Urteil vom Oberlandesgericht Celle (Senat für Familiensachen) - 15 UF 51/06

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das am 2. Februar 2006 verkündete Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Hameln geändert und neu gefasst.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen trägt der Kläger.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe

I.

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1. Der am … 1999 geborene, in einer Pflegefamilie lebende Kläger begehrt die Feststellung, dass der Beklagte sein Vater ist. Dieser wendet ein, auch sein eineiiger Zwillingsbruder T.L. habe mit der Mutter des Klägers (im Folgenden: Kindesmutter) in der gesetzlichen Empfängniszeit vom 28. März 1998 bis zum 25. Juli 1998 Geschlechtsverkehr gehabt.

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Das Amtsgericht hat gemäß Beweisbeschluss vom 7. Mai 2002 und dessen Ergänzung vom 22. Mai 2002 das Abstammungsgutachten des Dr. med. S. vom 1. Februar 2004 sowie das nunmehr unter Einbeziehung von T.L. erstellte Ergänzungsgutachten vom 20. Juli 2005 eingeholt. Die Gutachtenerstellung hat sich dadurch verzögert, dass der Beklagte zwangsweise zur Blutentnahme vorgeführt und die Anschrift des Zwillingsbruders erst ermittelt werden musste. Das Gutachten vom 1. Februar 2004 hat zum Ergebnis, dass der Beklagte in allen untersuchten PCR-Systemen von der Vaterschaft zum Kläger nicht ausgeschlossen und diese deshalb unter der Voraussetzung als praktisch erwiesen anzusehen ist, dass der Kindesmutter innerhalb der gesetzlichen Empfängniszeit kein naher Blutsverwandter des Beklagten beigewohnt hat. Nach dem Ergebnis des Ergänzungsgutachtens vom 20. Juli 2005 lassen sich der Beklagte und sein Zwillingsbruder genetisch nicht unterscheiden, weshalb sich nicht feststellen lasse, welcher der Zwillinge Vater des Klägers sei.

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Daraufhin hat der Familienrichter im Termin am 27. Oktober 2005 T.L. als Zeugen vernommen sowie die Kindesmutter angehört und danach gemäß Beweisbeschluss vom 31. Oktober 2005 das Gutachten des Dr. med. N. vom 21. Dezember 2005 zur Klärung der tatsächlichen Empfängniszeit eingeholt. Dort ist aufgrund in der Geburtsklinik noch verfügbarer Patientenunterlagen festgestellt worden, dass die Kindesmutter am 29. April 1998 ihre letzte Regelblutung gehabt habe und sich danach rechnerisch eine Empfängniszeit zwischen dem 9. Mai 1998 und dem 16. Mai 1998 ergebe. Auf der Grundlage des dokumentierten Ultraschallbefundes vom 29. November 1998 sei allerdings ein Konzeptionszeitpunkt zwischen dem 9. Juni 1998 und dem 16. Juni 1998 wahrscheinlicher. Auch zwischen diesen beiden Zeiträumen könne die Schwangerschaft entstanden sein. Zur Konkretisierung werde das Ergebnis der in der Frühschwangerschaft durchgeführten Ultraschalluntersuchungen benötigt. Dieses war indessen nicht mehr erreichbar. Darum hat das Amtsgericht im Termin am 26. Januar 2006 die Kindesmutter nochmals angehört und daraus die tatrichterliche Überzeugung gewonnen, dass sie nach dem 15. April 1998, d.h. nach dem Tod ihres Vaters, nur noch mit dem Beklagten Geschlechtsverkehr hatte.

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Dann hat das Amtsgericht mit Urteil vom 2. Februar 2006 der Klage stattgegeben. Wegen der Einzelheiten der tatsächlichen Feststellungen wird auf jenes Urteil Bezug genommen, § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO. Mit seiner Berufung verfolgt der Beklagte die Abweisung der Klage weiter.

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2. Der Senat hat ausweislich der Verfügung des Vorsitzenden vom 27. März 2006 zunächst bei Prof. Dr. med. S., Direktor des Instituts für Humangenetik der Medizinischen Hochschule H., telefonisch angefragt, ob nach dem Stand der Wissenschaft die Vaterschaftsfeststellung ausgeschlossen sei, wenn eineiige Zwillinge jeweils als Vater in Betracht kommen. Das wurde verneint. Daraufhin ist mit Beweisbeschluss vom 26. April 2006 die Erstellung eines Abstammungsgutachtens durch den vorgenannten Sachverständigen angeordnet worden. Dieser hat mit Schreiben vom 23. Mai 2006 unter Beschreibung der durch ihn geplanten Vorgehensweise darauf hingewiesen, hier werde wissenschaftlich-technisches Neuland beschritten, sodass die Erfolgsaussichten nicht beziffert werden könnten. Mit dem dann vorgelegten Gutachten vom 4. Oktober 2007, worauf Bezug genommen und unten unter III.2 noch näher eingegangen wird, konnte wiederum keine Klärung der Abstammung herbeigeführt werden.

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Daraufhin hat auch der Senat noch einmal versucht, den Verbleib der Befundunterlagen über (weitere) Ultraschalluntersuchungen der Kindesmutter zu ermitteln und eine etwa angefertigte Kopie des bei ihr verloren gegangenen Mutterpasses zur Sachaufklärung zu beschaffen. Dies ist wie schon in erster Instanz ohne Erfolg geblieben. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 165, 189 bis 193, 195 und 204 der Akten Bezug genommen. Im Anschluss daran sind am 30. Januar 2009 die Kindesmutter J.B. (geborene S.) und nochmals T.L. als Zeugen vernommen worden.

