Beschluss vom Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (3. Senat) - L 3 U 153/19 B BW

Tenor

1. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Speyer vom 19.08.2019 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller begehrt im Wege der Beweissicherung gemäß § 76 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens.

2

Der Antragsteller erlitt am 13.11.2013 bei seiner Tätigkeit als Bäcker an einer Maschine einen Arbeitsunfall mit Verletzungen der rechten Hand. Diese wurden operativ und in der Folge durch Krankengymnastik und Physiotherapie behandelt.

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Die Antragsgegnerin bewilligte dem Antragsteller nach Einholung medizinischer Gutachten durch Bescheid vom 16.09.2016 ab November 2014 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 %. Als Unfallfolgen stellte sie fest: „Teilamputation des Zeige- und Mittelfingers der rechten Hand mit plastischer Deckung der Fingerkuppe des Mittelfingers, Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit und Beweglichkeit der rechten Hand mit Beuge- und Streckminderung des Zeige- und Mittelfingers, Schwellung des rechten Zeige- und Mittelfingers, herabgesetzte Empfindsamkeit im Bereich des rechten Zeige- und Mittelfingers mit Behinderung der Feinmotorik, Missempfindungen im Bereich der rechtsseitigen Hohlhand, Kraft- und Muskelminderung der rechten Hand sowie eine herabgesetzte Durchblutung des rechten Zeige- und Mittelfingers“.

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Zur Rentennachprüfung wurden im August 2017 ein neurologisches Gutachten sowie im Oktober 2017 ein chirurgisches Gutachten eingeholt. Die MdE wurde darin weiterhin mit 20 % eingeschätzt. Im chirurgischen Gutachten wurde die Fortsetzung der physiotherapeutischen Übungsbehandlung sowie Lymphdrainage als sinnvoll beschrieben. Die Antragsgegnerin forderte den Antragsteller dementsprechend auf, dafür Sorge zu tragen und sich regelmäßig beim Durchgangsarzt vorzustellen. Der Durchgangsarzt Dr. K... rezeptierte in der Folge regelmäßig Krankengymnastik und Lymphdrainage.

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Nachdem dieser in einem Verlaufsbericht vom 08.01.2019 eine etwas gebesserte Fingerbeweglichkeit erwähnte, bat die Antragsgegnerin ihn mit Schreiben vom 16.01.2019, den Antragsteller dazu anzuhalten, erlernte Übungsbehandlungen nunmehr in Eigenregie durchzuführen. Sofern hierfür eine nochmalige Serie Physiotherapie benötigt würde, könne er sie verordnen. Wenn er eine physikalische Therapie als notwendige Dauerbehandlung ansehe, werde um eine ausführliche Stellungnahme zur Vorlage beim beratenden Arzt gebeten.

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In einem Antwortschreiben schloss sich Dr. K... hinsichtlich der fehlenden Notwendigkeit weiterer Krankengymnastik prinzipiell der Auffassung der Antragsgegnerin an, empfahl allerdings, dazu eine Heilverfahrenskontrolle durchzuführen. Die Antragsgegnerin veranlasste daraufhin eine konsiliarärztliche Untersuchung bei Prof. Dr. M... Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie des Klinikums S.... Dieser vertrat nach einer Untersuchung des Antragstellers am 05.03.2019 die Ansicht, eine dauerhafte Krankengymnastik sei nicht mehr erforderlich. Insoweit könne nur von einer befunderhaltenden Therapie gesprochen werden. Da bereits seit über fünf Jahren eine physiotherapeutische Beübung stattfinde, sei davon auszugehen, dass der Antragsteller diese auch in Eigenregie durchführen könne. Durch die Lymphdrainage sei keine Befundverbesserung zu erwarten; bei einer isolierten Verletzung der Finger sei eine solche als Dauerbehandlung nicht indiziert (Bericht vom 20.03.2019).

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In einem Telefonat am 27.03.2019 beklagte der Antragsteller gegenüber der Antragsgegnerin eine nicht hinreichende Untersuchung durch Prof. Dr. M.... Mit Schreiben vom 03.04.2019 übersandte die Antragsgegnerin ihm den Bericht des Prof. Dr. M.... Sie wies ihn daraufhin, dass er, sofern er mit der fachärztlichen Einschätzung nicht einverstanden sei, unter Vorlage einer anderslautenden Stellungnahme eines Facharztes eine neuerliche Prüfung und den Erlass eines rechtsbehelfsfähigen Bescheids verlangen könne. In diesem Fall sei das Schreiben als Anhörung im Sinne des § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) anzusehen.

