Beschluss vom Finanzgericht Hamburg (3. Senat) - 3 K 225/14
Tatbestand
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A. Zu entscheiden ist über einen in der mündlichen Verhandlung vom 23. April 2015 vom Kläger zu 1. gegen die Einzelrichterin gestellten Befangenheitsantrag wegen behaupteter Hinweispflicht-Verletzung im vorangegangenen Klageverfahren 3 K 20/14 gegenüber ihm als auch damaligen Kläger zu 1.
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Und zwar habe die Einzelrichterin ihn damals unzureichend über den zu stellenden Klageantrag beraten, nämlich im Hinblick auf Feststellung der Nichtigkeit oder der Rechtswidrigkeit. Bei richtiger Beratung hätte er die Feststellung als rechtswidrig beantragt und hätte die Einzelrichterin ihm Recht geben müssen.
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[...]
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(Anmerkung: Zur Veröffentlichung bestimmt sind nur die Einleitungssätze zu A vor Punkt I und die Gründe zu B)
Entscheidungsgründe
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B. Das auf Befangenheit gestützte Ablehnungsgesuch ist unzulässig und im Übrigen auch unbegründet; demgemäß bleibt es bei der Zuständigkeit der Einzelrichterin als gesetzliche Richterin gemäß Gerichts- und Senats-Geschäftsverteilungen nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) i. V. m. §§ 4, 5, 6 FGO, §§ 21e, 21g Gerichtsverfassungsgesetz (GVG).
I.
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Der Befangenheitsantrag ist unzulässig, weil der Kläger, sollte er ein Ablehnungsrecht gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i. V. m. § 42 Zivilprozessordnung (ZPO) gehabt haben, dieses jedenfalls nach § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i. V. m. § 43 ZPO verloren hätte.
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1. Gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i. V. m. § 42 Abs. 1 und 2 ZPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen.
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2. Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i. V. m. § 43 ZPO kann eine Partei einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit nicht mehr ablehnen bzw. ist das Ablehnungsgesuch unzulässig, wenn sie sich bei ihm, ohne den ihr bekannten Ablehnungsgrund geltend zu machen, in eine Verhandlung eingelassen oder Anträge gestellt hat. Zweck dieser Regelung ist, den Ablehnungsberechtigten zu veranlassen, sich sofort nach Kenntnis eines Befangenheitsgrundes zu entscheiden, ob er sich darauf berufen will oder nicht. Ob ein Richter am Verfahren mitwirken darf, soll nicht in der Schwebe bleiben (BFH, Beschluss vom 06.07.2005 II R 28/02, BFH/NV 2005, 2027, Juris Rz. 17; Urteil vom 23. Mai 2000 VIII R 20/99, BFH/NV 2000, 1359, Juris Rz. 22; Beschluss vom 29.03.2000 I B 96/99, BFH/NV 2000, 1130, Juris Rz. 11).
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a) Die Tatbestandsmerkmale "in eine Verhandlung eingelassen" oder "Anträge gestellt" werden weit ausgelegt (BFH-Beschluss vom 20.12.2000 XI R 34/99, BFH/NV 2001, 797, Juris Rz. 7).
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Auf das finanzgerichtliche Verfahren ist wegen der Möglichkeiten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid (§ 79a Abs. 2, § 90a Abs. 1 FGO) nicht die für den Zivilprozess vertretene Auffassung zu übertragen, dass die Einreichung eines - Sachvortrag enthaltenden - Schriftsatzes mit der Einlassung in eine mündliche Verhandlung nur gleichgesetzt werden könne, wenn das schriftliche Verfahren (vgl. § 90 Abs. 2 FGO) stattfinde bzw. nach § 128 Abs. 2 ZPO angeordnet worden sei (FG Hamburg, Beschluss vom 09.04.2014 3 K 240/13, n. v.; entgegen BGH-Beschluss vom 16.01.2014 XII ZB 377/12, NJW-RR 2014, 382).
