Urteil vom Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern (5. Kammer) - 5 Sa 208/19

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 11.09.2019 – 4 Ca 461/19 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung sowie zweier nachfolgender außerordentlicher Kündigungen.

2

Der im September 19… geborene Kläger absolvierte eine Ausbildung zum Sozialversicherungsfachangestellten und nahm am 01.08.2009 bei der beklagten Krankenkasse eine Außendiensttätigkeit auf. Die Beklagte ist eine bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts, bei der ständig mehr als 10 Vollzeitbeschäftigte ausschließlich der Auszubildenden tätig sind. Nach dem Arbeitsvertrag vom 22.07.2009 soll der Kläger neue Mitgliedschaften in seinem Zuständigkeitsbereich akquirieren. Daneben hatte er die Aufgabe, Bestandskunden zu beraten und die Beklagte auf Messen und Veranstaltungen zu präsentieren.

3

Der Kläger ist verheiratet und 4 Kindern im Alter von 2, 15, 19 und 23 Jahren (Stand: September 2019) unterhaltspflichtig. Die monatliche Vergütung betrug zuletzt rund € 3.600,- brutto bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden.

4

Der Vorstand der Beklagten verfasste am 28.01.2019 eine schriftliche Organisationsentscheidung zum Kundenservice, der zufolge die klassische Aufteilung in Außen- und Innendienst aufgegeben werden soll und die Stellen der Kundenberater im Außendienst spätestens zum 01.04.2019 gestrichen werden sollen. Mit Schreiben vom 30.01.2019 unterrichtete die Beklagte den Kläger von der Vorstandsentscheidung.

5

Die Beklagte beschäftigte zuletzt 15 Arbeitnehmer als Kundenberater im Außendienst. Sechs davon werden als Kundenberater weiterbeschäftigt. Eine freie Stelle als Kundenberaterin am Standort A-Stadt erhielt Frau B.. Bei der Auswahl zwischen ihr und dem Kläger legte die Beklagte folgendes Punkteschema zugrunde:

6

Dauer der Betriebszugehörigkeit

1 Punkt je 10 Jahre

Lebensalter

1 Punkt je 10 Jahre ab 20. Lebensjahr

Unterhaltspflichten

2,0 Punkte je Kind bis zum 6. Lebensjahr
1,5 Punkte je Kind vom 7. - 12. Lebensjahr

Schwerbehinderung

1 Punkt GdB 50 zuzüglich 1 Punkt je weiterer 10 GdB

7

Dem Kläger gestand die Beklagte danach insgesamt 4 Punkte zu. Frau B., die seit 25 Jahren beschäftigt, 53 Jahre alt und kinderlos ist, erhielt 5 Punkte.

8

Die am Standort W. zu besetzende Kundenberaterstelle übertrug die Beklagte Frau H.. Die Beklagte wandte diesmal folgendes Punkteschema an:

9

Dauer der Betriebszugehörigkeit

wie oben

Lebensalter

wie oben

Unterhaltspflichten

2,0 Punkte je Kind bis zum 18. Lebensjahr

Schwerbehinderung

wie oben

10

Die Beklagte errechnete beim Kläger 4 Punkte, bei Frau H., die seit 25 Jahren beschäftigt, 51 Jahre alt ist und ein Kind unter 18 Jahren hat, 7 Punkte.

11

Am 12.03.2019 unterrichtete die Beklagte den Personalrat über die beabsichtigte Kündigung des Klägers. Beigefügt war eine Tabelle zur Auswahlentscheidung zwischen dem Kläger und Frau H.. Bei beiden Mitarbeitern war jeweils 1 Kind aufgeführt. Der Personalrat widersprach der Kündigung unter Hinweis auf die Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl mangels Einbeziehung der bisherigen Kundenberater im Innendienst und verschiedener anderer Beschäftigter.

12

Am 26.03.2019 gab die Beklagte eine Personal-Information zur Modernisierung der Aufbauorganisation heraus. Dort sagt der Vorstand zu, mit der geplanten Umorganisation keinen Personalabbau zu verbinden, und verweist auf den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen aus Gründen der Umstrukturierung.

13

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 27.03.2019, zugegangen am 29.03.2019, ordentlich zum 30.09.2019 wegen des organisationsbedingten Wegfalls der Tätigkeit als Kundenberater im Außendienst. Zugleich stellte sie den Kläger ab 01.04.2019 unter Anrechnung auf Urlaubsansprüche und Mehrarbeitsstunden von der Arbeit frei, jedoch unter dem Vorbehalt, die Freistellung bei Bedarf zu unterbrechen.

