Beschluss vom Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (12. Senat) - L 12 SF 33/18 EK AS

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 1. und den Kläger zu 2. für das verzögerte Verfahren vor dem Sozialgericht Neubrandenburg S 15 AS 182/14 jeweils eine Entschädigung in Höhe von 220,00 € und das verzögerte Verfahren vor dem Sozialgericht S 15 AS 737/14 jeweils eine Entschädigung in Höhe von 180,00 € zu zahlen.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Die Kläger tragen 4/5 der Kosten des Verfahrens, der Beklagte 1/5.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Streitig ist eine Entschädigung wegen einer überlangen Dauer von 2 (verbundenen) Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) Neubrandenburg (Az. S 15 (12) AS 182/14 und S 15 (12) AS 737/14).

2

Die Kläger bildeten im Jahr 2013 eine Bedarfsgemeinschaft und bezogen Leistungen nach dem SGB II von dem Beklagten des Ausgangsverfahrens (Jobcenter). Die Kläger leben in einer Mietwohnung, die monatliche Miete betrug 425,00 €. Die Warmwasseraufbereitung erfolgte dezentral über einen Gasboiler. Mit Gas wurde auch gekocht. Der monatliche Abschlag an den Versorger betrug 29,00 € im Jahr 2013. Für die dezentrale Warmwassererzeugung berücksichtigte das Jobcenter für den Monat September 2013 einen monatlichen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 7 SGB II pauschal von 7,94 € für jede Person, insgesamt 15,88 €.

3

Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhoben die Kläger am 24. Februar 2014 Klage beim SG Neubrandenburg (S 12 AS 182/14), mit der sie einen höheren Leistungsanspruch aufgrund eines höheren Mehrbedarfs für die Erzeugung von Warmwasser geltend machten und beantragten zugleich Prozesskostenhilfe (PKH). Ebenfalls am 24. Februar 2014 erhoben die Kläger Klage beim SG Neubrandenburg (S 12 AS 183/14) mit dem gleichen Klageziel betreffend den Monat Oktober 2013. Mit Beschluss vom 26. Februar 2014 verband das SG die beiden Rechtsstreitigkeiten unter Führung des Aktenzeichens S 12 AS 182/14. Im Juli 2014 ging die Klageerwiderung des Jobcenters vom 17. Juni 2014 ein, die das SG an die Prozessbevollmächtigte der Kläger weiterleitete und zugleich das Verfahren „zur Sitzung“ verfügte.

4

Am 9. Januar 2017 erhoben die Kläger Verzögerungsrüge.

5

Mit Beschluss vom 8. Mai 2017 lehnte das SG die Bewilligung von PKH ab und hörte die Beteiligten zum Erlass eines Gerichtsbescheides an. Mit Gerichtsbescheid vom 14. Juni 2017 (S 15 AS 182/14) wies das SG die Klage ab. Gegen den am 16. Juni 2017 zugestellten Gerichtsbescheid legten die Kläger am 13. Juli 2017 Nichtzulassungsbeschwerde beim Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern (LSG M-V) ein, welche das LSG mit Beschluss vom 20. November 2017, der Prozessbevollmächtigten der Kläger am 12. Dezember 2017 zugestellt, zurückwies.

6

Das Ausgangsverfahren vor dem SG Neubrandenburg S 15 (12) AS 737/13 (verbunden mit S 12 AS 738/14) gestaltete sich wie folgt:

7

Am 5. Juni 2014 erhoben die Kläger Klage beim SG Neubrandenburg nach erfolglosem Widerspruchsverfahren, mit dem sie einen höheren Mehrbedarf für die dezentrale Warmwasseraufbereitung für den Monat Januar 2014 geltend machten und ebenfalls die Gewährung von PKH beantragten. Gleichfalls am 5. Juni 2014 erhoben sie im Hinblick auf höhere Leistungen für den Monat Dezember 2013 eine weitere Klage vor dem SG Neubrandenburg (S 12 AS 738/14).