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Auf dieser Erkenntnisgrundlage hat der Senat schließlich in dem am 4. März 2009 verkündeten Urteil der Berufung mit der Begründung stattgegeben, es lasse sich nicht feststellen, dass der Beklagte der Vater des Klägers sei. Wegen der Einzelheiten wird auf die Gründe jener Entscheidung Bezug genommen, worauf ebenfalls unter III.2 noch eingegangen wird.

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3. Auf die Verfassungsbeschwerde des Klägers hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 18. August 2010 (1 BvR 811/09, auszugsweise veröffentlicht in NJW 2010, 3772) das vorbezeichnete Urteil aufgehoben und die Sache an den Senat zurückverwiesen. Durch das Absehen von weiterer Sachverhaltsermittlung im Wege des vom Sachverständigen angeregten, neuartigen Verfahrens des whole genome sequencing sei dem Kläger der Zugang zu den für die Kenntnis seiner Abstammung erforderlichen Informationen nicht ermöglicht und dadurch sein allgemeines Persönlichkeitsrecht verletzt worden. Aufgrund der Neuartigkeit des o.g. Verfahrens werde nicht klar, welche Erfahrungen gegen die Durchführung des Verfahrens sprechen könnten. Zwar könnten Fälle nicht ausgeschlossen werden, in denen die Abstammung eines Kindes unaufklärbar bleibt, auch weil sie nur unter einem deutlich unangemessenen finanziellen Aufwand mit nur geringer Aussicht auf weiteren Erkenntnisgewinn ermittelbar wäre. Dann könnte davon ausgegangen werden, dass es keine erlangbaren Informationen gibt, die dem Grundrechtsträger vorenthalten werden. Dafür, dass im vorliegenden Verfahren ein solcher Fall vorliegt, gebe es jedoch nach dem bisherigen Sachstand ohne weitere Prüfung durch das Oberlandesgericht keine Anhaltspunkte.

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4. Der Senat hat dann nach erneuter Prüfung gemäß Beweisbeschlüssen vom 9. August 2011 und 19. Januar 2012 Beweis über die Aufklärbarkeit der Abstammung des Klägers mit Hilfe des whole genome sequencing erhoben. Wegen des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten des Prof. Dr. med. R., emeritierter Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität M. und damals Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in K., vom 10. Oktober 2011 und auf das Gutachten des Prof. Dr. med. S. vom 15. Mai 2012 Bezug genommen. Im Termin am 17. Dezember 2012 haben die Sachverständigen ihre Gutachten auf Antrag des Klägers vor dem Senat mündlich erläutert. Dazu wird auf das darüber aufgenommene Sitzungsprotokoll verwiesen.

II.

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Die Berufung - auf die nach Art. 111 Abs. 1 FGG-RG das bis zum 31. August 2009 geltende Verfahrensrecht Anwendung findet - ist auch nach dem Ergebnis der nach Aufhebung und Zurückverweisung durchgeführten Beweisaufnahme begründet, weil sich die Abstammung des Klägers zur Überzeugung des Senats (§ 286 ZPO) nach dem heutigen Stand der Wissenschaft in zumutbarer Weise (§ 372 a Abs. 1 ZPO a.F.) weder durch genetische Abstammungsgutachten noch durch Zeugenbeweis mit der für eine Verurteilung im Statusprozess erforderlichen, d.h. einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit aufklären lässt. Diese Beurteilung beruht auf nachfolgenden Feststellungen und Erwägungen.

III.

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1. Die gesetzliche Vaterschaftsvermutung (§ 1600 d Abs. 2 S. 1 BGB) greift, anders als vom Amtsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt, nach Auffassung des Senats hier nicht. Zwar hat der Beklagte nach dem Ergebnis der erst- und zweitinstanzlichen Beweisaufnahme in der gesetzlichen Empfängniszeit vom 28. März 1998 bis zum 25. Juli 1998 (§ 1600 d Abs. 3 S. 1 BGB) der Kindesmutter beigewohnt, nämlich jedenfalls in der Zeit nach dem 15. April 1998. Aber die dadurch ausgelöste Vermutung wird durch schwerwiegende Zweifel entkräftet (§ 1600 d Abs. 2 S. 2 BGB).

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Nach der Aussage der Kindesmutter bei ihrer Vernehmung durch den Senat hat sie den Zeugen T.L. zeitlich vor dem Beklagten kennen gelernt und eine intime Beziehung zu ihm unterhalten. Das müsse ab März 1998 gewesen sein, als sie aus Spanien zurückgekommen sei. In diesem Zusammenhang habe sie den Zeugen kennen gelernt. Dabei sei sie dann auch mit dem Beklagten zusammen getroffen. Am 15. April 1998 sei ihr Vater gestorben. Nach dessen aufgrund einer Obduktion verzögerten Beerdigung am 15. Mai 1998 sei die Schwangerschaft festgestellt worden. Auf die Frage des Senats, ob sie wie vor dem Amtsgericht angegeben und in der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegt, nach dem 15. April 1998 nur noch mit dem Beklagten und nicht mehr auch mit dem Zeugen geschlechtlich verkehrt habe, hat die Kindesmutter erklärt: „Ich meine ja, bin mir fast sicher.“ Dabei ist sie auf Nachfrage verblieben. Vor dem Amtsgericht hat sie im ersten Termin am 27. Oktober 2005 angegeben, am 15. April 1998 sei sie schon mit dem Beklagten und nicht mehr mit dem Zeugen zusammen gewesen. Dies könnten zu diesem Zeitpunkt schon vier Wochen gewesen sein. Am Anfang ihrer Beziehung zum Beklagten habe sie auch noch Geschlechtsverkehr mit dem Zeugen gehabt, aber „100%ig“ nicht mehr nach dem oben angeführten Datum.

