Urteil vom Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz (5. Kammer) - 5 Sa 377/12

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 19.07.2012 - 10 Ca 3793/11 - aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Urlaubskonto der Klägerin weitere 10 Arbeitstage Resturlaub aus dem Jahr 2010 gutzuschreiben.

Die Beklagte hat die Kosten beider Rechtszüge zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien des vorliegenden Rechtsstreits streiten darüber, ob der Klägerin aus dem Jahr 2010 noch ein tariflicher Mehrurlaubsanspruch von zehn Arbeitstagen zusteht.

2

Die Klägerin ist bei der Beklagten seit 1997 als Produktionsmitarbeiterin gegen ein Einkommen von zuletzt im Durchschnitt 2.700,00 EUR brutto monatlich tätig. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der unter anderem mit dem Verband der Metall- und Elektroindustrie Rheinland-Rheinhessen e.V. in Z-Stadt vereinbarte und für die Betriebe der Metall- und Elektroindustrie in Rheinland-Pfalz geltende Manteltarifvertrag vom 20.07.2005 Anwendung. Der MTV enthält zum Urlaubsanspruch u. a. folgende Regelung:

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"15
Urlaubsanspruch

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1. Jeder Beschäftigte hat in jedem Jahr Anspruch auf bezahlten Urlaub. Das Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr. …

5

3. Der Urlaub soll der Erholung dienen. Während des Urlaubs darf keine dem Erholungszweck widersprechende Erwerbsarbeit ausgeübt werden. Bei einem Urlaubsanspruch von mindestens 15 Arbeitstagen soll bei Urlaubsteilung einer der Urlaubsteile mindestens zehn aufeinander folgende Arbeitstage umfassen. Davon kann abgewichen werden, wenn das Interesse des Beschäftigten oder die Belange des Betriebes dies erforderlich machen.

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4. Der Anspruch auf den vollen Jahresurlaub entsteht erstmalig nach einer sechsmonatigen Betriebszugehörigkeit (Wartezeit). …

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6. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, dem ausscheidenden Beschäftigten eine Bescheinigung darüber auszustellen, ob und in welcher Höhe im laufenden Urlaubsjahr Urlaub erteilt worden ist. Der Beschäftigte ist verpflichtet, diese Bescheinigung bei der Einstellung vorzulegen. Für die Monate, für die der bisherige Arbeitgeber den Urlaubsanspruch über den Rahmen der Ziff. 5 Abs. 1 hinaus erfüllt hat, besteht gegen den neuen Arbeitgeber kein Anspruch.

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7. Der Urlaubsanspruch, soweit er über den gesetzlichen Urlaubsanspruch hinausgeht, entfällt, wenn der Beschäftigte wegen unerlaubter Handlung oder beharrlicher Arbeitsverweigerung Grund zur fristlosen Entlassung gibt oder ohne gerechtfertigten Grund das Arbeitsverhältnis vorzeitig beendet. Falls der Arbeitgeber von der Verwirkung Gebrauch macht, ist damit zugleich ein etwaiger Schadensersatzanspruch gegen den Beschäftigten aus der fristlosen oder vertragswidrigen Auflösung des Arbeitsverhältnisses abgegolten.

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8. Der Urlaubsanspruch, auch ein Teilanspruch, erlischt mit Ablauf des Kalenderjahres.

10

Falls aber der Urlaub während des Kalenderjahres aus betrieblichen oder persönlichen Gründen nicht gewährt und in Anspruch genommen wurde, muss er im ersten Vierteljahr des folgenden Jahres gewährt und in Anspruch genommen werden.

11

§ 16
Urlaubsdauer

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1. Die Dauer des Jahresurlaubs beträgt 30 Arbeitstage.

13

3. Die Urlaubsdauer wird durch Kurz- oder Mehrarbeit des Betriebes nicht beeinflusst.

14

4. Bei unbezahlter Freistellung von der Arbeit tritt für den ersten Monat der Freistellung keine Kürzung des Urlaubsanspruchs ein. Für jeden weiteren vollen Monat einer unbezahlten Freistellung wird der Gesamturlaubsanspruch des freigestellten Beschäftigten um 1/12 gekürzt. Als Monat im Sinne dieser Bestimmung gelten 25 aufeinander folgende Werktage (einschließlich der Samstage).