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Am 08.07.2019 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Speyer beantragt, im Wege der Beweissicherung ohne mündliche Verhandlung ein schriftliches Gutachten eines geeigneten Sachverständigen einzuholen. Sein gesundheitlicher Zustand sei von Prof. Dr. M... unzutreffend bewertet worden. Die Untersuchung sei unzureichend gewesen. Zunächst habe ihn ein junger Assistenzarzt untersucht, bis ca. eine Viertelstunde später der Oberarzt Dr. M... mit einem Anliegen an diesen gekommen sei. Auf die Bitte des Assistenzarztes, sich die Hand anzusehen und Erklärung der Fragestellung habe sich Dr. M... kurz die Finger angesehen und gemeint, selbstverständlich würde die Berufsgenossenschaft nach fünf Jahren nicht mehr dafür zahlen, er könne die Übungen zu Haus selbst durchführen. Die Untersuchung sei danach nicht mehr fortgeführt worden. Prof. Dr. M... habe er nicht gesehen. Der Antragsteller hat eine eidesstattliche Versicherung dazu vorgelegt.

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Er hat ferner vorgetragen, jegliches Vertrauen dahingehend verloren zu haben, dass ein von der Antragsgegnerin beauftragter Arzt eine unvoreingenommene Untersuchung durchführen werde, sodass ein berechtigtes rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung seines Zustandes bestehe. Er habe zudem ein wirtschaftliches Interesse an der begehrten Feststellung, da diese unmittelbare Auswirkungen auf die Leistungspflicht der Antragsgegnerin habe.

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Er hat beantragt, im Wege der Beweissicherung ein schriftliches Gutachten eines geeigneten Sachverständigen über folgende Fragen einzuholen: „Befindet sich der Antragsteller nach einer Teilamputation des Endglieds D2 und die D3 bei Avulsionsverletzung D 3 und Schnittverletzung D2 der rechten Hand mit Beteiligung des ulnaren Gefäßnervenbündels in einem gesundheitlichen Zustand, der auf Dauer eine Behandlung mit Krankengymnastik und Lymphdrainage erforderlich macht?“

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Das Sozialgericht hat den Antrag durch Beschluss vom 19.08.2019 abgelehnt. Gemäß § 76 Abs. 1 SGG könne auf Gesuch eines Beteiligten ua. die Vernehmung eines Sachverständigen zur Sicherung des Beweises angeordnet werden, wenn der gegenwärtige Zustand einer Person festgestellt werden solle und der Antragsteller ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung habe. Vom Antragsteller werde ein Anspruch auf eine konkrete Heilbehandlung als Dauerbehandlung wegen eine Gesundheitszustands geltend gemacht. Es sei aber ein berechtigtes Interesse zu verneinen. Bei der Feststellung eines Zustands sei keine Beweisnot, sondern lediglich ein berechtigtes Interesse an der Feststellung erforderlich. Gemeint sei ein rechtliches Interesse an der Feststellung, das immer dann vorhanden sei, wenn die Feststellung zur effektiven Rechtsverfolgung nötig erscheine. So könne zB. eine drohende Verjährung ein rechtliches Interesse begründen. Gleiches gelte, wenn die Behörde ihrer Pflicht zur Amtsermittlung nicht oder nicht angemessen nachkomme (vgl. Pitz in JurisPK-SGG, § 76, Rn.6). Vorliegend könne solches vom Antragsteller nicht hinreichend dargelegt werden. Die Antragsgegnerin sei der Anregung des behandelnden Arztes gefolgt und habe eine gutachterliche Stellungnahme veranlasst, diese dem Antragsteller zur Verfügung gestellt, ihm Gelegenheit zur Stellungnahme und rechtliche Hinweise gegeben. Eine Reaktion hierauf sei nicht erfolgt. Insbesondere habe der Antragsteller keinen Antrag auf eine Bescheidung hinsichtlich der von ihm begehrten Dauerbehandlung gestellt. Allein die vom Antragsteller geäußerte Kritik an der Untersuchung durch Prof. Dr. M... vermöge die Befürchtung, dass die Antragsgegnerin im weiteren Verwaltungsverfahren ihre Amtsermittlungspflicht verletze, nicht zu begründen. Der Antragssteller sei zunächst auf eine Entscheidung im Verwaltungsverfahren zu verweisen.