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Danach ist davon auszugehen, dass die Kindesmutter etwa in der Zeit zwischen dem 15. März 1998 und dem 15. April 1998 sowohl mit dem Beklagten wie mit dem Zeugen intim verkehrt hat. Deshalb würde sich selbst dann, wenn sie nach dem 15. April 1998 nur noch mit dem Beklagten und nicht mehr mit dem Zeugen Verkehr gehabt hätte, im Hinblick auf die gesetzliche Empfängniszeit vom 28. März 1998 bis zum 25. Juli 1998 und nach dem dokumentierten Datum der letzten Regelblutung am 29. April 1998 nicht ohne weiteres auf die Vaterschaft des Beklagten schließen lassen. Im Übrigen vermochte die Kindesmutter bei ihrer Vernehmung durch den Senat nicht einmal mit Gewissheit auszuschließen, dass sie in der maßgeblichen Zeit noch einen weiteren Mann als Geschlechtspartner hatte, nämlich einen gewissen J., dessen vollständiger Name nicht aufgeklärt werden und der deshalb - wäre es darauf angekommen - nicht in die Abstammungsuntersuchung hätte einbezogen werden können. Daraus wird deutlich, dass die Kindesmutter letztlich keine sichere Kenntnis mehr über die hier relevante zeitliche Abfolge ihrer Sexualkontakte hatte. Auch lässt sich der durch sie im erstinstanzlichen Termin am 27. Oktober 2005 als Zeitpunkt der Feststellung ihrer Schwangerschaft angegebene 20. Mai 1998 („das war in der 5. Woche“) nicht mit dem Datum ihrer letzten Menstruationsblutung in Einklang bringen. Vielmehr wäre danach eine Feststellung erst ab dem 30. Mai 1998 möglich gewesen. Dass sich die von der Kindesmutter bekundete alleinige Beiwohnung durch den Beklagten nach dem 15. April 1998 mit den drei durch den Sachverständigen Dr. med. N. im Gutachten vom 21. Dezember 2005 als möglich angesehenen, aber wegen fehlender Untersuchungsbefunde nicht verifizierbaren tatsächlichen Empfängniszeitzeiträumen (siehe oben unter I. 1) in Einklang bringen lässt, reicht nach den Gesamtumständen allenfalls aus, um die Vaterschaft des Beklagten für wahrscheinlicher zu halten als diejenige des Zeugen. Denn nur dann, wenn feststeht, dass das Kind außerhalb des nach § 1600 d Abs. 3 S. 1 BGB berechneten Zeitraums empfangen worden ist, gilt dieser abweichende Zeitraum als Empfängniszeit, § 1600 d Abs. 3 S. 1 BGB.

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Der Zeuge hat vor dem Senat bekundet, er könne seine zur Kindesmutter aufgenommene sexuelle Beziehung nicht zeitlich einordnen. Irgendwann habe er vom Intimverhältnis des Beklagten mit der Kindesmutter erfahren. Zu diesem habe er damals wegen persönlicher Differenzen keinen Kontakt gehabt. Vor dem Amtsgericht hat der Zeuge im Termin am 27. Oktober 2005 ausgesagt, die Beziehung zur Kindesmutter habe etwa acht Wochen gedauert. Zu dieser Zeit sei er im Wisentgehege in Springe beschäftigt gewesen, wo er im März 1998 angefangen habe.

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Diese Angaben lassen sich mit der oben gezogenen Schlussfolgerung in Einklang bringen, dass die Kindesmutter etwa in der Zeit zwischen dem 15. März 1998 und dem 15. April 1998 mit dem Beklagten und dem Zeugen Geschlechtsverkehr hatte. Insgesamt steht danach zur Überzeugung des Senats fest, dass auch der Zeuge in der gesetzlichen Empfängniszeit mit der Kindesmutter verkehrt hat, jedenfalls bis zum 15. April 1998. Deshalb bestehen erhebliche Zweifel an der Vaterschaft des Beklagten (vgl. BGH FamRZ 1989, 1068, 1069).

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Für eine nochmalige Vernehmung nach Zurückverweisung der Sache durch das Bundesverfassungsgericht bestand für den Senat kein Anlass, weil keinerlei Anhaltspunkte dafür vorgetragen oder sonst ersichtlich sind, dass die Kindesmutter und der Zeuge inzwischen nähere Erinnerung an die Geschehnisse im Zusammenhang mit der Zeugung des Klägers haben könnten als im Termin am 30. Januar 2009 bekundet. Auf die entsprechende, im Sitzungsprotokoll vom 14. Januar 2013 wiedergegebene Erklärung der beigeladenen Kindesmutter wird Bezug genommen.

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2. Das zunächst vom Senat eingeholte Abstammungsgutachten des Prof. Dr. med. S. vom 4. Oktober 2007 beruht auf neu abgenommenen Blutproben und ist das Ergebnis aufwändiger und umfangreicher Laboruntersuchungen nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Zur biostatistischen Auswertung wurde Prof. Dr. rer. nat. K., Direktor des Instituts für Medizinische Informatik und Statistik der Universität K., hinzugezogen. Dabei sind erst in jüngster Zeit zu diesem Zweck identifizierte DNA-Sequenzen (Mikrosatelliten-Polymorphismen, sog. STR-Marker) eingesetzt worden, die zuvor noch nie zur Klärung einer praktischen Fragestellung, wie sie hier Gegenstand ist, herangezogen worden waren. Insgesamt sind 1.033 voneinander unabhängige Genorte (Loci) untersucht worden. Selbst auf der Basis der so gewonnenen äußerst umfangreichen Datenmenge war der Ausschluss eines der beiden als genetisch identisch anzusehenden Putativväter des Klägers nicht möglich.

