Beschluss vom Oberlandesgericht Düsseldorf - III-3 RVs 75/16
Tenor
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Wuppertal zurückverwiesen.
1
Gründe
3I.
4Das Amtsgericht Solingen hat den Angeklagten wegen Körperverletzung im Amt zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat, verurteilt. Die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Wuppertal verworfen. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge und mehrere Verfahrensrügen gestützte Revision des Angeklagten.
5II.
6Die Revision hat mit der Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen die Informationspflicht gemäß § 243 Abs. 4 StPO Erfolg und führt zur Aufhebung des landgerichtlichen Urteils, so dass sich ein Eingehen auf die weiteren Rügen erübrigt.
71. Der Rüge liegt Folgendes zugrunde:
8Am letzten Tag der Berufungshauptverhandlung ließ der Vorsitzende der kleinen Strafkammer in das Sitzungsprotokoll aufnehmen:
9„Es wurde festgestellt, dass keine Erörterungen nach §§ 202a, 212, 243 Abs. 4 StPO stattgefunden haben.“
10Der schon in der Berufungsinstanz für den Angeklagten tätig gewesene Verteidiger macht dazu geltend, der Vorsitzende habe es unterlassen, in der Hauptverhandlung mitzuteilen, dass eine Erörterung zwischen ihm und dem Vorsitzenden stattgefunden habe, die die Möglichkeit einer Verständigung zum Gegenstand gehabt habe. Unter Hinweis auf seine, der Revisionsbegründung beigefügte anwaltliche Versicherung trägt er vor, nach dem Eingang der Akten beim Landgerichthabe der Vorsitzende am 20. Februar 2015 um 12:15 Uhr in seiner Kanzlei angerufen, dort jedoch nur seine Sekretärin erreicht. In dem durch seinen kurze Zeit später erfolgten Rückruf zustande gekommenen Telefonat habe der Vorsitzende erklärt, er habe sich den Film aus der Videoüberwachung angesehen und wolle fragen, ob die Berufung tatsächlich in vollem Umfang durchgeführt werden solle. Man könne doch auf dem Video sehen, dass der Angeklagte ohne anzuhalten zu dem Nebenkläger laufe und dann sofort zuschlage. Sodann habe der Vorsitzende erklärt, dass aus seiner Sicht eine Berufungsverwerfung nicht unwahrscheinlich sei. Er könne sich jedoch vorstellen, dass eine Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch verbunden mit einem Geständnis des Angeklagten die Anwendung des Strafrahmens eines minder schweren Falles eröffne, so dass das Verfahren mit einer Geldstrafe von ca. 90 Tagessätzen beendet werden könne.
112. Die Rüge ist zulässig.
12Der Beschwerdeführer hat in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Weise die der Rüge zugrunde liegenden Tatsachen dargelegt. Er hat konkret ausgeführt, in welchem Verfahrensstadium mit welchem Inhalt und Ergebnis zwischen ihm und dem Vorsitzenden ein Telefonat stattgefunden habe, welches die Möglichkeit einer Verständigung zum Gegenstand gehabt habe (vgl. zum notwendigen Rügevorbringen Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 243 Rd. 38a).