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Der Antragsteller hat gegen den am 22.08.2019 zugestellten Beschluss am 20.09.2019 Beschwerde eingelegt. Bereits das vorliegende wirtschaftliche Interesse an der begehrten Feststellung sei nach § 76 Abs. 1 SGG ausreichend. Erst dann, wenn unter keinem Aspekt ein Erfordernis zur Feststellung der Tatsachen erkennbar sei, sei der Antrag wegen Fehlens des Rechtsschutzinteresses unzulässig, etwa wenn der Anspruch, dessen er sich berühme, offensichtlich nicht gegeben sei, was hier nicht der Fall sei.

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Der Antragsteller beantragt,

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den Beschluss des Sozialgerichts Speyer vom 19.08.2019 aufzuheben und im Wege der Beweissicherung ein schriftliches Gutachten eines geeigneten Sachverständigen über folgende Fragen einzuholen: Befindet sich der Antragsteller nach einer Teilamputation des Endglieds D2 und die D3 bei Avulsionsverletzung D 3 und Schnittverletzung D2 der rechten Hand mit Beteiligung des ulnaren Gefäßnervenbündels in einem gesundheitlichen Zustand, der auf Dauer eine Behandlung mit Krankengymnastik und Lymphdrainage erforderlich macht?

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Die Antragsgegnerin beantragt,

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die Beschwerde zurückzuweisen.

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Sie verweist insbesondere darauf, dass ein Antrag auf Bescheiderteilung bisher nicht gestellt sei.

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Zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin verwiesen, der Gegenstand der Beratung gewesen ist.

II.

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Die Beschwerde hat keinen Erfolg, sie ist zulässig, aber unbegründet.

20

Die Beschwerde ist gemäß § 172 SGG zulässig, auch wenn nach § 172 Abs. 2 SGG ua. Entscheidungen des Sozialgerichts über die Ablehnung von Beweisanträgen nicht mit der Beschwerde angefochten werden können. Die Ablehnung einer Beweiserhebung im Beweissicherungsverfahren nach § 76 SGG beinhaltet in der Sache ebenfalls die Ablehnung eines Beweisantrages. Da es sich insoweit um ein besonderes Verfahren handelt und in § 76 SGG ein Ausschluss der Beschwerde nicht ausdrücklich geregelt ist (anders als durch den Verweis auf § 490 Abs. 2 Zivilprozessordnung –ZPO - durch § 76 Abs. 3 SGG, wonach der Beweisbeschluss nicht anfechtbar ist), ist die Beschwerde nicht ausgeschlossen (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 172 Rz 6c, Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11.09.2019 – L 2 R 307/19 B ER –, juris).

21

Das Sozialgericht hat den Antrag auf Durchführung eines selbstständigen Beweissicherungsverfahrens zu Recht abgelehnt. Die Voraussetzungen für die Durchführung eines solchen Verfahrens nach § 76 Abs.1 SGG liegen nicht vor. Zutreffend hat das Sozialgericht ausgeführt, dass allein die Anwendung des § 76 Abs. 1 letzte Alternative in Betracht kommt, wonach auf Gesuch eines Beteiligten die Vernehmung eines Sachverständigen zur Sicherung des Beweises angeordnet wird, wenn der gegenwärtige Zustand einer Person festgestellt werden soll und der Antragsteller ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat. Der Antragsteller hat entsprechend auch allein auf diese Regelung abgehoben.