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In seinem Gutachten hat es der Sachverständige Prof. Dr. med. S. zwar für grundsätzlich möglich gehalten, die Fragestellung durch eine weitere Aufstockung der zu untersuchenden STR-Marker zu klären. Aber der damals schon seit rund 25 Jahren in Kindschaftssachen (heute Abstammungssachen, § 169 FamFG) für den gesamten Bezirk des Oberlandesgerichts Celle zuständige Senat vermochte wie im Urteil vom 4. März 2009 dargelegt aufgrund seiner - für die Entscheidung über den Beweiswert wissenschaftlicher Methoden der Vaterschaftsfeststellung maßgeblichen (vgl. BGH NJW 2006, 3416, Rn 37 der Gründe) - tatrichterlichen Beurteilung nicht die Überzeugung zu gewinnen, dass ein solches Vorgehen den für das Prädikat „Vaterschaft praktisch erwiesen“ erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad von mindestens 99,9% erbringen würde. Dieser sog. W-Wert galt nach 2.6.2 der damals maßgeblichen, durch die Bundesärztekammer gemeinsam mit dem Robert-Koch-Institut erarbeiteten Richtlinien für die Erstattung von Abstammungsgutachten (veröffentlicht u.a. in FamRZ 2002, 1159), ebenso wie er nach deren Außerkraftsetzung durch Beschluss des Vorstands der Bundesärztekammer am 20./21. Oktober 2011 in Nr. 9.5 des Abschnitts III der Richtlinie der Gendiagnostik-Kommission für die Anforderungen an die Durchführung genetischer Analysen zur Klärung der Abstammung i.d.F. vom 17. Juli 2012 zugrunde gelegt wird.

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Bei seiner damaligen Überzeugungsbildung hat der Senat auch das Schreiben des Sachverständigen Prof. Dr. med. S. vom 16. Dezember 2008 berücksichtigt, in dem dieser ausführt, er habe nach Scheitern seines für das Gutachten gewählten Ansatzes zur Aufklärung der Abstammung des Klägers Kontakt zu Unternehmen aufgenommen, die ein whole genome sequencing anbieten, mit dem die Lösung des Falles „sehr wahrscheinlich“ sei. Die dabei ohne nähere Konkretisierung in Aussicht gestellte kostenfreie Unterstützung durch einen wegen der potentiellen Werbewirksamkeit an der Mitwirkung bei einer wissenschaftlichen Publikation interessierten kommerziellen Anbieter erschien dem Senat im Hinblick auf die hier zu treffende Statusentscheidung und die dafür notwendige Aufklärung des Sachverhalts nicht hinreichend erfolgversprechend.

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Dass, worauf das Bundesverfassungsgericht in den Gründen seines Beschlusses vom 18. August 2010 u.a. abgestellt hat, der Senatsvorsitzende dem Sachverständigen auf dessen weitere schriftliche Anfrage vom 3. April 2009 mit Schreiben vom 8. April 2009 unter Hinweis auf das bereits zuvor verkündete Urteil geantwortet hat, der Senat habe aus Kostengründen - für die Erstellung des Gutachtens vom 4. Oktober 2007 waren der Landeskasse bei Bewilligung von Prozesskostenhilfe für beide Parteien Kosten von 94.563,95 € entstanden - von der Erweiterung des erteilten Gutachtenauftrags abgesehen, sollte lediglich Verständnis dafür wecken, dass eine Weiterverfolgung der Fragestellung unter rein wissenschaftlichen Aspekten aus Rechtsgründen nicht in Betracht kam. Dies ist im vorerwähnten Schreiben näher dargelegt. Mit den dortigen Ausführungen ist indessen nicht das dem Urteil zugrunde liegende Beratungsergebnis mitgeteilt worden, das allein für die Entscheidung maßgeblich war und Ausdruck in den Urteilsgründen gefunden hat.

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3. Das Ergebnis der nach Aufhebung und Zurückverweisung durchgeführten weiteren Sachverhaltsaufklärung rechtfertigt keine andere Beurteilung als die im Urteil vom 4. März 2009 erfolgte.