15

5. Bruchteile von Urlaubstagen, die mindestens einen halben Tag ergeben, sind volle Urlaubstage aufzurunden. …"

16

Die Klägerin war von Juni 2010 bis August 2011 arbeitsunfähig erkrankt. Sie konnte deshalb ihren Jahresurlaub für das Kalenderjahr 2010 in Höhe von 30 Arbeitstagen nicht in Anspruch nehmen. Von der Beklagten wurden ihr deshalb 20 Arbeitstage Urlaub auf ihrem Urlaubskonto gutgeschrieben. Die Gutschrift von 10 weiteren Tagen für den tariflichen Mehrurlaub der Klägerin aus dem Kalenderjahr 2010 hat die Beklagte im Oktober 2011 abgelehnt.

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Die Klägerin hat vorgetragen,

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ihr Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub aus dem Jahr 2010 sei nicht verfallen.

19

Die Klägerin hat beantragt,

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die Beklagte zu verurteilen, ihrem Urlaubskonto für das Jahr 2011 weitere zehn Tage Resturlaub aus dem Jahr 2010 gutzuschreiben.

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Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

23

Die Beklagte hat vorgetragen,
die anwendbare tarifvertragliche Regelung schließe den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch aus.

24

Das Arbeitsgericht Koblenz hat die Klage darauf hin durch Urteil vom 19.07.2012 - 10 Ca 3793/11 - abgewiesen. Hinsichtlich des Inhalts von Tatbestand und Entscheidungsgründen wird auf Bl. 35 bis 39 d. A. Bezug genommen.

25

Gegen das ihr am 06.08.2012 zugestellte Urteil hat die Klägerin durch am 23.08.2012 beim Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt. Sie hat die Berufung durch am 06.11.2012 beim Landesarbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz begründet, nach dem zuvor auf ihren begründeten Antrag hin die Frist zur Einreichung der Berufungsbegründung durch Beschluss vom 08.10.2012 bis zum 06.11.2012 einschließlich verlängert worden war.

26

Die Klägerin wiederholt ihr erstinstanzliches Vorbringen und hebt insbesondere hervor, vorliegend könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Tarifvertragsparteien in der maßgebenden Tarifnorm hinsichtlich der Befristung und Übertragung und damit mittelbar auch zugleich bezüglich des Verfalls des Urlaubs von § 7 Abs. 3 BUrlG eine abweichende, eigenständige Regelung getroffen hätten. Denn von geringfügigen Abweichungen in der Formulierung abgesehen, werde die gesetzliche Regelung des § 7 Abs. 3 BUrlG übernommen, sei also gerade keine abweichende eigenständige Regelung gegeben. Dies folge ohne weiteres aus dem Wortlaut des § 15 Nr. 8 MTV. Eine ausdehnende Auslegung aufgrund der Regelung in § 15 Ziffer 7 MTV sei nicht statthaft. Insgesamt finde sich in den §§ 15 bis 17 MTV - abgesehen von § 15 Ziffer 7 MTV - keine Unterscheidung zwischen einem gesetzlichen und einem tariflichen Urlaubsanspruch.

27

Zur weiteren Darstellung der Auffassung der Klägerin wird auf die Berufungsbegründungsschrift vom 06.11.2012 (Bl. 57 bis 62 d. A.) nebst Anlagen (Bl. 63 bis 137 d. A.) Bezug genommen.

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Die Klägerin beantragt,

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das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 19.07.2012 - 10 Ca 3793/11 - abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Urlaubskonto der Klägerin weitere 10 Arbeitstage Resturlaub aus dem Jahr 2010 gutzuschreiben,

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hilfsweise,

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festzustellen, dass der Klägerin aus dem Jahr 2010 noch ein Resturlaubsanspruch von 10 Arbeitstagen zusteht.

32

Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

34

Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vorbringens und hebt insbesondere hervor, in § 15 Nr. 7 MTV werde ausdrücklich zwischen tariflichem und gesetzlichem Urlaubsanspruch unterschieden. Insgesamt enthalte das tarifliche Urlaubsregime im MTV im Vergleich zu den gesetzlichen Regelungen eine eigenständige Regelung. Dieses enthalte einerseits sowohl Regelungen des gesetzlichen Urlaubsrechts (§ 15 Nr. 1, 2, 3, 4, 5, § 16 Nr. 2, 5, 6, 7) aber auch wesentlich weitergehende Regelungen über das gesetzliche Urlaubsrecht hinaus (§ 15 Nr. 5, 6, 7, § 16 Nr. 1, 2, 3, 4, 6, § 17). Hervorzuheben sei insbesondere die eigenständige Berechnung des Urlaubsanspruchs in § 15 Nr. 5, die Regelung des Entstehens des Urlaubsanspruchs im laufenden Kalenderjahr gem. § 15 Nr. 5, der Wegfall des übergesetzlichen Urlaubsanspruchs gem. § 15 Nr. 7, weiterhin § 16 Nr. 1, 2, 4. Damit sei von der Tarifgeschichte, vom Wortlaut und vom Tarifzusammenhang her davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien der Metall- und Elektroindustrie in den tariflichen Regelungen ein eigenständiges Urlaubsregime geschaffen hätten.

