Beschluss vom Landgericht Freiburg - 2 Qs 56/12

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Freiburg vom 11.04.2012 (31 Cs 90 Js 1341/11) aufgehoben.

Dem Angeklagten wird auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einlegung des Einspruchs gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts Freiburg vom 12.09.2011 (31 Cs. 90 Js 1341/11) gewährt.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.

Gründe

 
I.
Das Amtsgericht Freiburg erließ am 12.09.2011 gegen den Angeklagten einen Strafbefehl (31 Cs 90 Js 1341/11) wegen des Tatvorwurfs des Diebstahls in Tateinheit mit Untreue in zwei Fällen. Gegen den Angeklagten, dem vorgeworfen wurde, die Straftaten im Rahmen seiner Tätigkeit als ... begangen zu haben, wurde eine Gesamtgeldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 70,- EUR verhängt.
Der Strafbefehl wurde dem Angeklagten am 14.09.2011 zugestellt.
Die Gesamtgeldstrafe einschließlich der zu zahlenden Verfahrenskosten in Höhe von insgesamt 3.563,50 EUR wurde am 14.10.2011 beglichen.
Am 09.02.2012 erteilte der Angeklagte Rechtsanwalt ... aus ... eine Verteidigervollmacht zur „Wiedereinsetzung in Strafsache“. Rechtsanwalt ... beantragte daraufhin beim Amtsgericht Freiburg mit Faxschreiben vom 10.02.2012, dem Angeklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, und legte gleichzeitig Einspruch gegen den Strafbefehl vom 12.09.2011 ein. Den Wiedereinsetzungsantrag begründete der Verteidiger damit, dass der Angeklagten wegen einer Depressionserkrankung unverschuldet die Einspruchsfrist versäumt habe. Mit Schreiben vom 03.04.2012 wurde eine eidesstattliche Versicherung der Ehefrau des Angeklagten vom 27.03.2012 vorgelegt, in der diese unter anderem schilderte, dass der Angeklagte ab Ende Januar 2011 „psychologisch total abgerutscht“ und nach Erhalt des Strafbefehls erneut „stark psychologisch beeinträchtigt, (…) geradezu depressiv“ gewesen sei. Erst als es dem Angeklagten Anfang bzw. Mitte Oktober 2011 etwas besser gegangen sei, habe man gemeinsam die Post aufgearbeitet, festgestellt, dass der Strafbefehl rechtskräftig geworden sei und zur Vermeidung einer weiteren psychischen Beeinträchtigung des Angeklagten gemeinsam beschlossen, die aus dem Strafbefehl herrührende Forderung zu bezahlen.
Mit Beschluss vom 11.04.2012 verwarf das Amtsgericht Freiburg den am 10.02.2012 eingelegten Einspruch des Angeklagten gemäß § 411 Abs. 1 Satz 1 StPO wegen Verfristung. Zugleich wurde der Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist als unbegründet abgewiesen. Der Beschluss wurde dem Verteidiger des Angeklagten am 13.04.2012 zugestellt. Dieser legte für den Angeklagten am 20.04.2012 hiergegen sofortige Beschwerde ein.
Der Verteidiger trug vor, dass es dem Angeklagten wegen dessen psychischer Erkrankung erst auf Drängen seiner Ehefrau möglich gewesen sei, den Verteidiger aufzusuchen und am 09.02.2012 die notwendigen rechtlichen Schritte gegen den Strafbefehl einzuleiten.
Im Beschwerdeverfahren legte der Verteidiger zunächst eine ärztliche Bescheinigung von Dr. med. J. ..., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und zugleich Chefarzt bei ... in ... vom 01.06.2012 vor, wonach sich der Angeklagte seit dem 30.05.2012 mit der Diagnose „Schwere depressive Episode“ im dortigen Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in stationärer Behandlung befinde. Sodann wurde ein ärztliches Attest von Dr. med. ... vom 27.06.2012 übersandt, in dem ausgeführt wurde, dass die depressive Symptomatik vermutlich bereits seit ca. drei Jahren vorhanden sei und zudem der hochgradige Verdacht auf eine gemischte Persönlichkeitsstörung bestehe. Mit einer ärztlichen Stellungnahme vom 01.08.2012 stellte Dr. med. ... klar, dass sich das Attest vom 27.06.2012 auch auf den Zeitraum zwischen Zustellung des Strafbefehls und Einlegung des Einspruchs beziehe, wenngleich weitere Aussagen nicht verlässlich möglich seien, da man den Angeklagten erst mit dessen stationärer Aufnahme kennengelernt habe und die Vorgeschichte nur aus zweiter Hand beurteilen könne.