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a) Der gemäß Beweisbeschluss vom 9. August 2011 beauftragte weitere Sachverständige Prof. Dr. med. R. hat in seinem Gutachten vom 10. Oktober 2011 ausgeführt, das Unterfangen des whole genome sequencing sei hier der „Suche nach einer Nadel im Heuhaufen“ gleichzusetzen. Es komme darauf an, ob während der frühen Entwicklung der eineiigen Zwillinge bis zur Entstehung der embryonalen Keimzellen, d.h. etwa bis zum 10. Tag der Schwangerschaft in den ersten ca. sechs somatischen Zellteilungen Mutationen aufgetreten sind, die beide Zwillinge unterscheiden und sich nach den Mendelschen Gesetzen mit den Spermien auf den Kläger vererben konnten. Aus bislang veröffentlichen wissenschaftlichen Studien sei bekannt, dass die Feststellung der zur Klärung der Vaterschaft von Zwillingen erforderlichen unterscheidbaren Mutationen extrem schwierig sei. Es sei keine Vorhersage darüber möglich, ob im Genom des Klägers die notwendigen paternalen Mutationen zu finden wären. Daher sei die Untersuchung von Sperma des Beklagten und des Zeugen möglicherweise von entscheidender Bedeutung. Der Sachverständige hat dazu das Angebot der E. GmbH vom 5. Oktober 2011 eingeholt und seinem Gutachten beigefügt. Dieses Angebot bezieht sich auf die Untersuchung von drei aus Blutproben der Kindesmutter, des Kindes und der Zwillinge isolierten Genomsequenzen zur Vorbereitung eines weiteren Abstammungsgutachtens, d.h. der Beurteilung und Interpretation der Analyseergebnisse (vgl. Nr. 9 in Abschnitt III der Richtlinien der Gendiagnostik-Kommission) und lautet auf eine Vergütung von 103.900 € zzgl. Mehrwertsteuer, mithin 123.641 €. In der „Projektbeschreibung“ wird darauf hingewiesen, dass die Untersuchung einer Spermaprobe der eineiigen Zwillinge, d.h. ihrer Keimzellen, eine höhere Wahrscheinlichkeit zum Auffinden der zur genetischen Unterscheidung der Zwillinge geeigneten Mutationen ergeben würde als bei Untersuchung einer Blutprobe. Die als „Experiment“ bezeichnete Untersuchung habe wissenschaftlichen Charakter und ein Erfolg könne nicht garantiert werden. Der Sachverständige Prof. Dr. med. R. hat insoweit dargelegt, dass eine solche Untersuchung gegenüber der im Vorgutachten erfolgten STR-Typisierung eine „verbesserte Chance“ hätte, sich jedoch eine sichere Abschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit des vorgeschlagenen Verfahrens aufgrund seiner Neuartigkeit nicht vornehmen lasse.

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Diese Einschätzung steht im Einklang mit dem Fazit, das dieser Sachverständige in seinem am 5. September 2011 erschienenen wissenschaftlichen, den vorliegenden Fall auf der Grundlage der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Anlass einer theoretischen Betrachtung nehmenden Aufsatz („Whole genome sequencing - ein neues Verfahren zur Feststellung der Vaterschaft?“, abgedruckt in FPR 2011, 372) gezogen hat: Es sei bislang kein Beweis für die Annahme erbracht, dass sich eineiige Zwillinge auf der Basis vererbbarer somatischer Mutationen unterscheiden lassen. Deshalb könne nach dem heutigen Stand der Wissenschaft ein Sachverständigengutachten in den äußerst seltenen Fällen, in denen eineiige Zwillinge in der gesetzlichen Empfängniszeit mit der Kindsmutter verkehrt haben, den Nachweis mit dem erforderlichen Grad an praktischer Gewissheit nicht erbringen.

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b) Der mit Beweisbeschluss vom 19. Januar 2012 nochmals beauftragte Sachverständige Prof. Dr. med. S. hat auf der Grundlage der aus seinem Vorgutachten gewonnenen Erkenntnisse in seinem Gutachten vom 15. Mai 2012 ausgeführt, aufgrund der Eigenschaften der männlichen Keimbahn seien Mutationen, die durch Genomsequenzierung im Blut nur eines der jeweils als Putativvater geltenden eineiigen Zwillinge nachweisbar wären, höchstwahrscheinlich nicht erblich. Dagegen sollten mindestens 3,7% aller väterlich ererbten de-novo-Mutationen eines Kindes im Sperma seines biologischen Vaters nachweisbar sein. Dabei bestehe eine Wahrscheinlichkeit von mindestens 83%, dass das Kind eines eineiigen Zwillings eine de-novo-Mutation trägt, deren Anlage sich nur in der Spermaprobe seines biologischen Vaters nachweisen lässt, nicht aber in derjenigen von dessen Zwillingsbruder. Diese theoretische Überlegung setzt allerdings voraus, dass es sich um sog. diamniote Zwillinge handelt, die sich im Gegensatz zu monoamnioten Zwillingen vor dem Ende der ersten Schwangerschaftswoche ausbilden und einen Anteil von mindestens 98% an den Zwillingsschwangerschaften ausmachen. Um welchen dieser beiden Fälle es sich vorliegend handelt, ist indessen nicht bekannt. Dazu wäre die Kenntnis erforderlich, ob bei der Geburt des Beklagten und des Zeugen eine (monoamniotisch) oder zwei (diamniotisch) Fruchthöhlen in der gemeinsamen Placenta ihrer Mutter vorhanden waren.

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Als Fazit seiner Betrachtung gelangt der Sachverständige Prof. Dr. med. S. zu der Auffassung, dass die Untersuchung von aus Spermaproben gewonnener DNA notwendig ist, um eine hinreichend hohe Erfolgsaussicht zu gewährleisten. Jedoch halte er eine empirische Überprüfung an einem „Modellfall“ für sinnvoll und unterbreite dem Senat den Vorschlag, den hier vorliegenden Fall im Rahmen eines internationalen Kooperationsprojekts akademischer Einrichtungen kostenfrei zu untersuchen, unabhängig davon, ob sich herausstellen sollte, dass er nur mit oder auch ohne Zuhilfenahme von DNA aus Spermaproben lösbar sein sollte.

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4. Der Beklagte hat mit schriftlicher Erklärung vom 10. August 2012 die Abgabe einer Spermaprobe verweigert. Unter dem gleichen Datum hat der Zeuge schriftlich erklärt, er sei zur Bereitstellung einer solchen Probe nicht bereit; im Übrigen habe er sich Ende Mai 2003 sterilisieren lassen. Daraufhin hat die Senatsvorsitzende mit Verfügung vom 25. Oktober 2012 bei den Sachverständigen angefragt, ob sich aufgrund dieses Umstandes eine geänderte Beurteilung ergebe.

