Urteil vom Oberlandesgericht Hamm - 19 U 77/13
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das am 14. Mai 2013 verkündete Teilanerkenntnis- und Schlussurteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist ebenso wie das vorgenannte Urteil des Landgerichts ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
Gründe:
2I.
3Der Beklagte wurde durch das angefochtene Teilanerkenntnis- und Schlussurteil des Landgerichts unter Abweisung der Klage im Übrigen verurteilt, an die Klägerin 18.754,85 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu zahlen. Er wurde ferner verurteilt, einem Beauftragten des Netzbetreibers Zutritt zu dem Stromzähler in der Verbrauchsstelle zu gewähren und die Unterbrechung der Stromversorgung zu dulden. Auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils wird gem. § 540 Abs.1 Nr.1 ZPO Bezug genommen, soweit sich aus dem Nachfolgenden nichts Anderes ergibt.
4Gegen dieses Urteil hat der Beklagte form- und fristgerecht Berufung eingelegt, mit der er seinen erstinstanzlichen, über den anerkannten Betrag i.H.v. 4.500,00 € hinausgehenden Klageabweisungsantrag weiterverfolgt.
5Zunächst rügt er die Verletzung formellen Rechts. Zur Begründung führt er aus, dass nach seiner Ansicht aufgrund der Verbindung der Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung diese Verbindung vor der Beratung über die Entscheidung nach § 150 ZPO hätte aufgehoben werden müssen. Durch die gemeinsame Beratung liege ein Austausch des gesetzlichen Richters vor, der die Einholung der Zustimmung der Parteien voraussetze, welche hier nicht vorliege.
6Ferner sei das Urteil auch materiell unrichtig.
7Entgegen der Ansicht des Landgerichts sei davon auszugehen, dass zwischen den Parteien hinsichtlich der unstreitigen Stromlieferungen nicht ein Grundversorgungs-, sondern ein Sondervertrag bestehe. Soweit das Landgericht der Auffassung sei, dass er verpflichtet sei, Vertragsunterlagen, aus denen sich seine Sonderkundeneigenschaft ergebe, vorzulegen, verkenne es die Darlegungs- und Beweislast. Zudem habe das Landgericht nicht beachtet, dass er eine öffentliche Bekanntmachung der berechneten Preise bestritten habe, was jedoch für das Entstehen des Zahlungsanspruchs erforderlich sei.
8Ferner sei das Landgericht fehlerhaft davon ausgegangen, dass er in der Zeit vor seinem Widerspruch Preise akzeptiert habe. Dies gebe der Wortlaut des Widerspruchs jedoch nicht her. Vielmehr habe er in diesem die einseitige Preisfestsetzung durch die Klägerin zeitlich unbeschränkt angegriffen. Auch die in dem Schreiben enthaltene Unbilligkeitsrüge sei nicht nur auf die Zukunft gerichtet gewesen. Aufgrund des Vorliegens eines Sondervertrages hätte das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 14.03.2012 (Az. VIII ZR 113/11) Anwendung finden müssen, wonach ein erstmaliger Protest gegen den Preis mindestens drei Jahre zurückwirke. Mit dieser Entscheidung habe der Bundesgerichtshof seine eigene Entscheidung vom 13.06.2007 (Az. VIII ZR 36/06) korrigiert.
9Des Weiteren habe das Landgericht rechtsfehlerhaft trotz seines Bestreitens nicht festgestellt, ob die Klägerin mit dem Sockelbetrag denjenigen Preis verwendet habe, der vor dem Widerspruch tatsächlich zwischen den Parteien zur Anwendung gelangt sei. Unzutreffend sei das Landgericht auch davon ausgegangen, dass die Klägerin ihm gegenüber keine Aufklärungspflicht gehabt habe. Sie hätte ihn jedenfalls zu Beginn der Grundversorgung auf den wirtschaftlichen Nachteil des Grundversorgungstarifs aufgrund seines übermäßigen Verbrauchs hinweisen müssen, was jedoch nicht geschehen sei.
10Entgegen der Ansicht des Landgerichts stehe der Klägerin gegen ihn auch kein Anspruch auf Duldung der Versorgungseinstellung zu. Die Stromsperre diene nur dem Schutz vor zukünftigen Zahlungsausfällen. Die insoweit darlegungs- und beweispflichtige Klägerin habe jedoch nicht vorgetragen, dass hier ein Zahlungsausfall für künftige Forderungen, insbesondere nach einem rechtskräftigen Urteil drohen würde. Zudem habe sich die Klägerin aufgrund des langen Zuwartens mit einem Auflaufen der Forderungen einverstanden erklärt, so dass sie ein erhebliches Mitverschulden treffe.