8

Mit Beschluss vom 12. Juni 2014 verband das SG die beiden Rechtsstreitigkeiten unter Führung des Aktenzeichens S 12 AS 737/14. Mit Schreiben vom 5. September 2014 versandte das SG die Klageerwiderung des Jobcenters vom 27. August 2014 an die Prozessbevollmächtigte der Kläger zur Kenntnis und Stellungnahme binnen vier Wochen. Eine Reaktion hierauf erfolgte nicht.

9

Am 9. Januar 2017 erhoben die Kläger Verzögerungsrüge.

10

Mit Beschluss vom 8. Mai 2017 lehnte das SG den Antrag auf Bewilligung von PKH ab; des Weiteren hörte es die Beteiligten zum Erlass eines Gerichtsbescheides an. Mit Gerichtsbescheid vom 14. Juni 2017 (S 15 AS 737/14) wies das SG die Klage ab. Gegen den am 16. Juni 2017 zugestellten Gerichtsbescheid erhoben die Kläger Nichtzulassungsbeschwerde beim LSG M-V. Mit Beschluss vom 20. November 2017 wies das LSG die Nichtzulassungsbeschwerde zurück. Dieser Beschluss wurde dem Prozessbevollmächtigten der Kläger am 12. Dezember 2017 zugestellt.

11

Am 11. Juni 2018 beantragten die Kläger beim LSG M-V die Bewilligung von PKH für eine beabsichtigte Entschädigungsklage der vorgenannten Rechtsstreitigkeiten, die beim SG Neubrandenburg anhängig waren. Jedem der Kläger stehe eine Entschädigung in Höhe von mindestens jeweils 2.200,00 € für das Verfahren S 15 AS 737/14 und von mindestens jeweils 2.600,00 € für das Verfahren S 15 AS 182/14 zu, hilfsweise werde die Feststellung begehrt, dass jedes Klageverfahren vor dem SG Neubrandenburg unangemessen lange gedauert habe. Das Verfahren S 15 AS 182/14 weise eine überlange Verfahrensdauer von 26 Monaten, das Verfahren S 15 AS 737/14 von 22 Monaten auf. Unter Berücksichtigung der Regelentschädigung von 100,00 € pro Monat ergäben sich die genannten Mindestentschädigungen.

12

Mit Beschluss vom 16. Januar 2019 hat der Senat den Klägern für die beabsichtigte Entschädigungsklage wegen überlanger Verfahrensdauer des erledigten Gerichtsverfahrens S 15 (12) AS 182/14 PKH für einen Anspruch in Höhe von jeweils 1.100,00 € und hinsichtlich des erledigten Gerichtsverfahrens S 15 (12) AS 737/14 für einen weiteren Anspruch in Höhe von jeweils 900,00 € gewährt. Im Übrigen hat der Senat die Gewährung von PKH abgelehnt. Dieser Beschluss ist der Prozessbevollmächtigten der Kläger am 28. Januar 2019 zugestellt worden.

13

Am 11. Februar 2019 haben die Kläger Entschädigungsklage beim LSG erhoben. Im Hinblick auf die überlange Dauer des Klageverfahrens vor dem SG Neubrandenburg mit dem Aktenzeichen S 15 AS 182/14 bestehe für jeden der Kläger ein Entschädigungsanspruch in Höhe von mindestens 1.100,00 € und für die überlange Dauer des Klageverfahrens vor dem SG Neubrandenburg mit dem Aktenzeichen S 15 AS 737/14 für jeden der Kläger in Höhe von mindestens 900,00 €. Nach Klageerhebung habe das SG die Verfahren nicht gefördert, abgesehen von zwei Verbindungsbeschlüssen. Die erforderlichen Verzögerungsrügen seien mit Schreiben vom 22. Dezember 2016 erhoben worden.