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Der Sachverständige Prof. Dr. med. S. hat dazu im Schreiben vom 1. November 2012 auch namens des Prof. Dr. rer. nat. K. geantwortet, die im Gutachten vom 15. Mai 2012 vertretene Auffassung, dass eine Untersuchung von DNA aus Spermaproben zur Gewährleistung einer hinreichend hohen Erfolgsaussicht notwendig ist, werde aufrechterhalten. Gleichwohl halte er es als Vertreter der empirischen Wissenschaften wie im Gutachten ausgeführt für ratsam, die dort dargelegten theoretischen Erwägungen durch ein „Experiment“ zu sichern oder zu widerlegen und danach ggf. den anstehenden Fall erneut zu untersuchen.

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Der Sachverständige Prof. Dr. med R. hat in seiner gutachterlichen Äußerung vom 12. November 2012 dargelegt, aus peripheren Blutzellen könnten allenfalls diejenigen auf das Kind vererbten Mutationen nachweisbar sein, die in der kurzen Zeitspanne zwischen der Zwillingsbildung und der Trennung der Urkeimzellklone von den Blutstammzellklonen durch schätzungsweise 7 bis 8 Zellteilungen entstanden sind. Die Chance, dass diese frühembryonalen Mutationen im Blut des Beklagten (oder des Zeugen) nachweisbar wären, sei etwa mit „Null“ einzuschätzen. Die alleinige Untersuchung von Blutproben würde deshalb hier, unabhängig von der grundsätzlichen Eignung des whole genome sequencing zur Klärung von Abstammungsfällen, nicht mit der forensisch erforderlichen Sicherheit zur Klärung der Beweisfrage führen. Die E. GmbH hat gegenüber dem Sachverständigen auf dessen Anfrage ihr vorhergehendes Angebot in inhaltlich identischer Weise unter dem 18. Oktober 2012 wiederholt.

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5. Die mündliche Erläuterung durch die Sachverständigen Prof. Dr. med. S., Prof. Dr. rer. nat. K. und Prof. Dr. med. R. im Verhandlungstermin am 17. Dezember 2012 hat das oben dargestellte Ergebnis der schriftlichen Gutachten bestätigt und weitere Details hervorgebracht.

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Wenn zwei eineiige Zwillinge als Vater des Kindes in Betracht kommen, reicht nach Darlegung des Sachverständigen Prof. Dr. rer. nat. K., anders als unter Nr. 9.1 in Abschnitt III der Richtlinien der Gendiagnostik-Kommission für den Standardfall der Einbeziehung sogenannter Einzelväter in das Gutachten vorgesehen, biostatistisch die Unterscheidung in nur einem Merkmal zur hinreichend sicheren Feststellung der Vaterschaft aus. Dazu sei aber die Identifizierung einer beim Kind aufgetretenen de-novo-Mutation erforderlich, deren genetische Anlage nur einem der Zwillinge zugeordnet werden kann. Dies wäre nach Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. med. R. lediglich bei Untersuchung von Spermaproben der beiden Putativväter mit einer für die Feststellung der Vaterschaft hinreichenden Sicherheit möglich und ist bislang in der Praxis noch nie erfolgt. Der Sachverständige Prof. Dr. med. S. hat insoweit zu Protokoll gegeben, wenn man Glück habe, könne die notwendige diskriminierende Mutation auch anhand einer Blutprobe gefunden werden. Alle drei Sachverständigen waren sich vor dem Senat darin einig, dass es sich bei dem hier gegebenen Sachverhalt um einen extremen Sonderfall handelt, der mit anderen Abstammungsfällen nicht zu vergleichen ist.

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Sollte es sich, anders als im Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. med. S. vom 15. Mai 2012 zugrunde gelegt, beim Beklagten und dem Zeugen um monoamniote Zwillinge handeln, ließe sich nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. rer. nat. K. eine zum Ausschluss eines der beiden Putativväter führende Mutation noch viel schwerer finden als im Gutachten für diamniote Zwillinge dargelegt. Deshalb kann dahinstehen, um welchen dieser beiden Fälle es sich vorliegend handelt und ob dies heute noch aufklärbar wäre (siehe dazu oben unter 3 b).

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Das Verfahren des whole genome sequencing als solches ist nach Angabe der Sachverständigen bis heute in Standardfällen „zigtausendfach“ durchgeführt worden und lässt sich für jenen Anwendungsbereich i.S.d. Nr. 6.2 in Abschnitt III der Richtlinie der Gendiagnostik-Kommission als derzeit hinreichend evaluiertes und damit bedarfsgerechtes, für die Begutachtung verwendbares Analyseverfahren auffassen. In einem Fall wie dem hier vorliegenden sei das Verfahren aber bisher noch nie evaluiert worden. Zu diesem Zweck sind derzeit wissenschaftliche Untersuchungen in Planung, die „absolute Grundlagenforschung“ darstellen, wie der Sachverständige Prof. Dr. med. S. dargelegt hat. Er bereitet derzeit in Zusammenarbeit mit englischen, niederländischen und deutschen Wissenschaftlern eine solche Untersuchung vor, um die hier gegebene Konstellation in einem, maximal in zwei Fällen nachzustellen und die in seinem Gutachten aufgestellte Hypothese zu testen. Beabsichtigt sei dabei sowohl die Untersuchung von Sperma als auch von Blut. Nach Kenntnis des Sachverständigen Prof. Dr. med. R. forscht auch die E. GmbH in diese Richtung. Die drei Sachverständigen waren jedoch im Termin vor dem Senat übereinstimmend der Überzeugung, dass bei einer alleinigen Untersuchung von DNA aus Blut die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die zum Ausschluss eines der beiden Putativväter erforderliche Mutation gefunden werden kann, im niedrigen, jedenfalls einstelligen Prozentbereich liegt.