11Der Beklagte beantragt erneut, das Verfahren nach § 148 ZPO direkt oder analog bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs in dem Verfahren zum Az. VIII ZR 71/10 auszusetzen.
12Der Beklagte beantragt sinngemäß,
13das am 14.05.2013 verkündete Urteil des Landgerichts Paderborn (Az. 2 O 471/12) insoweit abzuändern, als er über den anerkannten Betrag i.H.v. 4.500,00 € hinaus verurteilt worden ist, und die Klage diesbezüglich abzuweisen.
14Die Klägerin beantragt,
15die Berufung zurückzuweisen.
16Sie verteidigt das angegriffene Urteil und wiederholt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag.
17II.
18Die Berufung des Beklagten ist zulässig, aber unbegründet.
191.
20Der von dem Beklagten gerügte Verfahrensfehler eines Austausches des gesetzlichen Richters durch das Landgericht ist nicht gegeben.
21Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 14.05.2013 sind mehrere Verfahren zusammen aufgerufen worden. Nach Anhörung der Parteivertreter wurde beschlossen und verkündet, dass sämtliche aufgerufenen Verfahren „zur gemeinsamen Verhandlung“ verbunden werden. An der Verhandlung haben ausweislich des Protokolls mehrere Spruchkörper, nämlich die Kammer, der Vorsitzende der Kammer als Einzelrichter und die für dieses Verfahren zuständige Einzelrichterin, teilgenommen.
22Durch diese Verbindung der Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung ist keine Prozessverbindung gem. § 147 ZPO eingetreten.
23Bei einer Verbindung von Verfahren „zur gemeinsamen Verhandlung“ kommt neben einer Prozessverbindung nach § 147 ZPO eine rein tatsächliche Zusammenlegung der Verhandlungen in Betracht. Nicht durch § 147 ZPO gedeckt, gleichwohl nicht unzulässig ist der Weg, mehrere Verfahren lediglich zur gemeinsamen Verhandlung und/oder Beweisaufnahme rein tatsächlich zusammenzulegen. Die Rechtsfolgen einer Verbindung nach § 147 ZPO treten dann nicht ein. Der Vorteil einer solchen Verknüpfung liegt darin, dass die Verhandlungen des ersten Prozesses in dem sich unmittelbar anschließenden Prozess nicht wiederholt werden müssen, sondern auf sie Bezug genommen werden kann (Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Auflage 2012, § 147 ZPO Rn. 16). Es entspricht auch durchaus einer als zweckmäßig erkannten gerichtlichen Übung, Prozesse - derselben oder auch verschiedener Parteien -, sofern es sich um gleiche oder ähnliche Sachverhalte und Rechtsfragen handelt, besonders dann, wenn in den verschiedenen Prozessen dieselben Anwälte auftreten, nach Möglichkeit auf dieselbe Zeit zu terminieren. Der beiderseitige Vortrag kann dann rein tatsächlich dadurch vereinfacht werden, dass die Ausführungen, die vor dem Gericht zunächst in einer Sache gemacht werden, in der anderen Sache nicht mehr besonders mündlich wiederholt zu werden brauchen, dass vielmehr dieser Vortrag ohne weiteres durch eine Bezugnahme auf die Ausführungen in der zuerst verhandelten Sache ersetzt werden kann. Diese der gerichtlichen Praxis allgemein entsprechende Übung soll aber keine „eigentliche” prozessmäßige Verbindung i.S. des § 147 ZPO darstellen, sondern nur rein tatsächlich die Durchführung der Verhandlung vereinfachen helfen, wobei sich alle Beteiligten von vornherein darüber klar sind, dass hierdurch an der bisherigen Trennung der Prozesse nichts geändert werden und dass deshalb auch keine gemeinschaftliche Entscheidung erfolgen soll. Diese Art der Handhabung der Verhandlung wird im Allgemeinen in der Sitzungsniederschrift überhaupt nicht vermerkt, weil dies auch nicht erforderlich ist. Geschieht es dennoch, so bedeutet dies rechtlich auch noch keine Anordnung einer Prozessverbindung nach § 147 ZPO (BGH, Urteil vom 30.10.1956, Az. I ZR 82/55).