22

Hinsichtlich der inhaltlichen Anforderungen an einen Antrag verweist § 76 Abs. 3 SGG auf § 487 ZPO. Danach muss der Antrag (1) die Bezeichnung des Gegners und (2) die Bezeichnung der Tatsachen, über die Beweis erhoben werden soll, enthalten. Es sind (3) die Zeugen zu benennen oder die übrigen zulässigen Beweismittel zu bezeichnen. Außerdem müssen (4) die Tatsachen, die die Zulässigkeit des selbständigen Beweisverfahrens und die Zuständigkeit des Gerichts begründen sollen, glaubhaft gemacht werden. Als Mittel zur Glaubhaftmachung kommt insbesondere eine eidesstattliche Versicherung in Betracht, § 294 Abs. 1 ZPO (Gutzeit in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Auflage 2014, § 76 Rz 7). Aus der Formulierung des § 487 ZPO, wonach Zeugen zu benennen und die übrigen zulässigen Beweismittel zu bezeichnen sind, lässt sich ableiten, dass Sachverständige nicht namentlich benannt werden müssen (Gutzeit aaO., Rz 9). Von daher ist nicht zu beanstanden, dass der Antragsteller die Auswahl des Sachverständigen dem Gericht überlassen hat.

23

Der erkennende Senat hat allerdings gewisse Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit des Antrags, weil es nicht nur um die Feststellung des Gesundheitszustandes des Antragstellers an sich gehen, sondern sich der Sachverständige auch bzw. gerade zur Frage äußern soll, ob dieser Gesundheitszustand die Behandlung mit Krankengymnastik und Lymphdrainage erforderlich macht. Dies erfordert über die bloße Feststellung eines Zustandes hinaus auch wertende Einschätzungen. Allerdings ist es gerade dem Sachverständigenbeweis immanent, dass auch Wertungen und Einschätzungen vorgenommen werden, die über die bloße Feststellung eines Zustandes hinausgehen. Entsprechend wird zur entsprechenden Regelung des § 485 Abs. 2 Nr. 1 ZPO vertreten, dass die Frage der Berufsunfähigkeit Gegenstand des Beweissicherungsverfahrens sein kann (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 18.10.2010 – 8 W 32/10 –, juris). Letztlich braucht dies hier aber nicht endgültig entschieden zu werden. Der Senat hält wie das Sozialgericht jedenfalls ein berechtigtes Interesse an der Beweiserhebung nicht für gegeben.

24

Unter welchen Voraussetzungen von einem solchen auszugehen ist, wird in der Literatur und Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt. So stellt etwa Gutzeit, aaO.,Rz 13 ff, auf den Sicherungszweck des Beweissicherungsverfahrens ab, der wiederum auf einer besonderen Eilbedürftigkeit fuße. Deshalb bestehe ein berechtigtes Interesse an der Feststellung eines gegenwärtigen Zustands etwa dann, wenn ohne eine vorsorgliche Tatsachenfeststellung der gegenwärtige Gesundheitszustand einer Person zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr oder nur noch erschwert festgestellt werden könnte. Dem widerspricht Leitherer, aaO., § 76 Rz 2: Aus systematischen Gründen sei das berechtigte Interesse nicht auch im Sinne drohenden Beweisverlustes zu interpretieren, vielmehr müsse es materiell-rechtlich gerade auf den Ist-Zustand ankommen. Dies setze voraus, dass ein Anspruch ersichtlich sei bzw. behauptet werde. Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., Stand: 15.07.2017, § 76 Rz 6, nimmt ein berechtigtes Interesse ua. an, wenn die Behörde ihrer Pflicht zur Amtsermittlung nicht oder nicht angemessen nachkomme. Gutzeit (aaO., Rz 14.) hält es wiederum für zu weitgehend, in diesem Fall immer schon von einem berechtigten Interesse auszugehen. Der Antragsteller hat demgegenüber verschiedene Entscheidungen der Verwaltungs- und Zivilgerichtsbarkeit benannt, nach denen der Antrag auf Beweissicherung nur dann abzulehnen sei, wenn die Beweisfrage für einen bereits anhängigen oder erst noch möglichen Rechtsstreit offenkundig und nach jeder Betrachtungsweise unerheblich sei (zB. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 22.09.2005 -1 B 11311/05-, NVwZ-RR 2006, 853) oder evident sei, dass der behauptete Anspruch keinesfalls bestehen könne (BGH, Beschluss vom 16.09.2004 – III ZB 33/04 – IBR 2004, 584).