Die Staatsanwaltschaft Freiburg - Zweigstelle Lörrach - trat dem Antrag auf Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist entgegen. Sie vertrat die Auffassung, dass der Angeklagte jedenfalls die Antragsfrist gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht eingehalten habe. Überdies sei eine verlässliche Aussage über die psychische Verfassung des Angeklagten im Herbst 2011 nicht möglich. Die Staatsanwaltschaft veranlasste zudem mit Verfügung vom 12.10.2012 Nachermittlungen ... unter anderem zum gesundheitlichen Zustand des Angeklagten im Zeitraum von Januar 2011 bis Februar 2012.
II.
Die sofortige Beschwerde gegen den die Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist zurückweisenden und den Einspruch gegen den Strafbefehl als verspätet verwerfenden Beschluss des Amtsgerichts Freiburg ist gemäß §§ 411 Abs. 1 Satz 1, 46 Abs. 3, 311 Abs. 2 StPO am 20.04.2012 zulässig erhoben worden und hat auch in der Sache Erfolg.
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1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist des Strafbefehls wurde am 10.02.2012 innerhalb der zulässigen Wochenfrist gestellt und ist wegen unverschuldeter Versäumung der Einspruchsfrist auch begründet.
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a) Die Frage, ob jemand im Sinne von § 44 StPO ohne Verschulden verhindert war, die Frist - hier die Einspruchsfrist bezüglich des Strafbefehls vom 12.09.2011 - einzuhalten, ist danach zu beurteilen, ob dem Säumigen nach den konkreten Umständen des Falles sowie seinen subjektiven Verhältnissen und Eigenschaften der Vorwurf zu machen ist, dass er die ihm gerechterweise zuzumutende Sorgfalt für die Fristwahrung außer Betracht gelassen hat (vgl. KG, Beschluss v. 03.09.1997 - 4 Ws 196/97, veröffentlicht in juris; Graalmann-Scheerer in Löwe-Rosenberg, StPO 26, Aufl. § 44, Rdr. 19). Die Strafkammer hat hierbei ausdrücklich berücksichtigt, dass es sich bei dem Einspruch gegen den Strafbefehl für den Angeklagten um den „ersten Zugang zu Gericht“ handelt und gerade in einer solchen Situation Art. 103 Abs. 1 GG einer Überspannung der Wiedereinsetzungsvoraussetzungen entgegensteht (vgl. nur BVerfG NJW 1991, 351; BayVerfGH BayVBl 2011,511; BerlVerfGH, Beschl. v. 07.06.2011 - 78/08; veröffentlicht in juris) so dass nicht nur bezüglich des fehlenden Verschuldens, sondern auch für dessen Glaubhaftmachung und des hierfür erforderlichen Beweisgrades (vgl. Cirener in BeckOK-StPO § 45 Rdnr. 11) zu Gunsten des Angeklagten eine weite Auslegung geboten ist.
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Vor dem Hintergrund dieser rechtlichen Maßstäbe wurde durch die vorgelegten, von Dr. med. ... ausgestellten ärztlichen Atteste nach Auffassung der Strafkammer hinreichend glaubhaft gemacht, dass der Angeklagte über den gesamten Zeitraum vom 14.09.2011 (Zustellung des Strafbefehls) bis zum 09.02.2012 (Erteilung der Verteidigervollmacht) aufgrund einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung - einer schweren Depression in Kombination mit einer gemischten Persönlichkeitsstörung - unverschuldet daran gehindert war, im vorliegenden Strafverfahren seine Rechte aktiv durch Einlegung eines Einspruchs gegen den Strafbefehl wahrzunehmen.
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So ist allgemein anerkannt, dass Erkrankungen das Verschulden im Sinne von § 44 StPO ausschließen können (vgl. nur Maul in KK-StPO 6. Aufl. § 44, Rdnr. 20 m.w.N.). Neben plötzlichen, nur kurze Zeit andauernden körperlichen Beeinträchtigungen wie beispielsweise einem akuten Diabetesschock (vgl. BGH NJW 1975, 593) oder Durchfall (vgl. OLG Köln VRS 111, 43) können auch chronische Erkrankungen beziehungsweise lang andauernde gesundheitliche Einschränkungen die subjektiven Verhältnisse und Eigenschaften eines Angeklagten zur Fristwahrung ausschließen, sofern der Betroffene zuvor keine fristwahrenden Vorkehrungen treffen konnte. Wenngleich die - soweit ersichtlich - insoweit bislang in der Rechtsprechung entschiedenen Fallkonstellationen keine schweren depressiven Erkrankungen, sondern entweder längere Krankenhausaufenthalte (vgl. BGH VersR 1971, 1122) oder dauerhafte krankhafte seelische Störungen wie eine chronisch-paranoid-halluzinatorische Störung (BayObLG NStZ 1989,131) oder eine akute Psychose (LG Dresden, Beschl. v. 06.03.2007 - 3 Qs 27/07, veröffentlicht in juris), betrafen, schließt dies vorliegend die Annahme mangelnder Vorwerfbarkeit nicht aus. Maßgebend ist vielmehr, ob es jedenfalls wahrscheinlich ist, dass der Angeklagte aufgrund seiner dargelegten Erkrankung nicht in der Lage war, die notwendigen Schritte zur Verteidigung gegen die strafrechtlichen Vorwürfe einzuleiten.