24Ob ein Beschluss, durch den mehrere Sachen zum Zwecke der „gemeinsamen Verhandlung” miteinander verbunden werden, zu einer echten Prozessverbindung im Sinne des § 147 ZPO führen soll mit der Wirkung, dass auch eine gemeinschaftliche Entscheidung zu erlassen ist, oder ob es sich nur um eine zur tatsächlichen Vereinfachung dienliche vorübergehende Maßnahme handeln soll, ist eine Auslegungsfrage (BGH, a.a.O.).
25Die Auslegung des Beschlusses führt im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass die verschiedenen Spruchkörper nur eine rein tatsächliche Zusammenlegung der Verhandlungen durchgeführt und keine Prozessverbindung i.S.v. § 147 ZPO beschlossen haben.
26Der Wortlaut des Beschlusses spricht für eine nur rein tatsächliche Zusammenlegung der aufgerufenen Verfahren. Denn der Beschluss beinhaltet nur die Verbindung zur "gemeinschaftlichen Verhandlung" und eben nicht zur "gemeinschaftlichen Verhandlung und Entscheidung". Zudem nimmt der Beschluss keinen Bezug auf die Vorschrift des § 147 ZPO. Überdies lässt der Beschluss auch nicht erkennen, welcher für eines oder mehrere der genannten Verfahren zuständige Spruchkörper welche andere Verfahren an sich zieht, was jedoch zwingende Voraussetzung für einen Beschluss nach § 147 ZPO ist (Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Auflage 2012, § 147 ZPO Rn.6).
27Gegen eine Verbindung der Verfahren i.S.v. § 147 ZPO spricht auch, dass unmittelbar nach diesem Beschluss getrennt für jedes Verfahren die Anträge gestellt worden sind. Zudem sind die verfahrensbeendenden Maßnahmen wie Vergleich und Urteil ebenfalls für jedes Verfahren getrennt unter Benennung des jeweiligen Aktenzeichens aufgeführt worden. Dies wäre nicht möglich gewesen, wenn eine Prozessverbindung nach § 147 ZPO vorgelegen hätte. Denn durch eine Prozessverbindung nach § 147 ZPO verlieren die verbundenen Prozesse ihre Selbstständigkeit (Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Auflage 2012, § 147 ZPO Rn.6). Durch die auf die verschiedenen Verfahren bezogene Antragsstellung und Entscheidung hat das Gericht jedoch zu erkennen gegeben, trotz der Verbindung zur "gemeinschaftlichen Verhandlung" weiter von verschiedenen, selbstständigen Verfahren auszugehen.
28Aufgrund dieser Umstände war auch für die an der mündlichen Verhandlung beteiligten Personen klar ersichtlich, dass das Gericht keine Verbindung nach § 147 ZPO vornehmen wollte, sondern die Verfahren nur aus tatsächlichen Vereinfachungsgründen zusammengelegt hat.
29Mangels Prozessverbindung gem. § 147 ZPO ist auch kein Austausch des gesetzlichen Richters gegeben. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte, dass über das hiesige Verfahren von der Einzelrichterin aufgrund einer Beratung mit den anderen an der Verhandlung teilnehmenden Kollegen entschieden worden ist.
302.
31Die Klägerin hat gegen den Beklagten über den erstinstanzlich anerkannten Betrag i.H.v. 4.500,00 € hinaus einen Anspruch auf Zahlung i.H.v. 14.254,85 € wegen Stromlieferungen in dem Zeitraum vom 21.11.2009 bis zum 14.11.2012 gem. § 433 Abs.2 BGB.
32a)
33Unstreitig hat der Beklagte in dem Zeitraum vom 21.11.2009 bis zum 27.11.2010 63.193 kWh, in dem Zeitraum vom 28.11.2010 bis zum 24.11.2011 58.947 kWh und in dem Zeitraum vom 25.11.2011 bis zum 14.11.2012 52.532 kWh Strom aus dem Versorgungsnetz der Klägerin entnommen.
34b)
35Der dem Vertragsverhältnis zugrunde liegende Stromlieferungsvertrag ist als Grundversorgungsvertrag i.S.d. Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Grundversorgung von Haushaltskunden und die Ersatzversorgung mit Elektrizität aus dem Niederspannungsnetz (StromGVV) anzusehen.