25

Der erkennende Senat hält es für angezeigt, die Frage des berechtigten Interesses nach einer umfassenden Würdigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu entscheiden und dabei die oben genannten Aspekte insbesondere im Hinblick auf das Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten sowie die Besonderheiten das sozialgerichtlichen Verfahren zu gewichten.

26

Danach ist vorliegend ein berechtigtes Interesse an der begehrten Beweissicherung nicht hinreichend dargetan. Dass die Einholung eines Gutachtens erforderlich wäre, weil der Gesundheitszustand des Antragstellers später nicht mehr festzustellen wäre, ist nicht erkennbar und wird auch nicht geltend gemacht. Vielmehr geht der Antragsteller nach seinem eigenen Vorbringen gerade davon aus, dass er auf Dauer einer Behandlung durch Krankengymnastik und Lymphdrainage bedarf, also auch die Einschränkungen dauerhaft bestehen. Aus dem Gesichtspunkt einer späteren Beweisnot lässt sich somit ein berechtigtes Interesse nicht ableiten.

27

Ein berechtigtes Interesse im Sinn von § 76 Abs. 1 SGG lässt sich hier auch nicht daraus herleiten, dass der vom Antragsteller verfolgte Anspruch auf Krankengymnastik und Lymphdrainage nicht ausgeschlossen erscheint: Nach § 26 Abs. 1 Satz SGB VII haben Versicherte Anspruch auf Heilbehandlung, wozu auch die vom Antragsteller begehrten Leistungen als Heilmittel gehören, 27 Abs. 1 Nr. 4, 30 SGB VII. Nach § 26 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII hat der Unfallversicherungsträger mit allen geeigneten Mitteln möglichst frühzeitig den durch den Versicherungsfall verursachten Gesundheitsschaden zu beseitigen oder zu bessern, seine Verschlimmerung zu verhüten und seine Folgen zu mildern. Es ist nach Aktenlage möglich, dass die vom Antragsteller beanspruchten Leistungen in diesem Sinn etwa zur Verhütung einer Verschlimmerung des Gesundheitszustandes erforderlich sind. Allein dies rechtfertigt aber das beantragte Beweissicherungsverfahren nicht. Hier ist die Rechtslage anders zu beurteilen als nach dem für die Zivilgerichte geltenden § 485 ZPO, der auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren über § 98 Verwaltungsgerichtordnung (VwGO) Anwendung findet. So ist nach der ausdrücklichen Regelung des § 485 Abs. 2 Satz 2 ZPO ein rechtliches Interesse an der Beweissicherung anzunehmen, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann. Von daher ist es nachvollziehbar, wenn in verwaltungsgerichtlichen bzw. zivilgerichtlichen Entscheidungen darauf abgestellt wird, ob ein Anspruch in der Sache überhaupt bestehen kann, und ein Interesse dann verneint wird, wenn dies offensichtlich ausscheidet. (Wobei aus den vom Antragsteller zitierten verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, die jeweils die Durchführung eines Beweissicherungsverfahren ablehnen, nicht zu entnehmen ist, dass eine Ablehnung aus anderen Gründen nicht auch in Betracht kommt).

28

In § 76 SGG findet sich eine dem § 485 Abs. 2 Satz 2 ZPO entsprechende Regelung gerade nicht. Wie sich insbesondere aus der Begründung zum Entwurf des Rechtspflege-Vereinfachungsgesetzes vom 17.12.1990 ergibt, durch das § 485 Abs. 2 Satz 2 ZPO und § 76 SGG ihre gegenwärtigen Fassungen erhalten haben, hatte der Gesetzgeber auch durchaus im Auge, dass das Beweissicherungsverfahren im Zivilprozess eine andere Bedeutung hat als im öffentlich-rechtlichen Verfahren. So ist in der BT-Drucks. 11/3621, Seite 24, ausgeführt:

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„Vor den Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichten wird das selbständige Beweisverfahren regelmäßig wie bisher nur zum Zwecke der Beweissicherung möglich sein. Für das sozialgerichtliche Verfahren ergibt sich diese Einschränkung aus der ausdrücklichen Regelung in § 76 Abs. 1 SGG. In Verfahren nach der Verwaltungs- und der Finanzgerichtsordnung, in denen die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Beweisaufnahme nach § 98 VwGO, § 82 FGO entsprechende Anwendung finden, folgt die Beschränkung auf den Sicherungszweck aus der unterschiedlichen Aufgabenstellung der Behörden einerseits und der Gerichte andererseits. Denn die Sachverhaltsermittlung einschließlich der Beweiserhebung ist hier außerhalb eines anhängigen gerichtlichen Verfahrens grundsätzlich Aufgabe der Behörden.“