35

Zur weiteren Darstellung der Auffassung der Beklagten wird auf die Berufungserwiderungsschrift vom 03.12.2012 (Bl. 143, 144 d. A.) Bezug genommen.

36

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der Schriftsätze der Parteien, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, sowie die zu den Akten gereichten Schriftstücke verwiesen.

37

Schließlich wird Bezug genommen auf das Sitzungsprotokoll vom 14.01.2013.

Entscheidungsgründe

I.

38

Das Rechtsmittel der Berufung ist nach §§ 64 Abs. 1, 2 ArbGG statthaft. Die Berufung ist auch gem. §§ 64 Abs. 6, 66 Abs. 1 ArbGG in Verbindung mit §§ 518, 519 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

II.

39

Das Rechtsmittel der Berufung hat auch in der Sache Erfolg.

40

Denn die Klägerin kann gegen der Auffassung des Arbeitsgerichts die Verurteilung der Beklagten verlangen, ihrem Urlaubskonto für das Jahr 2011 weitere 10 Tage als Urlaub aus dem Jahr 2010 gutzuschreiben.

41

Bedenken gegen die Zulässigkeit des Klageantrags im Hinblick auf die notwendige inhaltliche Bestimmtheit bestehen im Hinblick auf BAG 16.12.2008 - 9 AZR 164/08 - EzA § 7 BUrlG Nr. 120 trotz der unter Umständen insoweit durch BAG 12.04.2011 - 9 AZR 80/10 - EzA § 7 BUrlG Nr. 123 geäußerten Bedenken vorliegend nicht.

42

Ist der Arbeitnehmer über das Ende des Kalenderjahres und über den Übertragungszeitraum gem. § 7 Abs. 3 BUrlG hinaus fortdauernd arbeitsunfähig erkrankt, so verfällt sein Mindesturlaubsanspruch nach dem BUrlG entgegen § 7 Abs. 3 BUrlG aufgrund europarechtlicher Vorgaben nicht schon am 31.03. des Folgejahres. Das folgt jedenfalls für die Fälle der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit aus einer gemeinschaftskonformen Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG im Hinblick auf Art. 7 Abs. 2 Rl 2003 - 88 (vgl. BAG 24.03.2009 EzA § 7 BUrlG Abgeltung Nr. 15, 04.05.2010 EzA § 7 BUrlG Abgeltung Nr. 17; vgl. Dörner/Luczak/Wildschütz, Handbuch des Fachanwalts Arbeitsrecht, 10. Aufl. 2012, Kapitel 3 Rndnr. 2147 ff). Denn internationale Gerichte müssen das interstaatliche Recht soweit wie möglich so auslegen, dass das mit einer Richtlinie festgelegte Ergebnis zu erreichen ist und so Artikel 288 Abs. 3 AEUV beachtet wird. Dieser Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts verlangt auch, dass das nationale Gericht das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt (EuGH 05.10.2004 EzA EG-Vertrag 1999 Richtlinie 93 - 104 Nr. 1). Weil dies auch im Urlaubsrecht maßgeblich ist, ist mit dem BAG (24.03.2009 a. a. O.) davon auszugehen, dass gesetzliche Urlaubsansprüche nicht erlöschen, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums erkrankt und deswegen arbeitsunfähig ist. Das entspricht Wortlaut, Systematik und Zweck der staatlichen Regelung, wenn die Ziele des Artikel 7 Abs. 1, 2 RL 2003 - 88 - EG und der regelmäßig anzunehmende Wille des nationalen Gesetzgebers zur ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien berücksichtigt werden (BAG 24.03.2009 a. a. O.). Es handelt es sich insoweit um eine richtlinienkonforme teleologische Reduktion der zeitlichen Grenzen des § 7 Abs. 3 S. 1, 3, 4 BUrlG in Fällen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des jeweiligen Übertragungszeitraums.