14

Die Kläger beantragen,

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den Beklagten zu verurteilen, den Klägern eine angemessene Entschädigung für die überlange Dauer des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Neubrandenburg mit dem Aktenzeichen S 15 AS 737/14, jedoch mindestens jeweils 900,00 € und

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für die überlange Dauer des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Neubrandenburg mit dem Aktenzeichen S 15 AS 182/14, jedoch mindestens jeweils 1.100,00 €

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zu zahlen.

18

Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

20

Er hält aufgrund des geringen Streitwerts der Ausgangsverfahren eine Entschädigung für unangemessen, eine reine Feststellung der überlangen Dauer der Ausgangsverfahren sei ausreichend. In den Ausgangsverfahren hätten die Kläger die Gewährung von höheren Warmwasserpauschalen begehrt. Als Mehrbedarf hierfür habe das Jobcenter 15,88 € monatlich im Jahr 2013 und 16,24 € im Januar 2014 berücksichtigt. Ausgehend davon, dass für jedes Ausgangsverfahren jeweils nur 2 Monate streitgegenständlich gewesen seien, liege der Streitwert im Verfahren S 15 AS 182/14 bei maximal 26,24 € (29 € - 15,88 € = 13,12 € × 2 Monate = 26,24 €) und im Verfahren S 15 AS 737/14 bei maximal 25,88 € (der Differenzbetrag für Dezember 2013 habe 13,12 € betragen, im Januar 2014 12,76 €). Tatsächlich dürfte der Streitwert darunter liegen, da die 29,00 € nicht nur auf die Warmwasserzubereitung entfallen seien, sondern auch auf das Kochen. Die Kläger hätten den tatsächlichen Streitwert der Ausgangsverfahren nicht beziffert. Die Kosten für das Kochen seien Teil der Regelleistung, könnten also nicht als zusätzlicher Posten seitens des Beklagten des Ausgangsverfahrens (Jobcenter) übernommen werden und seien auch nicht geltend gemacht worden. Beachte man, dass das Jobcenter von den monatlich zu zahlenden 29 € (Gasabschlag) bereits 15,88 € bzw. 16,24 € übernommen habe als Kosten der Warmwassererzeugung, müsse der verbleibende Betrag von 13,12 € bzw. 12,76 € zwingend auch die Kosten für das Kochen beinhalten, sodass der nach wie vor nicht bezifferte Betrag (Streitwert) deutlich darunter liegen müsse. Da es sich bei den Klägern um zwei volljährige Bedarfsgemeinschaftsmitglieder handele, entfalle auf den jeweiligen Kläger der hälftige Betrag. Bei einem Streitwert von unter 7,00 € pro Person und pro Monat erscheine eine Feststellung der Überlänge der Ausgangsverfahren ausreichend.

21

Mit Schriftsatz vom 12. Februar 2020 ist die Prozessbevollmächtigte der Kläger der Auffassung des Beklagten, dass nur eine Wiedergutmachung auf sonstige Weise in Betracht komme, entgegengetreten. Nach der Rechtsprechung des BSG stelle die Geldzahlung die Regel und die Wiedergutmachung auf sonstige Weise die Ausnahme dar. Ein geringer Streitwert im Ausgangsverfahren könne kein sachlicher Grund für die Abwendung vom Regel-Ausnahme-Prinzip sein. Im Hinblick auf die Ausführungen in der Sitzung des 10. Senats des LSG M-V vom 28. Januar 2020, an der sie teilgenommen habe, sei der Streitwert für die Ausgangsverfahren vor dem SG Neubrandenburg pro Person und pro Monat mit 5,00 € zu beziffern, für die vorliegend aus zwei Personen bestehende Bedarfsgemeinschaft also mit monatlich 10,00 €.

22

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte

23

L 12 SF 33/18 EK AS und die beigezogenen Akten der Ausgangsverfahren vor dem SG Neubrandenburg S 12 AS 182/14 und 183/14 sowie S 12 AS 737/14 und 738/14 verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Entschädigungsklage ist teilweise begründet.