36Für die Beurteilung, ob es sich bei Energiebeziehern um Tarifkunden oder um Sondervertragskunden handelt, kommt es darauf an, ob das betreffende Versorgungsunternehmen die Versorgung zu öffentlich bekannt gemachten Bedingungen und Preisen - aus der Sicht eines durchschnittlichen Abnehmers - im Rahmen einer Versorgungspflicht nach den genannten Vorschriften oder unabhängig davon im Rahmen der allgemeinen Vertragsfreiheit anbietet (BGH, Urteil vom 13.10.2009, Az. VIII ZR 312/08; BGH, Urteil vom 15.07.2009, Az. VIII ZR 225/07). Welche Art von Vertrag vorliegt, muss demnach durch Auslegung ermittelt werden (BGH, Urteil vom 15. Juli 2009; Az: VIII ZR 56/08). Eine Einordnung als Grundversorgungstarif kann sich sowohl aus den Allgemeinen Geschäftsbedingungen, einem Angebotsformular, einem Tarifblatt, einem Preisblatt oder einem Begrüßungsschreiben ergeben.
37In den Zeiträumen vom 21.11.2009 bis zum 27.11.2010 und vom 28.11.2010 bis zum 24.11.2011 wurde der Verbrauch des Beklagten mit dem Tarif „X und X1“ abgerechnet. Bei diesem Tarif handelt es sich ausweislich des Preisinformationsblattes der Klägerin mit dem Preisstand zum 01.02.2009 (Anlage K10) um einen Grundversorgungstarif. Die Angaben in dem Preisinformationsblatt sind als unstreitig anzusehen. Eine Stellungnahme des Beklagten zu den Schriftsätzen der Klägerin vom 27. und 28.11.2013 ist trotz Gelegenheit zur Stellungnahme nicht erfolgt.
38In dem Zeitraum vom 25.11.2011 bis zum 14.11.2012 wurde der Verbrauch des Beklagten durch die Klägerin mit dem Tarif „Z“ abgerechnet. Bei diesem Tarif folgt bereits aufgrund seiner Bezeichnung, dass es sich um einen Grundversorgungstarif handelt. Zudem folgt aus dem Schreiben der Klägerin aus April 2012 (Anlage K11), dass es sich bei der Bezeichnung „Z“ um eine Umbenennung betreffend den Grundversorgungstarif „X und X1“ handelt.
39Aus der Sicht eines durchschnittlichen Abnehmers erfüllt die Klägerin als Energieversorgungsunternehmen durch diese Tarife ihre Grundversorgungspflicht, die für alle Abnehmer zugänglich sind, und stellt eben keinen Sondervertrag im Rahmen der allgemeinen Vertragsfreiheit dar.
40Die gegen diese Einordnung der streitgegenständlichen Tarife als solche der Grundversorgung vorgebrachten Einwendungen des Beklagten überzeugen nicht.
41(1)
42Soweit der Beklagte vorträgt, dass sich aus der Unterscheidung zwischen HT und NT(Schwachlast) bei den beiden streitgegenständlichen Tarifen ergebe, dass es sich um Sondertarife handeln müsse, da es eine solche Unterscheidung im Bereich der Grundversorgung nicht geben würde, überzeugt dies nicht. Die Voraussetzung, dass es bei einer Grundversorgung nur eine einzige Entgeltstellung geben darf, ist weder dem EnWG noch dem Sinn und Zweck der Grundversorgung zu entnehmen. Vielmehr ist die Klägerin mit der Einrichtung eines Schwachlastpreises ihrer gesetzlichen Verpflichtung aus der bis zum 30.06.2007 geltenden Vorschrift des § 9 BTOElt, welche nur für Allgemeinkunden Gültigkeit hatte, nachgekommen (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 18.01.2013, Az. 19 U 53/11).
43Jedenfalls weist die Tarifgestaltung entgegen der Ansicht des Beklagten nicht darauf hin, ob es sich um einen Grundversorgungstarif oder einen Sondertarif handelt. Sowohl im Grundversorgungstarif als auch im Sondertarif ist der Energieversorger in der Tarifgestaltung frei.
44(2)
45Entgegen der Auffassung des Beklagten folgt auch nicht aus der Bezeichnung des Tarifs „X und X1“ das Vorliegen eines Sondervertragstarifs. Wie in der Tarifgestaltung ist der Energieversorger auch in der Tarifbenennung frei. Grundsätzlich kann auch allein aufgrund der Benennung des Tarifs keine Einordnung als Grundversorgungstarif oder Sondertarif vorgenommen werden, es sei denn, die Tarife werden ausdrücklich mit diesen Bezeichnungen oder solchen, die eindeutig auf die Art des Tarifs hindeuten, bezeichnet, so dass aus der objektiven Sicht des Kunden durch die Bezeichnung eine Einordnung vorgenommen wird. Dies ist jedoch vorliegend nicht der Fall. Vielmehr ist die Bezeichnung des Tarifs „X und X1“ hinsichtlich der Einordnung als neutral anzusehen.