14

Diese Kündigung hat der Kläger mit seiner am 11.04.2019 beim Arbeitsgericht eingegangenen Kündigungsschutzklage angegriffen.

15

Mit Schreiben vom 27.05.2019, dem Kläger zugegangen am 28.05.2019, widerrief die Beklagte die Freistellung und ordnete den Kläger mit sofortiger Wirkung an das Service-Center in S. zur Unterstützung des Kundenservice ab. Die Einzelheiten sollte der Kläger mit der Hauptabteilungsleiterin P. abstimmen. Das Service-Center S. ist mehr als 200 km von dem bisherigen Arbeitsort des Klägers und seinem Wohnort entfernt. Der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, lehnte eine Arbeitsaufnahme in S. noch am 28.05.2019 gegenüber der Beklagten wegen Unzumutbarkeit ab und kündigte eine Klage gegen diese Abordnung an.

16

Mit Schreiben vom 29.05.2019, dem Kläger zugegangen am Freitag, 31.05.2019, widerrief die Beklagte die Abordnung in das Service-Center S. mit sofortiger Wirkung und ordnete den Kläger, ebenfalls mit sofortiger Wirkung, in das Service-Center W. ab. Die Einzelheiten sollte der Kläger wiederum mit der Hauptabteilungsleiterin P. abstimmen.

17

Der Kläger versuchte am Montag, 03.06.2019, Frau P. telefonisch zu erreichen, konnte aber nur mit ihrem Assistenten sprechen. Nachdem Frau P. am Dienstagmorgen, 04.06.2019, zurückgerufen hatte, nahm der Kläger noch am selben Tag die Arbeit in W. auf.

18

Mit Schreiben vom 07.06.2019 unterrichtete die Beklagte den Personalrat über die beabsichtigte außerordentliche Kündigung des Klägers wegen unentschuldigten Fehlens im Zeitraum 29.05. bis 03.06.2019. In der Rubrik "Persönliche Daten" ist die Anzahl der Kinder mit 3 angegeben, davon 2 volljährig. Der Personalrat widersprach der Kündigung unter dem 12.06.2019 und bezog sich zur Begründung auf die Anweisung der Beklagten an den Kläger, vorher mit der Hauptabteilungsleiterin Kontakt aufzunehmen.

19

Mit Schreiben vom 13.06.2019, dem Kläger zugegangen am 18.06.2019, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich wegen unentschuldigten Fehlens in der Zeit vom 29.05. bis 03.06.2019.

20

Im Juli 2019 befand sich auf der Homepage der Beklagten eine Stellenausschreibung für Kundenberater (m/w/d) in Mecklenburg-Vorpommern mit einer Bewerbungsfrist bis zum 31.10.2019.

21

Mit Schreiben vom 20.08.2019, dem Kläger zugegangen am 21.08.2019, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis nochmals außerordentlich wegen eigenmächtiger Urlaubsnahme in der Zeit vom 29.05. - 02.06.2019.

22

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, dass sowohl die beiden außerordentlichen Kündigungen als auch die ordentliche Kündigung unwirksam seien. Er habe keine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis verletzt. Die Abordnung nach S. sei unwirksam gewesen. Vom 29.05. - 02.06.2019 sei er in einem seit längerem geplanten Urlaub gewesen. Den Urlaubswunsch für diesen Zeitraum habe er bereits mit E-Mail vom 17.12.2018 mit seinen Kolleginnen B. und H. abgestimmt und seinem Vorgesetzten K. zur Kenntnis gegeben, der dem nicht widersprochen habe. Die außerordentliche Kündigung vom 20.08.2019 sei schon deshalb unwirksam, weil die Beklagte die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten habe. Im Übrigen fehle es aber auch an einer Pflichtverletzung.

23

Die ordentliche Kündigung sei nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. Der Vorstand verhalte sich widersprüchlich, wenn er in einer Personal-Information einerseits betriebsbedingte Kündigungen ausschließe, sie aber kurz darauf dennoch ausspreche. Fehlerhaft sei jedenfalls die Sozialauswahl, da die Beklagte die Kundenberater in A-Stadt, P., L. und L. ebenso wenig einbezogen habe wie die Key-Account-Manager MV und die Netzwerke-Manager Setting in A-Stadt und L.. Darüber hinaus sei das angewandte Punkteschema grob unbillig, da es die Beschäftigungszeit beim Kläger überhaupt nicht berücksichtige.