25

Die auf § 198 GVG gestützte Entschädigungsklage ist zulässig. Das LSG Mecklenburg – Vorpommern ist funktional und örtlich zuständig. In den der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Angelegenheiten (vgl. § 51 SGG) ist gemäß § 201 Abs. 1 Satz 1 GVG in Verbindung mit § 202 Satz 2 SGG für Klagen auf Entschädigung nach § 198 GVG gegen ein Land das für dieses Land örtlich zuständige LSG zuständig.

26

Die Entschädigungsklage ist als allgemeine Leistungsklage statthaft (§ 54 Abs. 5 SGG, vgl. Urteil des BSG vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/14 R). Da vorliegend zwei Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft klagen, liegt ein Fall einer sog. subjektiven Klagehäufung vor.

27

Die Klage ist nicht deshalb unzulässig, weil sie nicht innerhalb der 6-monatigen Klagefrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG erhoben worden ist. Der isolierte PKH-Antrag der Kläger für die Entschädigungsklage hat nämlich die Klagefrist nach dem Rechtsgedanken von Treu und Glauben in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG gewahrt, weil die Kläger unverzüglich nach der Entscheidung darüber Klage erhoben haben.

28

Nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG muss die Klage spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden. Die (verbundenen) Ausgangsverfahren vor dem SG Neubrandenburg endeten durch die der Prozessbevollmächtigten der Kläger am 16. Juni 2017 zugestellten Gerichtsbescheide vom 14. Juni 2017. Da die Gerichtsbescheide vom 14. Juni 2017 nicht mit der Berufung angefochten werden konnten, wurden die Gerichtsbescheide mit am 12. Dezember 2017 erfolgter Zustellung der Beschlüsse des LSG vom 20. November 2017, mit denen die Nichtzulassungsbeschwerden der Kläger zurückgewiesen wurden, rechtskräftig (vgl. § 145 Abs. 4 Satz 4 SGG). Die 6-monatige Klagefrist umfasste daher den Zeitraum vom 13. Dezember 2017 bis 12. Juni 2018 (Dienstag). Bis zum 12. Juni 2018 haben die Kläger zwar keine Klage beim LSG M-V erhoben, jedoch am 11. Juni 2018 einen Antrag auf isolierte PKH für die beabsichtigte Entschädigungsklage gestellt. Die Entschädigungsklage selbst ist erst am 11. Februar 2019 erhoben worden und hat damit die 6-monatige Klagefrist nicht eingehalten. Der Ablauf der Klagefrist ist nach Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. den Grundsätzen von Treu und Glauben unbeachtlich, da die Kläger den isolierten PKH-Antrag vor Ablauf der Klagefrist gestellt haben und die Kläger unverzüglich nach der PKH-Entscheidung Klage erhoben haben.