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Aufgrund der vorgelegten ärztlichen Atteste sowie der eidesstattlichen Versicherung der Ehefrau des Angeklagten hält die Kammer dies jedenfalls für ausreichend wahrscheinlich.
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Dabei übersieht die Kammer nicht, dass der Angeklagte nach den Mitteilungen seiner Arbeitsstelle im Zeitraum vom 14.09.2011 bis zum 09.02.2012 kein einziges Mal krankheitsbedingt fehlte sowie für seine Kollegen keine Anzeichen erkennbar waren, dass er unter depressiven Schüben leide oder Schwierigkeiten habe, Entscheidungen zu treffen. Nicht verkannt wird auch, dass der Angeklagte und seine Ehefrau im Oktober 2011 den gemeinsamen Entschluss fassen konnten, die aus dem Strafbefehl herrührende Forderung zu begleichen, was offensichtlich am 14.10.2011 zu der Überweisung von 3.563.50 EUR führte.
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Diese Gesichtspunkte stehen dem jedenfalls ab Juni 2012 attestierten und laut Dr. med. ... auch für den Zeitraum vom 14.09.2011 bis zum 09.02.2012 plausiblen - überdies durch die eidesstattliche Versicherung der Ehefrau laienhaft bestätigten - psychischen Krankheitsbild und der damit verbundenen fehlenden Vorwerfbarkeit der Fristversäumung nach Auffassung der Strafkammer jedoch nicht entgegen.
17 
Der Strafkammer ist aus einer Vielzahl von Verfahren, in denen psychologische oder psychiatrische Fachgutachten erstattet werden mussten, bekannt, dass schwere depressive Erkrankungen oftmals vom beruflichen Umfeld, in dem zahlreiche Betroffene trotz fortgeschrittenen Erkrankungsverlaufs vordergründig noch „funktionieren“, nicht wahrgenommen werden, die private Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit aber zugleich von einer weitreichenden Antriebslosigkeit und Selbstaufgabe erfasst werden kann. Bedenkt man, dass die Einlegung eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl regelmäßig die nachfolgende Konfrontation mit strafrechtlichen Vorwürfen im Rahmen einer öffentlichen Hauptverhandlung nach sich zieht, erscheint der Kammer hinreichend wahrscheinlich, dass die Zahlung der Strafbefehlsforderung am 14.10.2011 nicht Ergebnis einer wiederhergestellten Entscheidungsfähigkeit war, sondern allein - wie von der Ehefrau des Angeklagten eidesstattlich versichert - zur Vermeidung einer weiteren psychischen Beeinträchtigung des Angeklagten erfolgte und der Angeklagte tatsächlich erst durch das Drängen seiner Ehefrau am 09.02.2012 psychisch in der Lage war, das notwendige Verteidigungsverhalten in die Wege zu leiten.
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b) Nachdem durch die ärztliche Stellungnahme von Dr. med. ... vom 01.08.2012 nach Auffassung der Kammer auch hinreichend wahrscheinlich erscheint, dass das krankheitsbedingte Hindernis, das zur Fristversäumung führte, jedenfalls bis zum 09.02.2012 andauerte, ist der mit der Einspruchseinlegung verbundene Antrag auf Wiedereinsetzung noch innerhalb der Wochenfrist des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO gestellt worden, mithin zulässig gewesen.
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2. Der Einspruch gegen den Strafbefehl vom 12.09.2011 durfte daher nicht als verspätet verworfen werden. Das Amtsgericht wird nunmehr Termin zur Hauptverhandlung anzuberaumen haben (§ 411 Abs. 1 Satz 2 StPO). Ob die glaubhaft gemachte psychische Erkrankung, die nach den Behauptungen des Verteidigers bereits zum angeklagten Tatzeitpunkt bestanden haben soll, gegebenenfalls relevante Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB hatte, wird sich - im Unterschied zu den Anforderungen an eine Glaubhaftmachung - aller Voraussicht nach nur mit sachverständiger Hilfe klären lassen.
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 7 StPO und der analogen Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

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