33

Die Frage, ob das bis heute nur in der Theorie diskutierte Vorgehen nach den anerkannten Grundsätzen der Wissenschaft eine Aufklärung des Sachverhalts verspricht (§ 372 a Abs. 1 ZPO a.F.), hat der Sachverständige Prof. Dr. med. S. eindeutig verneint.

IV.

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1. Nach alledem ist aufgrund der gebotenen Gesamtwürdigung zur Überzeugung des Senats eine weitere, lediglich auf theoretische Erwägungen zu stützende, in der Praxis bislang noch nicht erprobte und an wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung ausgerichtete Untersuchung sowohl dem Beklagten wie dem Zeugen unzumutbar i.S.d. § 372 a Abs. 1 ZPO a.F. Nach der vorgenannten Norm, deren Regelungsgehalt im lediglich sprachlich vereinfachten (vgl. BT-Drs. 16/6308, 246) § 178 Abs. 1 FamFG inhaltsgleich übernommen wurde, ist zur Feststellung der Abstammung eine Untersuchung nur zur dulden, wenn sie nach den anerkannten Grundsätzen der Wissenschaft eine Aufklärung des Sachverhalts verspricht und dem zu Untersuchenden nach der Art der Untersuchung und nach den Folgen ihres Ergebnisses für ihn ohne Nachteil für seine - physische oder psychische - Gesundheit zugemutet werden kann. Das ist hier nach dem Gesamtergebnis der Beweisaufnahme nicht der Fall.

35

Darum hat der Beklagte die Abgabe einer Spermaprobe mit Recht verweigert, weshalb eine zwangsweise Durchsetzung durch Verhängung von Ordnungsmitteln nach § 390 ZPO schon aus diesem Grund nicht in Betracht kommt. Mithin kann hier dahinstehen, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen ein solches Vorgehen im Hinblick auf das Recht auf Schutz der Menschenwürde und auf persönliche Freiheit in Gestalt des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 GG) grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig wäre. Gleiches gilt für den Zeugen, der zudem nach seiner schriftlichen Erklärung, hinsichtlich deren Glaubhaftigkeit Zweifel weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich sind, infolge Durchführung einer Vasektomie zur Abgabe einer Spermaprobe nicht mehr in der Lage ist.

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Auch eine erneute Entnahme von Blut, wie sie bei Beauftragung der E. GmbH nach deren Angebot erforderlich wäre, ist unter den vorliegenden Umständen nicht duldungspflichtig.

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2. Bei einer Durchführung des vom Sachverständigen Prof. Dr. med. S. vorgeschlagenen Verfahrens wären zwar keine neuen Blutproben erforderlich, weil nach seiner Angabe die bereits in Ausführung des Beweisbeschlusses vom 26. April 2006 entnommenen noch vorhanden sind. Aber deren weitere Verwendung für eine DNA-Analyse ist dem Beklagten (und dem Zeugen) nicht zumutbar, weil sie unter den vorliegenden Voraussetzungen deren verfassungsrechtlich geschützten Rechte (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 GG) verletzen würde.

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a) Das folgt bereits daraus, dass die im Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. med. S. vom 15. Mai 2012 und im Verhandlungstermin am 17. Dezember 2012 dargelegte Vorgehensweise nicht den anerkannten Grundsätzen der Wissenschaft entspricht, weil sie wie oben festgestellt experimentellen Charakter hätte. Es würde vielmehr dazu dienen, Grundlagenforschung zur Ausbildung eines neuen Standes der Wissenschaft zu betreiben und bislang allein vorliegende theoretische Erwägungen in der Praxis zu überprüfen. Dies ist grundsätzlich nicht Sinn und Zweck einer Untersuchung zur Feststellung der Abstammung im Rahmen einer Beweisaufnahme im Statusverfahren.

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b) Hinzu kommt, dass ein whole genome sequencing anders als das DNA-Fingerprinting („genetischer Fingerabdruck“) außer dem nicht-codierenden auch den codierenden DNA-Bestandteil erfasst, dessen Analyse Rückschlüsse auf psychische, charakter- oder krankheitsbezogene Persönlichkeitsmerkmale zulässt und somit insbesondere die Aufdeckung im Erbgut angelegter, bislang nicht ausgebrochener Krankheiten zulässt. Das Recht auf informelle Selbstbestimmung erfasst auch die Entscheidung des Einzelnen, seine Erbanlagen nicht offen zu legen. Dieses Recht ist gegen dasjenige des Klägers auf Kenntnis seiner Abstammung abzuwägen (vgl. EGMR NJW 2012, 2015 unter Rn 60 ff. der Gründe, zu Art. 8 EMRK).