24

Im Übrigen hat der Kläger hinsichtlich der Kündigungen vom 13.06. und 27.03.2019 bestritten, dass die Beklagte den Personalrat jeweils ordnungsgemäß beteiligt habe.

25

Der Kläger hat erstinstanzlich zuletzt beantragt

26

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 13.06.2019 nicht aufgelöst worden ist, sondern zu ungeänderten Bedingungen fortbesteht,

27

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 20.08.2019 nicht aufgelöst worden ist, sondern zu ungeänderten Bedingungen fortbesteht,

28

3. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 27.03.2019 nicht zum 30.09.2019 oder zu einem anderen Zeitpunkt aufgelöst worden ist, sondern zu ungeänderten Bedingungen fortbesteht,

29

4. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Kündigungsschutzanträge zu den bisherigen Arbeitsbedingungen als Kundenbetreuer im Außendienst weiterzubeschäftigen.

30

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, die Kündigungen seien wirksam. Da der Kläger unentschuldigt gefehlt bzw. eigenmächtig Urlaub genommen habe, seien die außerordentlichen Kündigungen berechtigt. Die ordentliche Kündigung sei durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. Die Beklagte habe die unternehmerische Entscheidung getroffen, künftig nicht mehr nach Kundenberatern im Innen- und im Außendienst zu unterscheiden, sondern nur noch Kundenberater zu beschäftigen. Die Personal-Information vom 26.03.2019 beziehe sich auf eine ganz andere Umstrukturierung, nämlich die Neugliederung der Beklagten in 4 Unternehmensbereiche. Anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten habe es nicht gegeben. Die Stellenausschreibung habe lediglich der Sondierung des Bewerbermarktes gedient. Die Sozialauswahl sei ordnungsgemäß. Aufgrund von Zumutbarkeitsgesichtspunkten seien nur Arbeitsplätze im Umkreis von maximal 75 km einzubeziehen. In diesem Umkreis habe es nur die beiden genannten Kundenberaterinnen im Außendienst gegeben. Da die organisatorische Änderung die bisherigen Kundenberater im Innendienst nicht betroffen habe, seien diese nicht in die Sozialauswahl einzubeziehen.

31

Das Arbeitsgericht hat der Klage mit Urteil vom 11.09.2019, der Beklagten zugestellt am 08.10.2019, in vollem Umfang entsprochen. Die beiden außerordentlichen Kündigungen seien unwirksam, weil kein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB vorliege. Ein wichtiger Grund könne sich beispielsweise aus einer beharrlichen Arbeitsverweigerung ergeben. Davon könne beim Kläger nicht die Rede sein. Die Abordnung nach S. habe die Beklagte schon einen Tag später wieder rückgängig gemacht. Den Dienst in W. habe der Kläger erst nach vorheriger Abstimmung mit der Hauptabteilungsleiterin antreten können. Die Hauptabteilungsleiterin habe sich aber erst am 04.06.2019 beim Kläger gemeldet, woraufhin dieser unverzüglich die Arbeit angetreten habe. Der Kläger habe sich weisungsgemäß verhalten. Die ordentliche Kündigung vom 27.03.2019 zum 30.09.2019 scheitere an der fehlerhaften Sozialauswahl. Die Beklagte habe die Unterhaltspflichten des Klägers nur zum Teil berücksichtigt. Abgesehen davon seien die Kündigungen nach § 79 Abs. 4 BPersVG unwirksam, weil die Beklagte den Personalrat nicht ausreichend unterrichtet habe. Die Anzahl der unterhaltspflichtigen Kinder sei nicht korrekt dargestellt.

32

Am 14.10.2019 schlossen die Parteien rückwirkend zum 24.09.2019 den folgenden Änderungsvertrag:

33

"11. Nachtrag zum Arbeitsvertrag         

        

zwischen der

        

       

        

und     

        

       

        

wird folgender Nachtrag zum Arbeitsvertrag vom 22.07.2009,

in Gestalt des 5. Nachtrags vom 26.08.2020, zuletzt geändert durch den 10. Nachtrag vom 19.06.2017, geschlossen:

        

§ 1 Abs. 1 wird ab dem 24.09.2019 wie folgt gefasst:

        

Herr A. wird als Vollziehungsbeamter im Unternehmensbereich III in A-Stadt eingesetzt.

        

§ 2 Abs. 1 des Arbeitsvertrages wird ab sofort wie folgt neu gefasst:

        

Solange die I. N. durch den Abschluss von Haustarifverträgen tarifgebunden ist, finden diese Haustarifverträge in ihrer jeweils gültigen Fassung Anwendung; …

        

…"    

34

Der Kläger arbeitet seit dem 24.09.2019 wieder, ohne dass dem eine Androhung der Zwangsvollstreckung aus dem arbeitsgerichtlichen Urteil vorausging. Vergütungsrückstände aus dem Jahr 2019 glich die Beklagte zwischenzeitlich aus.