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b) Ein Einlassen in eine Verhandlung bedeutet - zumindest im Finanzprozess - jedes prozessuale und der Erledigung des Rechtsstreits unter Mitwirkung des abgelehnten Richters dienende Handeln. Darunter fallen
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aa) die Abgabe einer mündlichen oder telefonischen Erklärung zur Sache gegenüber dem Richter (BFH Beschluss vom 21. Juli 1993 IX B 50/93, BFH/NV 1994, 50) oder die Teilnahme an einem Erörterungstermin oder an einer Verhandlung (Beschlüsse BFH vom 24.02.2002 I B 134/01, BFH/NV 2002, 1310, nachgehend BVerfG vom 23.10.2002 1 BvR 626/02, Juris; FG Hamburg vom 14.06.2005 II 169/04, EFG 2005, 1626, DStRE 2005, 1365; BFH vom 12.08.1998 III B 23/98, BFH/NV 1999, 476; ständ. Rspr.);
so hier die zunächst rügelose Teilnahme am Verhandlungstermin der Einzelrichterin am 23. April 2015 einschließlich der rügelosen Erklärungen vor dem späteren Ablehnungsgesuch (oben A II 9);
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bb) oder/und die Äußerung zur Sache mittels Einreichung eines unterzeichneten Schriftsatzes (vgl. oben a; BFH-Beschlüsse vom 18.03.2013 VII B 134/12, BFH/NV 2013, 1102; vom 6. Juli 2005 II R 28/02, BFH/NV 2005, 2027, Juris Rz. 10; vom 29. März 2000 I B 90/99, BFH/NV 2000, 1221, Juris Rz. 10; jetzige ständ. Rspr.; insges. Schoenfeld in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 51 FGO Rz. 83; Änderung der Rechtsprechung entgegen früher BFH-Beschluss vom 04.07.1985 V B 3/85, BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555);
so hier die Einreichung der Schriftsätze vom 18. November 2014, vom 20. (eingeg. 24.) März, vom 26. März, unter dem 26. März korrigiert (eingeg. 1. April) und vom 17. April (oben A II 5, 8).
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c) "Gestellte Anträge" im Sinne von § 43 ZPO sind - zumindest im Finanzprozess - auch schriftliche Sachanträge und Prozessanträge (BFH, Beschluss vom 06.07.2005 II R 28/02, BFH/NV 2005, 2027, Juris Rz. 17; Urteil vom 23. Mai 2000 VIII R 20/99, BFH/NV 2000, 1359, Juris Rz. 23; Beschluss vom 29.03.2000 I B 96/99, BFH/NV 2000, 1130, Juris Rz. 111; jetzige ständ. Rspr.; Schoenfeld in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 51 FGO Rz. 84; Änderung der Rechtsprechung entgegen BFH-Beschluss vom 04.07.1985 V B 3/85, BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555);
so hier die verschiedenen Anträge in der Klagebegründung vom 18. November 2014 sowie in den Schriftsätzen vom 20 (eingeg. 24.) März und vom 17. April (oben A II 5, 8).
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d) Das Ablehnungsrecht geht nach § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i. V. m. § 43 ZPO unabhängig davon verloren, ob oder inwieweit
- einerseits die Kenntnis des - angeblichen - Ablehnungsgrunds, hier
aus dem Vorprozess vor der Einzelrichterin 3 K 20/14,
- oder andererseits die jetzige Einlassung oder Antragstellung, hier
- sowohl gegenüber der Berichterstatterin und Richterin im Senat
- als auch gegenüber der Einzelrichterin,
sich auf die Mitwirkung im Senat oder auf die Funktionen als Berichterstatter oder Einzelrichter beziehen. Nach dem Grundsatz der Individualablehnung ist nicht nur das Ablehnungsgesuch selbst, sondern auch der Verlust des Ablehnungsrechts auf die Person des individuellen Richters bezogen; seine Funktion im Spruchkörper oder Senat ist dabei unerheblich (BFH-Beschluss vom 29.03.2000 I B 90/99, BFH/NV 2000, 1221, Juris Rz. 12).
II.
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Im Übrigen ist der Befangenheitsantrag auch unbegründet.
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1. Aus dem Ablehnungsgesuch ergibt sich kein Grund zur Ablehnung der Einzelrichterin wegen Besorgnis der Befangenheit; das heißt nach § 51 Abs. 1 FGO i. V. m. § 42 Abs. 2 ZPO liegt kein Grund vor, der geeignet wäre, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der Richterin zu rechtfertigen. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der ablehnende Beteiligte von seinem Standpunkt aus bei vernünftiger objektiver Betrachtung Anlass hätte, die Voreingenommenheit der abgelehnten Richterin zu befürchten (vgl. Beschlüsse BFH vom 21.12.2009 V R 10/09, HFR 2010, 959; vom 25.08.2009 V S 10/07, BFHE 226, 109, BStBl II 2009, 1019; BVerfG vom 5. April 1990 2 BvR 413/88, BVerfGE 82, 30, 37 f.).
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2. Insbesondere ergeben sich keine Anhaltspunkte für die gerügte Befangenheit dadurch, dass die Einzelrichterin ihrer gesetzlichen Hinweispflicht nicht nachgekommen wäre (vgl. § 76 Abs. 2, § 92 Abs. 3 i. V. m. § 6 FGO); und zwar bei dem aufgrund fairen Verfahrens gebotenen Hinwirken auf sachdienliche Klageanträge (vgl. Beschlüsse OLG Köln vom 09.06.2004 2 W 46/04, OLGR Köln 2005, 53, Juris; vom 15.03.1993 6 W 7/93, NJW-RR 1993, 1277).