29

Artikel 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Artikel 19 Abs. 4 und Artikel 20 Abs. 3 GG gebieten es, die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes so weit wie möglich und erforderlich anzugleichen. Wie der BGH in jahrzehntelanger Rechtsprechung für materielle Ausschlussfristen gefolgert hat (vgl. BGHZ 43, 235; 70, 235; 98, 295; Beschluss vom 30. November 2006 – III ZB 23/06 – NJW 2007, 441, 442), genügt es zur Wahrung solcher Fristen, wenn die finanziell unbemittelte Partei noch innerhalb dieser Fristen PKH beantragt. Ihre anschließende Klage muss sodann unverzüglich nach der von ihr nicht verzögerten Entscheidung über den PKH-Antrag zugestellt werden. Diese Wertung hat der BGH auf öffentlich-rechtliche Entschädigungsansprüche übertragen (vgl. Beschluss des BGH vom 30. November 2006, a.a.O.), zu denen der Anspruch aus § 198 GVG zählt. Das BSG hat sich im Urteil vom 7. September 2017 (B 10 ÜG 1/17 R, juris Randnummer 24) dieser Rechtsprechung angeschlossen, ihr folgt auch der erkennende Senat. Unbemittelte genießen in ausreichend vergleichbarem Umfang Rechtsschutz wie bemittelte Beteiligte, wenn sie zwar die Klagefrist bzw. Ausschlussfrist beachten müssen, zu deren Wahrung aber lediglich rechtzeitig und in genügender Form PKH zu beantragen brauchen. Um sie andererseits gegenüber bemittelten Klägern nicht zu bevorzugen müssen sie, sobald die Entscheidung über die PKH ergangen ist, zur weiteren Wahrung ihrer Rechte alle zumutbaren Anstrengungen unternehmen, um unverzüglich Klage zu erheben (vgl. Urteil des BSG vom 7. September 2017, a.a.O., juris Randnummer 26 m. w. N.). Unverzüglich bedeutet ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB). „Unverzüglich“ bedeutet nicht „sofort“. Vielmehr ist dem Verfahrensbeteiligten noch eine angemessene Überlegungsfrist einzuräumen, ob er seine Rechte wahren will oder muss. Die Rechtsprechung des BGH hat bei materiellen Ausschlussfristen eine Frist von zwei Wochen noch als unschädlich angesehen.

30

Diese Frist von zwei Wochen haben die Kläger vorliegend eingehalten und damit „unverzüglich“ die Entschädigungsklage erhoben. Der PKH-Beschluss des Senats vom 16. Januar 2019 ist der Prozessbevollmächtigten am 28. Januar 2019 zugestellt worden. Die Erhebung der Entschädigungsklage am 11. Februar 2019 beim LSG erfolgte damit (gerade noch) innerhalb von zwei Wochen.

31

Die Klage ist teilweise begründet.

32

Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (Satz 2).

33

Der unbestimmte Rechtsbegriff der „unangemessenen Dauer“ wird vom Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R –) im Regelfall bei sozialgerichtlichen Hauptsacheverfahren dahingehend ausgefüllt, dass über Zeiträume hinaus, in denen das Gerichtsverfahren vom Gericht aktiv betrieben wurde, eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu 12 Monaten nicht unangemessen ist.

34

Ausgangspunkt der Angemessenheitsprüfung bildet die im § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierte Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss. Kleinste im Geltungsbereich des ÜGG relevante Zeiteinheit ist hierbei der Monat. Unter Zugrundelegung eines vollen Monats als kleinster Zeiteinheit einer Verzögerung hat das Ausgangsverfahren vor dem SG Neubrandenburg mit dem Aktenzeichen S 15 AS 182/14 eine unangemessene Verfahrensdauer von 22 Kalendermonaten aufgewiesen.

35

Dieses Verfahren hat vom 24. Februar 2014 (Klageerhebung) bis zum 16. Juni 2017 (Zustellung des Gerichtsbescheides) gedauert. Gerichtliche Aktivitäten fanden zunächst bis einschließlich des Monats Juni 2014 statt. Nach Erhebung der Verzögerungsrüge am 9. Januar 2017 waren gerichtliche Aktivitäten dann erst wieder ab dem Monat Mai 2017 zu verzeichnen (Erlass des PKH-Beschlusses vom 8. Mai 2017, Zustellung des Gerichtsbescheides am 16. Juni 2017). Unter Berücksichtigung von vollen Kalendermonaten als kleinster Zeiteinheit der Verzögerung liegt eine gerichtliche Inaktivität in der Zeit von Juli 2014 bis einschließlich April 2017 und damit von insgesamt 34 Monaten vor (6 Monate von Juli bis Dezember 2014, 12 Monate jeweils für die Jahre 2015 und 2016 sowie die ersten vier Monate des Jahres 2017). Zieht man von diesen 34 Monaten die den Gerichten zugestandene Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten ab, verbleibt eine unangemessene Verfahrensdauer von 22 Monaten.