35

In ihrer fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung geht die Beklagte weiterhin von einer Wirksamkeit der Kündigungen aus. Der Kläger habe seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt, indem er den Dienstantritt in S. verweigert und den Dienst in W. verspätet angetreten habe. Urlaub habe die Beklagte ihm in diesem Zeitraum nicht gewährt, wie eine Rücksprache mit dem Vorgesetzten des Klägers, Herrn K., ergeben habe. Nach Kenntnis dieses Sachverhalts habe die Beklagte innerhalb von 2 Wochen das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 20.08.2019 wegen eigenmächtiger Urlaubsnahme außerordentlich gekündigt.

36

Die Personalratsanhörungen seien ordnungsgemäß. Selbst wenn dem Personalrat weitere unterhaltspflichtige Kinder mitgeteilt worden wären, hätte es an der Auswahlentscheidung nichts geändert. Da der Kläger seinen volljährigen Töchtern tatsächlich keinen Unterhalt leiste, seien diese nicht zu berücksichtigen. Bei der Personalratsanhörung vom 07.06.2019 zur außerordentlichen Kündigung habe die Beklagte deshalb sogar zu viele Unterhaltspflichten angegeben.

37

Die Beklagte beantragt,

38

das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 11.09.2019 – 4 Ca 461/19 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

39

Der Kläger beantragt,

40

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

41

Er verteidigt zunächst die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Unabhängig davon fehle es aber schon deshalb an der für eine außerordentliche Kündigung erforderlichen Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung, weil die Beklagte den Kläger seit dem 24.09.2019 von sich aus wieder beschäftige. Offensichtlich gebe es Beschäftigungsmöglichkeiten, was die betriebsbedingte Kündigung in Frage stelle.

42

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.

Entscheidungsgründe

43

Die Berufung der Beklagten ist zwar zulässig, aber nicht begründet.

44

Die Kündigungen entfalten – unabhängig von Verstößen gegen § 626 BGB, § 1 KSchG oder § 79 BPersVG – bereits deshalb keine Rechtswirkung mehr, weil die Parteien nach Ausspruch der Kündigungen einen Änderungsvertrag zur unbefristeten Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses geschlossen haben. Mit dem 11. Nachtrag vom 14.10.2019 haben sie das am 01.08.2009 begründete Arbeitsverhältnis einvernehmlich über die Kündigungstermine hinaus fortgesetzt.

45

Die Arbeitsvertragsparteien können aufgrund der grundrechtlich geschützten Vertragsfreiheit (dazu z. B. BAG, Urteil vom 22. Januar 2019 – 9 AZR 328/16 – Rn. 33, juris = NZA 2019, 835) ein gekündigtes oder anderweitig endendes Arbeitsverhältnis durch ausdrückliche oder stillschweigende Vereinbarung einvernehmlich verlängern (BAG, Urteil vom 11. November 1966 – 3 AZR 214/65 – Rn. 43, juris = AP Nr. 117 zu § 242 BGB Ruhegehalt). Ein solcher Verlängerungsvertrag fällt nicht in den Anwendungsbereich des § 625 BGB, sondern geht der dort geregelten gesetzlichen Fiktion vor (vgl. BAG, Urteil vom 11. November 1966 – 3 AZR 214/65 – Rn. 43, juris = AP Nr. 117 zu § 242 BGB Ruhegehalt; Müller-Glöge/ErfK, 20. Aufl. 2020, § 625, Rn. 1). Danach gilt ein Dienstverhältnis, das nach dem Ablauf der Dienstzeit von dem Verpflichteten mit Wissen des anderen Teiles fortgesetzt wird, als auf unbestimmte Zeit verlängert, sofern nicht der andere Teil unverzüglich widerspricht.

46

Aus einer Verlängerungs- oder Fortsetzungsvereinbarung kann sich ergeben, dass eine vorangegangene Kündigung keine Rechtswirkung mehr entfalten soll, auch wenn dies nicht ausdrücklich erwähnt ist. Eine vorbehaltlose, unbefristete, nahtlose Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den vorgesehenen Beendigungszeitpunkt hinaus unter Rückgriff auf den ursprünglichen Arbeitsvertrag ist regelmäßig nicht mit einer zeitgleichen Beendigung in Einklang zu bringen. Fortsetzung und Beendigung zum selben Zeitpunkt schließen einander aus.