43

Allerdings ist in diesem Zusammenhang zwischen dem gesetzlichen und dem darüber hinausgehenden tarif- und einzelvertraglichen Urlaub zu unterscheiden. Denn Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten im Sinne des Artikel 7 Abs. 1 RL 2003 - 88 - EG sind zwar auch Tarifbestimmungen. Sie stehen dieser Vorschrift an sich ebenso partiell entgegen wie das Gesetz, wenn sie Urlaubsansprüche befristen, allerdings kann das Gemeinschaftsrecht nur den gesetzlichen Teil des Urlaubs - mittelbar - betreffen, denn der tarifliche, den gesetzlichen Rahmen übersteigende Urlaub fällt nicht in Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Insoweit muss also der Arbeitnehmer den Verfall des überschüssigen Urlaubs bei fortdauernder Erkrankung u. U. hinnehmen, denn die Tarifvertragsparteien können für den nicht unionsrechtlich verbürgten Teil des Urlaubs (Mehrurlaub) regeln, dass der Arbeitnehmer das Risiko der Inanspruchnahme bis zu einem von ihnen festgelegten Zeitpunkt trägt. Vorraussetzung ist aber, dass die Auslegung ergibt, dass der Tarifvertrag vom grundsätzlichen Gleichlauf zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub abweicht, also eigenständige Regelungen trifft. Das ist dann der Fall, wenn er entweder zwischen gesetzlichem Urlaub und tariflichem Mehrurlaub unterscheidet, oder sowohl für Mindest- als auch Mehrurlaub wesentlich von § 7 Abs. 3 BUrlG abweichende Übertragungs- und Verfallsregeln bestimmt (BAG 12.04.2011 EzA § 7 BUrlG Nr. 123; Dörner/Luczak/Wildschütz, a. a. O., Rndnr. 2148). Anders ist es aber dann, wenn die Tarifauslegung ergibt, dass die Tarifvertragsparteien in allen Details den von ihnen vereinbarten Urlaub an das Schicksal des gesetzlichen Urlaubs anbinden wollten. Ergibt die Auslegung allein eine Anbindung an das Gesetz, so geht der vertragliche Anspruch ebenso wenig wie der gesetzliche im Fall dauerhafte Erkrankung unter; andernfalls bleibt nur der gemeinschaftsrechtlich abgesicherte Urlaub erhalten (BAG 24.03.2009 a. a. O.; LAG Rheinland-Pfalz 19.08.2010 ZTR 2011, 98). Wenn also eine arbeitsvertragliche Urlaubsregelung keinerlei Anhaltspunkte dafür enthält, dass die Arbeitsvertragsparteien den vertraglichen oder tariflichen Mehrurlaub vom gesetzlichen Mindesturlaub abkoppeln wollten, ist davon auszugehen, dass auch der übergesetzliche Mehrurlaub nicht bei Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit am 31.03. des Folgejahres erlischt (BAG 04.05.2010 EzA § 7 BUrlG Abgeltung Nr. 17; LAG Schleswig-Holstein 17.02.2010 LAGE § 7 BUrlG Abgeltung Nr. 24).

44

Auch wenn die Tarifvertragsparteien im Übrigen zwar nicht ausdrücklich zwischen dem gesetzlichen, unionsrechtlich gewährten Mindesturlaub von 4 Wochen und dem tariflichen Mehrurlaub differenzieren, sich jedoch mit der tarifvertraglichen Regelung hinreichend deutlich vom gesetzlichen Fristenregime in § 7 Abs 3 BUrlG gelöst haben, in dem sie die Übertragung und den Verfall des Urlaubsanspruchs eigenständig geregelt haben, hindert dies die Annahme eines "Gleichlaufs" des gesetzlichen Mindesturlaubs und des tariflichen Mehrurlaubs, so dass der Mehrurlaub unter den tarifvertraglich geregelten Voraussetzungen verfällt (vgl. BAG 22.05.2012 - 9 AZR 575/10 -).

45

Vorliegend ist entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts eine im Hinblick auf den Streitgegenstand rechtlich relevante Differenzierung zwischen dem unionsrechtlich verbürgten, gesetzlichen Mindesturlaub und dem tariflichen Mehrurlaub nicht festzustellen, also vielmehr von einem "Gleichlauf" im zuvor beschriebenen Sinne auszugehen. Das ergibt die Auslegung der hier maßgeblichen Vorschriften der § 15 bis 17 MTV.