36

Das Ausgangsverfahren vor dem SG Neubrandenburg mit dem Aktenzeichen S 15 AS 737/14 hat eine unangemessene Verfahrensdauer von 18 Kalendermonaten aufgewiesen.

37

Das Verfahren mit dem Aktenzeichen S 15 AS 737/14 hat vom Zeitpunkt der Klageerhebung am 5. Juni 2014 bis zur Zustellung des Gerichtsbescheides am 16. Juni 2017 gedauert. Gerichtliche Aktivitäten fanden zunächst bis einschließlich des Monats September 2014 statt, als der Kammervorsitzende die Klageerwiderung des Jobcenters vom 27. August 2014 der Prozessbevollmächtigten der Kläger zur Kenntnis und Stellungnahme binnen 4 Wochen am 5. September 2014 übersenden ließ. Den Beginn der Liegezeit bildet der Monat November 2014, da das SG noch im Oktober 2014 auf eine Stellungnahme der Prozessbevollmächtigten zur Klageerwiderung vom 27. August 2014 zuwarten durfte. Gerichtliche Aktivitäten fanden nach Erhebung der Verzögerungsrüge vom 9. Januar 2017 dann erst wieder in den Monaten Mai und Juni 2017 statt (PKH-Beschluss vom 8. Mai 2017, Zustellung des Gerichtsbescheides im Juni 2017). Die gesamte Inaktivitätszeit des SG umfasste 30 Kalendermonate (November und Dezember 2014, jeweils 12 Monate für die Jahre 2015 und 2016 sowie die ersten 4 Monate des Jahres 2017). Abzüglich einer Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten verbleibt eine unangemessene Verfahrensdauer von 18 Monaten.

38

Gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG wird ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Abs. 4 ausreichend ist (Satz 2). Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1.200,00 € für jedes Jahr der Verzögerung (Satz 3). Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen (Satz 4).

39

Jeden der Kläger, die als Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft (subjektive Klagehäufung) eine Entschädigung von dem Beklagten erstreiten wollen, steht ein eigener Entschädigungsanspruch zu. Denn der Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nachteils ist ein personbezogener Anspruch. Dies legt bereits der Wortlaut des

40

§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG nahe. Danach wird angemessen entschädigt, wer infolge der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erlitten hat. Es finden sich dort keine Hinweise dafür, dass mehrere Personen auf Kläger- oder Beklagtenseite hinsichtlich eines Nachteils, der nicht Vermögensnachteil ist, als eine (Personen-)Einheit zu behandeln sind (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Februar 2014 – 5 C 1/13 D –, juris Randnummer 37). Der Entschädigungsanspruch ist als ein Jedermann-Recht konzipiert und steht in Fällen einer subjektiven Klagehäufung jeder am Gerichtsverfahren beteiligten Person einzeln zu (vgl. Urteil des Sächsischen LSG vom 12. Juli 2016 – L 11 SF 50/15 EK –, juris Randnummer 56; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Februar 2014, aaO, juris Randnummer 36 ff; Urteil des BFH vom 4. Juni 2014 – X K 12/13 –, juris Randnummer 47; anderer Ansicht Wehrhahn, Verfahrensdauer und Entschädigung in: Die Sozialgerichtsbarkeit 2013, Seite 61, 66, wonach im Bereich des SGB II nicht jedes Mitglied einer gemeinsam klagenden Bedarfsgemeinschaft die volle Entschädigung wie bei einem Einzelverfahren verlangen könne, sondern entsprechend seiner individuellen Beteiligung nur eine anteilige Entschädigung erhalte). Dies hat der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 27. Juni 2018 – L 12 SF 43/17 EK AS so entschieden. Jedem volljährigen Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II steht damit grundsätzlich die Regelentschädigung zu (wenn nicht Besonderheiten des Einzelfalles dies als unbillig erscheinen lassen), jedenfalls, wenn die Bedarfsgemeinschaft nicht aus mehr als zwei volljährigen Bedarfsgemeinschaftsmitgliedern besteht.

