Störung gewonnen werden können. Die Ablehnung des Beweisantrages verletzt daher sowohl den Anspruch des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO) als auch die gerichtliche Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

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