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Diese Abwägung fällt vorliegend im Hinblick auf den von der Untersuchung zu erwartenden, nicht ausreichenden Erkenntnisgewinn zugunsten des Beklagten und des Zeugen aus, auch nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Deshalb käme hier nach Auffassung des Senats die Ersetzung der nach § 17 Abs. 1 u. 2 GenDG erforderlichen Einwilligung in die genetische Untersuchung durch eine Entscheidung nach §§ 372 a Abs. 2, 387 ZPO, 17 Abs. 7 GenDG nicht in Betracht. Dass es nach den Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. med. S. und Prof. Dr. rer. nat. K. theoretisch möglich wäre, im Wege der DNA-Analyse gewonnene Informationen nicht nur bei der anschließenden bioinformatischen Auswertung unberücksichtigt zu lassen, sondern die codierenden Sequenzen des Genoms bereits vor Durchführung der Analyse herauszufiltern, führt zu keiner anderen Beurteilung. Denn auch dieses Verfahren ist nach Angabe der beiden Sachverständigen bisher noch nie in der Praxis durchgeführt worden. Seine Anwendbarkeit würde nach Darlegung von Prof. Dr. rer. nat. K. zusätzliche Entwicklungsarbeit auf dem Gebiet der Labortechnik voraussetzen.

41

Daher kann vorliegend offen bleiben, ob eine andere Beurteilung geboten wäre, wenn das whole genome sequencing unter Verwendung von DNA aus Blut eine Aufklärung des Sachverhalts versprechen würde. Mithin kommt es auch nicht darauf an, inwieweit die §§ 81a StPO ff. und die dazu ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung zur Frage der Zulässigkeit einer Einbeziehung der im codierenden DNA-Anteil enthaltenen Information (offen gelassen zu § 81a StPO in BGH NJW 1990, 2944 und zu § 2 DNA-Identitätsfeststellungsgesetz i.V.m. § 81g StPO a.F. in BVerfG NJW 2001, 879) Hinweise für das Statusverfahren liefert. Nach § 81e Abs. 1 S. 1 StPO dürfen molekularbiologische Untersuchungen zur Feststellung der Abstammung oder der Identität erfolgen. Im Gesetzgebungsverfahren ist dem Vorschlag des Bundesrats (vgl. BT-Drs. 13/667, 9), die Einbeziehung des codierenden DNA-Anteils auszuschließen, nicht gefolgt worden. Stattdessen ist nach § 81e Abs. 1 S. 3 StPO der Untersuchungszweck eingeschränkt worden und eine Untersuchung des DNA-Materials zur Feststellung von Persönlichkeitsmerkmale verboten (vgl. BT-Drs. 13/667, 11; Karlsruher Kommentar zur StPO/Senge, 6. Aufl. Rn 4; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. Rn 4 f., jeweils zu § 81e). Ob für Statusverfahren eine entsprechende Beurteilung gerechtfertigt ist und dort die notwendige Einwilligung des Betroffenen (§ 17 Abs. 1 u. 2 GenDG) auch in Bezug auf den codierenden Genomanteil ersetzt werden darf, wird in der Rechtsprechung noch zu klären sein, wenn es für die Entscheidung darauf ankommt.

42

3. Schließlich kommt eine genetische Abstammungsuntersuchung nach Maßgabe der im Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. med. S. vom 15. Mai 2012 und im Angebot der E. GmbH dargelegten Vorgehensweise auch deshalb nicht in Betracht, weil diese nach Auffassung des Senats unter den vorliegenden Umständen nicht mit den gesetzlichen Vorschriften über die Sachverständigenauswahl (§ 404 Abs. 1 ZPO) und die Leitung der Tätigkeit des Sachverständigen (§ 404 a ZPO) in Einklang zu bringen wäre. Denn in beiden Fällen hätte der Senat letztlich keine Kontrolle darüber, welcher Dritte an Stelle bzw. im Auftrag des bestellten Sachverständigen mit Teilen der Untersuchung befasst wird und in wessen Hände die dabei erlangte genetische Information jeweils gelangt. Der dem Senat obliegenden allgemeinen Leitungs- und Weisungspflicht könnte danach hier im Hinblick auf den grundrechtsrelevanten, den Kernbereich der Persönlichkeit des Beklagten (und des Zeugen) betreffenden Gegenstand der Beweisaufnahme nicht hinreichend entsprochen werden.

V.

43

Mithin bleibt in der Gesamtschau der in erster und zweiter Instanz eingeholten insgesamt fünf Sachverständigengutachten in Verbindung mit der Vernehmung des Zeugen T.L. und der Kindesmutter offen, ob der Kläger vom Beklagten abstammt. Zur Klärung der Abstammung geeignete sowie in zumutbarer Weise (§ 372 a Abs. 1 ZPO a.F.) durch Gen-Analyse zu gewinnende Informationen sind derzeit nicht erreichbar. Nach §§ 640 Abs. 1, 616 Abs. 1 ZPO a.F. von Amts wegen zu erhebende Beweise stehen danach nicht mehr zur Verfügung, weshalb die Klage auf die Berufung abzuweisen ist.

44

Für den nach Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. med. S. denkbaren Fall, dass in Zukunft die Klärung der Abstammung eines Kindes auch bei Einbeziehung von jeweils als Vater in Betracht kommenden eineiigen Zwillingen durch die weitere Entwicklung der Wissenschaft insbesondere unter Verwendung von DNA aus Blut möglich wird, steht dem Kläger ein Restitutionsantrag nach § 185 Abs. 1 FamFG offen, wenn er ein von ihm im Anschluss an ein Verfahren nach § 1598 a BGB zu beschaffendes neues Abstammungsgutachten vorlegt. Sollte daraufhin die Vaterschaft festgestellt werden, ist auch der Unterhaltsregress nach §§ 1600 d Abs. 4, 1607 Abs. 3 BGB eröffnet.

VI.

45

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

46

Das Urteil ist nach § 704 Abs. 2 ZPO a.F. nicht für vorläufig vollstreckbar zu erklären.

VII.

47

Nach § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO ist die Revision zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.

 


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