41

Vorliegend haben die Kläger jeweils am 9. Januar 2017 in beiden Ausgangsverfahren Verzögerungsrüge erhoben, sodass grundsätzlich eine Entschädigung in Geld in Betracht kommt (vgl. § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG).

42

Voraussetzung für den von den Klägern verfolgten Entschädigungsanspruch ist nach § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG, dass eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Abs. 4 dieser Vorschrift nicht ausreichend ist, insbesondere nicht gemäß § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG durch Feststellung des Entschädigungsgerichts, die Verfahrensdauer sei unangemessen lang gewesen. Wie das BSG entschieden hat (vgl. Urteil vom 21. Februar 2013 – B 10 ÜG 1/12 KL) kommt bei festgestellter Überlänge eines Gerichtsverfahrens eine derartige Kompensation eines Nichtvermögensschadens aber nur ausnahmsweise in Betracht, wenn das Verfahren beispielsweise für den Entschädigungskläger keine besondere Bedeutung hatte oder dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen hat (vgl. auch Urteil des BSG vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 11/13 R –, juris Rn. 36).

43

Mithin stellt sich die Frage, ob es sich bei den beiden Ausgangsverfahren vor dem SG Neubrandenburg, in denen die beiden Kläger nach den Ausführungen ihrer Prozessbevollmächtigten im Schriftsatz vom 12. Februar 2020 sowie im Termin zur mündlichen Verhandlung höhere Leistungen von 5,00 € pro Person und pro Monat erstreiten wollten, um Rechtsstreite gehandelt hat, die für die Kläger keine besondere Bedeutung hatten. Dies ist nach Auffassung des Senats nicht der Fall. Zwar ist der Streitwert in jedem der beiden Ausgangsverfahren für jeden der Kläger mit insgesamt 10,00 € beispielsweise bezogen auf den Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft für den Monat September 2013 mit 1.130,88 € (tatsächlicher Leistungsanspruch 289,23 €) gering. Der Senat hält es aufgrund der Ausführungen der Prozessbevollmächtigten der Kläger für nachvollziehbar hält, dass sich vorliegend der Streitwert pro Kläger und pro Monat auf 5,00 € beläuft, dies mithin einen Betrag darstellt, der nicht völlig unrealistisch und „aus der Luft gegriffen“ erscheint. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass es sich vorliegend um existenzsichernde Leistungen gehandelt hat.

44

Das BSG hat in seinem Urteil vom 12. Februar 2015 (B 10 ÜG 13/13 R –, juris Rn. 39) ausgeführt, dass in Grundsicherungsangelegenheiten der geringe Streitwert keine Besonderheit sei und in seinem weiteren Urteil vom 3. September 2014 (B 10 ÜG 2/14 R) leitsatzmäßig ausgeführt, dass aus dem Umstand, dass eine Leistung nicht existenzsichernd sei, sich keineswegs per se auf ihre untergeordnete Bedeutung schließen lasse (juris Rn. 39). Hieraus folgert der Senat, dass, jedenfalls wenn es um existenzsichernde Leistungen – wie hier – geht, ein nur geringer Streitwert des Ausgangsverfahrens grundsätzlich nicht die Annahme rechtfertigt, dass es sich damit um einen Rechtsstreit handelt, der für den Entschädigungskläger keine besondere Bedeutung hat. Ob eine andere Sichtweise geboten ist, mithin eine Feststellung der Überlänge des Ausgangsverfahrens ausreichend ist, wenn im Ausgangsverfahren um einen Betrag im Cent-Bereich oder von nur wenigen Euro gestritten wird, hält der Senat für möglich, wobei es jedoch immer auf die Umstände des Einzelfalles ankommen dürfte.