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a) Bereits objektiv widerlegt ist der Vorwurf, die Einzelrichterin habe den Kläger zu 1. durch unzureichende Hinweise von einem - seines Erachtens erfolgversprechenden - Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit abgehalten.
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aa) Wie bereits in der dienstlichen Äußerung der Einzelrichterin berichtet sowie im Protokoll und im Tatbestand des Urteils vom 9. Dezember 2014 3 K 20/14 wiedergegeben, wurden sämtliche Feststellungsanträge kumulativ auf Feststellung der Nichtigkeit und der Rechtswidrigkeit gerichtet, so dass kein Anlass für den laut Ablehnungsgesuch vermissten zusätzlichen Hinweis bestand.
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bb) Damit übereinstimmend wurde im Urteil über jeden Feststellungsantrag unter den Gesichtspunkten sowohl der Nichtigkeit als auch alternativ der Rechtswidrigkeit entschieden.
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b) Davon abgesehen ließe sich selbst in Fällen möglicher Verfahrensverstöße oder Hinweispflichtfehler aus diesen eine Befangenheitsbesorgnis nicht schon bei sachlicher Prozessführung herleiten (vgl. FG Hamburg, Beschlüsse vom 22.05.2014 3 K 207/13, Juris; vom 11.03.2011 3 V 15/11, Juris; vom 02.10.2007 3 K 17/07, EFG 2008, 398); sondern nur bei - hier weder behaupteten noch ersichtlichen - zusätzlichen Anhaltspunkten für eine Willkür oder unsachliche Einstellung des Richters (BFH-Beschlüsse vom 21.11.1991 VII B 53-54/91, BFH/NV 1992, 526, vom 05.09.1989 VII B 65/89, BFH/NV 1990, 310).
III.
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1. Die Entscheidung ergeht in der nach § 51 Abs. 1 FGO, § 45 Abs. 1 ZPO - i. V. m. FG-Geschäftsverteilungsplan Teil 2 zu D 2 - auch für die Ablehnung eines Einzelrichters vorgesehenen Senatsbesetzung (vgl. Müller-Horn in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 6 FGO Rz. 50 m. w. N.)
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2. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen, da es sich bei der Entscheidung über das Ablehnungsgesuch um ein unselbständiges Zwischenverfahren handelt (BFH-Beschluss vom 23.10.2007 XI B 110/07, BFH/NV 2008, 235).
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3. Die Unanfechtbarkeit folgt aus § 128 Abs. 2 FGO.
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Referenzen
- FGO § 6 3x
- ZPO § 42 Ablehnung eines Richters 2x
- 2002 I B 134/01 1x (nicht zugeordnet)
- 2013 VII B 134/12 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 128 Grundsatz der Mündlichkeit; schriftliches Verfahren 1x
- 2 W 46/04 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 43 Verlust des Ablehnungsrechts 4x
- FGO § 128 1x
- FGO § 90 1x
- ZPO § 45 Entscheidung über das Ablehnungsgesuch 1x
- FGO § 51 9x
- 2 BvR 413/88 1x (nicht zugeordnet)
- 2007 XI B 110/07 1x (nicht zugeordnet)
- Urteil vom Finanzgericht Hamburg (3. Senat) - 3 K 240/13 1x
- 2009 V S 10/07 1x (nicht zugeordnet)
- 1998 III B 23/98 1x (nicht zugeordnet)
- 2000 VIII R 20/99 2x (nicht zugeordnet)
- FGO § 4 1x
- 2009 V R 10/09 1x (nicht zugeordnet)
- 3 V 15/11 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 5 1x
- 2000 I B 90/99 2x (nicht zugeordnet)
- 6 W 7/93 1x (nicht zugeordnet)
- 2000 XI R 34/99 1x (nicht zugeordnet)
- 1 BvR 626/02 1x (nicht zugeordnet)
- 2005 II 169/04 1x (nicht zugeordnet)
- 1985 V B 3/85 2x (nicht zugeordnet)
- 2005 II R 28/02 3x (nicht zugeordnet)
- 2014 XII ZB 377/12 1x (nicht zugeordnet)
- 2000 I B 96/99 2x (nicht zugeordnet)
- 3 K 17/07 1x (nicht zugeordnet)
- 1993 IX B 50/93 1x (nicht zugeordnet)
- 1989 VII B 65/89 1x (nicht zugeordnet)
- Urteil vom Finanzgericht Hamburg (3. Senat) - 3 K 207/13 1x
- FGO § 90a 1x
- 3 K 20/14 3x (nicht zugeordnet)