47

Möglich ist es aber, während eines laufenden Kündigungsschutzprozesses ausdrücklich oder konkludent zu vereinbaren, dass das Arbeitsverhältnis auflösend bedingt durch die rechtskräftige Abweisung der Kündigungsschutzklage oder befristet bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens fortgesetzt wird (BAG, Urteil vom 17. Januar 1991 – 8 AZR 483/89 – Rn. 26, juris = NZA 1991, 769). Durch eine solche Weiterbeschäftigungsvereinbarung schaffen die Parteien für die Beschäftigung des Arbeitnehmers nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Kündigungsschutzklage eine arbeitsvertragliche Grundlage (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 247/19 – Rn. 20, juris).

48

Was die Parteien gewollt habe, ist durch Auslegung der entsprechenden Vereinbarungen zu ermitteln. Nach §§ 133, 157 BGB sind Verträge so auszulegen, wie die Parteien sie nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte verstehen mussten. Dabei ist zunächst vom Wortlaut auszugehen. Zur Ermittlung des wirklichen Parteiwillens sind darüber hinaus die außerhalb der Vereinbarung liegenden Umstände einzubeziehen, soweit sie einen Schluss auf den Sinngehalt der Erklärung zulassen. Ebenso sind die bestehende Interessenlage und der mit dem Rechtsgeschäft verfolgte Zweck zu berücksichtigen (BAG, Urteil vom 27. Mai 2020 – 5 AZR 101/19 – Rn. 14, juris = NZA 2020, 1131).

49

Der 11. Nachtrag zum Arbeitsvertrag der Parteien vom 22.07.2009 bestimmt zwar nicht ausdrücklich, dass die Beklagte die Kündigungen vom 13.06., 20.08. und 27.03.2019 zurücknimmt oder aus ihnen keine Rechte mehr herleitet. Die Kündigungen sind dort nicht erwähnt. Die Regelungen des 11. Nachtrags gelten aber auch nicht nur für einen bestimmten Zeitraum, etwa bis zum Ablauf der Kündigungsfrist am 30.09.2019 oder bis zum Abschluss des Kündigungsschutzprozesses. Die Parteien haben die Weiterbeschäftigung nicht in irgendeiner Weise von dem laufenden Kündigungsschutzprozess abhängig gemacht. Der Kündigungsschutzprozess ist dort nicht angesprochen. Eine auflösende Bedingung bei rechtskräftiger Abweisung der Kündigungsschutzklage oder eine Befristung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens ist nicht vereinbart. Der Vertrag enthält keinerlei Bedingungen oder Vorbehalte bezüglich der Kündigungen oder des Rechtsstreits.

50

Die Parteien haben den Änderungsvertrag nach dem erstinstanzlichen Obsiegen des Klägers und nach Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist geschlossen. Der Kläger war zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses am 14.10.2019 bereits mehrere Wochen wieder beschäftigt. Das Vertragsangebot der Beklagten konnte er nur dahingehend verstehen, dass dieser Zustand verstetigt und der Streit um die Beendigung damit beigelegt werden sollte. Die Parteien haben gerade kein neues Arbeitsverhältnis vereinbart, sondern ausdrücklich auf den ursprünglichen Arbeitsvertrag vom 22.07.2009 nebst früherer Nachträge Bezug genommen. Da die Beklagte eine neue Einsatzmöglichkeit für den Kläger gefunden hatte und gewillt war, ihn zu beschäftigen, gab es zudem keinen Grund mehr für eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Die einvernehmliche und nahtlose Fortsetzung des am 01.08.2009 begründeten Arbeitsverhältnisses mit dem Nachtrag vom 14.10.2019 ergibt nur dann einen Sinn, wenn dieses Arbeitsverhältnis nicht bereits zuvor geendet hat. Der nunmehr vereinbarten Fortsetzung des ursprünglichen Arbeitsverhältnisses mit all seinen Nachträgen widerspräche es, zugleich an einer Beendigung zu den Kündigungszeitpunkten festzuhalten. Der 11. Nachtrag zum Arbeitsvertrag geht ersichtlich davon aus, dass die vorherigen Kündigungen keine Rechtswirkung mehr entfalten und das Arbeitsverhältnisses ununterbrochen fortbesteht. Eine Bezugnahme auf die bisherigen Arbeitsbedingungen ist nur möglich, wenn diese noch bestehen und nicht beendet sind.

51

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Rechtsstreit wirft keine entscheidungserheblichen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.

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