30

Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass das Beweissicherungsverfahren (ua.) im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich hinter die Amtsermittlung zurücktritt, es dem Betroffenen also nicht freisteht, sich dieses Verfahrens zu bedienen. Nach Auffassung des Senats kann vielmehr das Beweissicherungsverfahren in Fällen wie diesen, wo die Antragsgegnerin als zuständige Unfallversicherungsträgerin die begehrten Leistungen zu prüfen und über diese zu entscheiden hat (vgl. § 26 Abs. 5 SG VII), nur in besonderen Fällen greifen. Als ein solcher Fall kann grundsätzlich die im obengenannten Schrifttum bereits erwähnte Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 20 SGB X) gesehen werden: Wenn eine Behörde ihrer Verpflichtung nicht ausreichend nachkommt und von daher zu befürchten ist, dass mögliche Anspruche nicht oder nur verspätet durchgesetzt werden können, kann ein Interesse an der Beweissicherung nach § 76 Abs. 1 SGG bestehen.

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Eine solche Verletzung der Amtsermittlungspflicht ist hier aber nicht zu konstatieren, wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, auf dessen Ausführungen insoweit zu verweisen ist, § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG. Wenn der Antragsteller angibt, ihm fehle nach der unzureichenden Untersuchung bei Prof. Dr. M... das Vertrauen in eine unvoreingenommene Untersuchung der von der Antragsgegnerin beauftragten Ärzte, stellt dies eine rein subjektive Einschätzung dar, die offenbar von dem Vorurteil getragen ist, dass die Ärzte auf Anfrage der Antragsgegnerin stets gegen die Interessen der Versicherten und für die Versicherungsträger handeln würden. Dies kann nach den zahlreichen Erfahrungen des Senats mit unfallrechtlichen Verfahren aber nicht angenommen werden; auch im konkreten Fall gibt es dafür keine Anhaltspunkte. Vielmehr hat die Antragsgegnerin dem Antragsteller ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt, sich zu den Aussagen des Prof. Dr. M... zu äußern, und ggf. eine weitere Prüfung und Bescheidung in Aussicht gestellt. Diese Möglichkeit hätte der Antragsteller ergreifen können, anstatt das vorliegende Beweissicherungsverfahren anzustrengen.

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Unabhängig davon dürfte ein Interesse an der konkret beantragten Beweiserhebung auch deshalb nicht bestehen, weil die vom Antragsteller erwünschte Feststellung der Notwendigkeit einer dauerhaften krankengymnastischen Behandlung und Lymphdrainage aufgrund der Tatsache, dass der Gesundheitszustand eines Menschen ständigen Änderungen unterworfen sein kann, kaum möglich erscheint. Selbst wenn man zu seinen Gunsten unterstellt, dass die Verletzungsfolgen sich prognostisch nicht mehr wesentlich ändern werden, ist doch nicht ausgeschlossen, dass sich möglicherweise aus anderen gesundheitlichen Störungen Gründe ergeben, weshalb Krankengymnastik und Lymphdrainage nicht mehr erforderlich oder geeignet sind. Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass es nach § 26 Abs. 5 SGB VII im pflichtgemäßen Ermessen der Antragsgegnerin liegt, über Art, Umfang und Durchführung der Maßnahmen zu entscheiden, wobei sie auch die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten hat. Es ist mithin Sache der Antragsgegnerin, immer wieder (unter entsprechender Mitwirkung der beauftragten Ärzte) zu überprüfen, welche Maßnahmen durchzuführen sind, um auf mögliche Änderungen im Gesundheitszustand oder sonstige geänderte Bedingungen zu reagieren. Die vom Antragsteller erwünschte „dauerhafte“ Feststellung seines Bedarfes an Heilmitteln kommt auch von daher nicht in Betracht.

33

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

34

Diese Entscheidung ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

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