46

Gemäß § 4 Abs. 1 TVG geltende Rechtsnorm eines Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluss oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, unmittelbar und zwingend zwischen den beiden Tarifgebundenden. Tarifverträge sind deshalb nicht entsprechend §§ 153, 157 BGB, sondern wie Gesetze auszulegen (BAG 12.09.1984 EzA § 1 TV Auslegung Nr. 14; 12.10.2005 EzA § 611 BGB 2002 Gratifikation, Prämie Nr. 17; vgl. Dörner/Luczak/Wildschütz, a. a. O., Kapitel 1 Rndnr. 318 ff; Kapitel 11 Rndnr. 121 ff). Bei der Auslegung ist zunächst vom Wortlaut auszugehen. Dabei ist der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften. Soweit der Tarifwortlaut nicht eindeutig ist, ist der in den tariflichen Normen zum Ausdruck kommende wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mitzuberücksichtigen. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können ohne Bindung an eine Rheinfolge weitere Kriterien, z. B. die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die praktische Tarifübung, ergänzend herangezogen werden. Lässt sich auch anhand dieser anerkannten Auslegungsgesichtspunkte kein eindeutiges Auslegungsergebnis gewinnen, so gebietet es der Gesichtspunkt der Normenklarheit, letztlich der Auslegung den Vorzug zu geben, die bei einem unbefangenen Durchlesen der Regelung, d. h. ohne Rückgriff auf die anerkannten Auslegungsmethoden und Auslegungsgesichtspunkte, als näherliegend erscheint und folglich von den Normadressaten typischer Weise als maßgeblich empfunden wird (BAG 22.04.2010 NZA 2011, 1293; Dörner/Luczak/Wildschütz, a. a. O., Kapitel 1 Rndnr. 318).

47

Unter Heranziehung dieser Auslegungsgrundsätze ist vorliegend mit der Klägerin davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien für die hier maßgebliche Fallkonstellation keine eigenständige tarifliche Regelung für den über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehenden Mehrurlaub getroffen haben. Das folgt bereits aus dem Wortlaut der tariflichen Regelung des § 15 Nr. 8 MTV, indem hinsichtlich der Befristung und der Übertragung des Urlaubs gerade nicht zwischen gesetzlichem Mindest- und Mehrurlaub differenziert wird. Damit haben sich die Tarifvertragsparteien es MTV nicht vom gesetzlichen Fristenregime gelöst. Sie haben lediglich, von geringfügigen Abweichungen in der Formulierung abgesehen, inhaltlich die gesetzliche Regelung in § 7 Abs. 3 BUrlG übernommen und folglich nicht die Befristung und Übertragung des Urlaubsanspruchs abweichend vom BUrlG eigenständig geregelt. Etwas anderes folgt insoweit auch nicht aus § 15 Nr. 7 MTV. Denn diese ohnehin nur auf seltene Anwendungsfälle beschränkte Ausnahmevorschrift ändert nichts daran, dass die Tarifvertragsparteien gerade im Übrigen im Gesamtzusammenhang der §§ 15 ff MTV durchweg nicht zwischen dem gesetzlichen und dem tariflichem Urlaubsanspruch unterscheiden. Im Wege systematischer Auslegung spricht diese Regelung eher für einen Umkehrschluss dahin, dass es gerade im Übrigen, vom Anwendungsfall des § 15 Nr. 7 MTV abgesehen, bei einem Gleichlauf von gesetzlichem und zeitlichem (Mehr-) Urlaub sein Bewenden haben soll. Von daher ist es nicht statthaft, dem Inhalt des § 15 Nr. 8 MTV allein wegen der tariflichen (Ausnahme-)Regelung in § 15 Nr. 7 MTV eine andere, vom Wortlaut des Tarifvertrages keineswegs gedeckte Bedeutung beizumessen.

48

Folglich ist mit der Klägerin entgegen der Auffassung der Beklagten davon auszugehen, dass die Klageforderung vollumfänglich begründet ist.

49

Das Berufungsvorbringen der Beklagten rechtfertigt keine abweichende Beurteilung des hier maßgeblichen Lebenssachverhalts. Denn es enthält zum einen keinerlei neue, nach Inhalt, Ort, Zeitpunkt und beteiligten Personen substantiierte Tatsachenbehauptungen, die ein abweichendes Ergebnis rechtfertigen könnten. Nichts anderes gilt für etwaige Rechtsbehauptungen. Es macht lediglich deutlich, dass die Beklagte - aus ihrer Sicht verständlich - die Auffassung des Arbeitsgerichts, der die Kammer aus den dargestellten Gründen nicht zu folgen vermag, teilt; weitere Ausführungen sind folglich nicht veranlasst.

50

Nach alledem war die angefochtene Entscheidung auf die Berufung der Klägerin aufzuheben und der Klage vollumfänglich stattzugeben.

51

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

52

Für eine Zulassung der Revision war angesichts der gesetzlichen Kriterien des § 72 ArbGG keine Veranlassung gegeben.

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