45

Bei einem Streitwert in Grundsicherungsangelegenheiten von immerhin 10,00 € pro Person und pro Ausgangsverfahren hält der Senat vorliegend eine Beschränkung auf eine Feststellung der Überlänge des Ausgangsverfahrens nicht für angezeigt, zumal wenn berücksichtigt wird, dass im Obsiegensfalle sich Auswirkungen auf weitere Monate anderer Bewilligungszeiträume hätten ergeben können. Hierbei verkennt der Senat nicht, dass Streitgegenstand der Ausgangsverfahren allein die Leistungshöhe nach dem SGB II in den Monaten September und Oktober 2013 sowie Dezember 2013 und Januar 2014 war.

46

Anhaltspunkte für die andere Alternative der reinen Feststellung der Überlänge des Ausgangsverfahrens, dass nämlich der Kläger bzw. sein Prozessbevollmächtigter durch sein Verhalten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen hat, sind vorliegend nicht ersichtlich.

47

Wie bereits erwähnt, beträgt gemäß § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG der Richtwert einer Entschädigung regelmäßig 100,00 € monatlich. Gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG kann das Gericht jedoch einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen, wenn der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig ist. Dies ist vorliegend der Fall.

48

Gegen eine Entschädigung in Höhe von 100,00 € monatlich für jeden der Kläger spricht der geringe Streitwert der beiden Ausgangsverfahren für jeden der Kläger in Höhe von 10,00 €, auch wenn das BSG in seinem Urteil vom 12. Februar 2015 (B 10 ÜG 11/13 R, juris Rn. 37) entschieden hat, dass § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG keine Legitimation für eine grundsätzliche Kappung der Entschädigung auf den Betrag des Streitwertes in Fällen bietet, in denen die Entschädigungspauschale den Streitwert um ein Vielfaches übersteigt. Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass eine um ca. 10,00 € monatlich höhere Leistung für beide Kläger als Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft beispielsweise bezogen auf den Monat September 2013, wobei sich der Gesamtbedarf auf 1.130,88 € belief, weniger als ein Prozent der Gesamtleistung für den Monat September 2013 ausmachte. Wie der Senat den Angaben im Widerspruchsbescheid des Jobcenters vom 22. Januar 2014 betreffend den Monat September 2013 entnehmen konnte, verblieb unter Zugrundelegung eines Gesamtbedarfs von 1.130,88 € unter Berücksichtigung eines Anrechnungsbetrages von 841,65 €, da der Kläger zu 2 Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit bezog, ein Leistungsanspruch für den Monat September 2013 in Höhe von 289,23 €. Ins Verhältnis gesetzt machte damit ein Betrag von 10,00 € ca. 1/29 des Leistungsanspruchs für diesen Monat aus. Dass die Kläger durch das Vorenthalten eines Betrages von ca. 10,00 € monatlich in finanzielle Schwierigkeiten geraten wären, ist von ihnen bzw. ihrer Prozessbevollmächtigten nicht vorgetragen worden. Insgesamt erscheint es dem Senat vom Ergebnis her unbillig, bei einem Streitwert jedes der beiden Ausgangsverfahren von knapp 10,00 € pro Person bei Zugrundelegung der von der Prozessbevollmächtigten der Kläger auf 50,00 € pro Monat reduzierten Entschädigungspauschale einen Entschädigungsanspruch von insgesamt 2.000,00 € pro Person zu bejahen. Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles erscheint dem Senat ein Entschädigungsbetrag von 10,00 € pro Monat der Verzögerung als angemessen, womit jeder der Kläger mit einer Entschädigung von insgesamt 400,00 € das Zwanzigfache des Streitwerts der damaligen Ausgangsverfahren als Entschädigung erhält, was dem Senat als ausreichend und angemessen erscheint.

49

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

50

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (vgl. § 160 Abs. 2 SGG).

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