13Der Beschwerdeführer ist mit der Rüge nicht etwa präkludiert, weil sein Verteidiger davon abgesehen hat, in der Berufungshauptverhandlung von dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO Gebrauch zu machen. Zwar wäre es dem Verteidiger unschwer möglich gewesen, Einwände gegen die inhaltliche Richtigkeit der Protokollierung, es habe keine Erörterungen im Sinne von § 243 Abs. 4 StPO gegeben, zu erheben, da er an dem in Rede stehenden Gespräch selbst teilgenommen hatte. Jedoch besteht nach allgemeiner Meinung keine eine Rügeobliegenheit begründende Mitwirkungspflicht des Verteidigers (BGH NStZ 2014, 601; BGH NStZ 2016, 228; OLG Dresden StRR 2015, 3
Schließlich ist der Rüge auch nicht dadurch die Tatsachengrundlage entzogen, dass durch das Protokoll der Berufungshauptverhandlung unangreifbar bewiesen wäre, dass keine Erörterungen im Sinne von § 243 Abs. 4 StPO stattgefunden haben. Zwar gehören die Mitteilungen gemäß § 243 Abs. 4 StPO nach § 273 Abs. 1a StPO zu den „vorgeschriebenen Förmlichkeiten“ des Verfahrens i.S.v. § 274 StPO, auf die sich die Beweiskraft des Protokolls bezieht. Allerdings beschränkt sich die Beweiskraft dabei auf die Tatsache, ob und welche Mitteilung der Vorsitzende gemacht hat, nicht auch darauf, ob tatsächlich Vorgespräche außerhalb der Hauptverhandlung stattgefunden haben. Das Protokoll bezieht sich stets nur auf Vorgänge innerhalb der Hauptverhandlung. Nur solche sind der Wahrnehmung des mitunterzeichnenden Urkundsbeamten zugänglich (Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 243 Rd. 52d; SK-Frister, StPO, 5. Aufl., § 273 Rd. 22). Wenn der Beschwerdeführer – wie hier – substantiiert vorträgt, es habe außerhalb der Hauptverhandlung Gespräche gegeben, die die Möglichkeit einer Verständigung zum Gegenstand hatten, ist dies im Freibeweisverfahren zu überprüfen.
153. Die Rüge ist auch begründet.
16Zu Recht beanstandet die Revision, dass das Telefonat vom 20. Februar 2015 einen mitteilungspflichtigen Gesprächsinhalt hatte, ohne dass dies gemäß § 243 Abs. 4 StPO bekanntgegeben worden wäre. Nach dieser Vorschrift sind schon Erörterungen mitzuteilen, deren Gegenstand die bloße „Möglichkeit“ einer Verständigung ist. Dazu gehören noch nicht Ausführungen zur Rechts- und Beweislage oder zur Organisation der Hauptverhandlung. Es genügt aber, wenn nur erkundet wird, ob der Gesprächspartner an einer Verständigung interessiert ist, wenn die Möglichkeit einer Verständigung konkludent im Raum steht. Weil „im Zweifel“ zu informieren ist (BVerfG NJW 2013, 1058
Letzteres ist im vorliegenden Fall nicht nur nach der Sachdarstellung des Beschwerdeführers, sondern auch nach der dienstlichen Äußerung des Vorsitzenden vom 16. Oktober 2015 geschehen. Darin hat der Vorsitzende u.a. angegeben, er habe bei dem Telefonat vom 20. Februar 2015 erklärt, „man könne … möglicherweis bei einem geständigen Ersttäter auch über die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens eines minder schweren Falles nachdenken.“ Damit ging er thematisch über Fragen der Organisation der Verhandlung hinaus und stellte eine Strafrahmenmilderung im Gegenzug mit einer Berufungsbeschränkung und dem darin liegenden Geständnis in Aussicht.
184. Das Urteil beruht auf dem gerügten Verstoß gegen § 243 Abs. 4 StPO.
19Dem steht nicht entgegen, dass der Angeklagte durch seinen Verteidiger über den Inhalt des Telefonats informiert worden war. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG NStZ 2015, 172; NStZ 2015, 1235
III.
21Eine Entscheidung über die Beschwerde des Angeklagten gegen den Bewährungsbeschluss (§ 268a StPO) des Landgerichts vom 3. August 2015 ist nicht veranlasst. Mit der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das Landgericht ist der Strafaussetzungsbeschluss gegenstandslos geworden.
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Referenzen
- StPO § 274 Beweiskraft des Protokolls 1x
- StPO § 238 Verhandlungsleitung 2x
- StPO § 212 Erörterung des Verfahrensstands mit den Verfahrensbeteiligten 1x
- StPO § 344 Revisionsbegründung 1x
- StPO § 273 Beurkundung der Hauptverhandlung 1x
- StPO § 202a Erörterung des Verfahrensstands mit den Verfahrensbeteiligten 1x
- StPO § 268a Aussetzung der Vollstreckung von Strafen oder Maßregeln zur Bewährung 1x
- StPO § 243 Gang der Hauptverhandlung 8x