46(3)
47Auch die unstreitige Stromverbrauchsmenge führt nicht zu einer Einordnung des Vertrages als Sondervertrag. Eine Regelung, dass ab einer gewissen kWh nicht mehr ein Grundversorgungsvertrag, sondern ein Sondervertrag anzunehmen ist, existiert nicht. Dies folgt entgegen der Ansicht des Beklagten auch nicht aus der Regelung des § 3 Nr. 22 EnWG. Die dort genannte Zahl von 10.000 kWh bezieht sich auf den Eigenverbrauch für berufliche, landwirtschaftliche oder gewerbliche Zwecke. Maßgebend für die Einordnung ist jedoch nicht der tatsächliche Verbrauch, sondern sind die Umstände bei Vertragsabschluss. Für die Einordnung des Kunden als Haushaltskunde oder Sonderkunde ist die Prognoseentscheidung des Grundversorgers zu Beginn der Belieferung entscheidend (Energierecht, Kommentar, StromGVV, IV Anschl/VersorgBdg, § 1 B 1 Rn. 23). Der Beklagte hat nicht vorgetragen, dass der Klägerin Umstände bekannt waren, aufgrund derer eine Einordnung des Beklagten als Sonderkunden vorzunehmen war.
48c)
49Die Klägerin ist entsprechend ihren Neuabrechnungen berechtigt, den Stromverbrauch nach dem Preisstand vom 01.02.2009 zu berechnen. Dieser Preisstand mit einem Arbeitspreis HT i.H.v. 18,19 ct/kWh und Arbeitspreis NT i.H.v. 15,12 ct/kWh ist als sog. Sockelbetrag den Abrechnungen zu Grunde zu legen.
50Der Energieversorger kann, wenn der Kunde eine auf der Grundlage einer nach den jeweiligen Vorschriften öffentlich bekannt gegebenen einseitigen Preiserhöhung vorgenommene Jahresabrechnung des Versorgungsunternehmens akzeptiert hat, indem er weiterhin Energie bezogen hat, ohne die Preiserhöhung in angemessener Zeit gemäß § 315 BGB zu beanstanden, das in dieser Jahresabrechnung berücksichtigte Preisniveau künftigen Abrechnungen als Sockelbetrag zugrunde legen. Denn in diesem Fall wird der zum Zeitpunkt der Jahresabrechnung geltende, zuvor einseitig erhöhte Tarif zu dem zwischen den Parteien vereinbarten Preis. Er kann deshalb im Rahmen einer weiteren Preiserhöhung nicht mehr gemäß § 315 Abs. 3 BGB auf seine Billigkeit überprüft werden (BGH, Urteil vom 13.06.2007, Az. VIII ZR 36/06).
51Entgegen der Ansicht des Beklagten hat der Bundesgerichtshof diese Rechtsprechung nicht durch das Urteil vom 14.03.2012, Az. VIII ZR 113/11 abgeändert. Insoweit lagen den Entscheidungen grundlegend verschiedene Konstellationen vor. Während es in dem Urteil vom 14.03.2012 um die Unwirksamkeit einer in einem Sondervertrag vereinbarten Preiserhöhungsklausel ging, die durch eine ergänzende Vertragsauslegung ersetzt wurde, ging es im Urteil vom 13.06.2007 – wie im vorliegenden Fall –, um ein gesetzlich verankertes einseitiges Preiserhöhungsrecht, welches einer Billigkeitskontrolle gem. § 315 BGB unterliegt. Auch zum damaligen Zeitpunkt unterschied der Bundesgerichtshof entgegen der Ansicht des Beklagten schon zwischen Tarif- und Sondervertragskunden. Demnach sind die von dem Bundesgerichtshof im Urteil vom 13.06.2007 niedergelegten Grundsätze vorliegend zu berücksichtigen.
52Der von der Klägerin in den Neuabrechnungen zugrunde gelegte Preisstand mit einem Arbeitspreis HT i.H.v. 18,19 ct/kWh und Arbeitspreis NT i.H.v. 15,12 ct/kWh entspricht dem Preisstand nach einer Preiserhöhung zum 01.02.2009. Diese Preiserhöhung hat die Klägerin zuvor mit einer Anzeige vom 18.12.2008 (Anlage K15) gem. § 5 Abs.2 StromGVV öffentlich bekannt gemacht. Zudem wurde der Beklagte mit Schreiben vom 04.12.2008 (Anlage K 12) über die Preiserhöhung informiert.
53Diesen Preisstand hat der Beklagte akzeptiert, indem er weiterhin Energie bezogen hat, ohne der Preiserhöhung als Bestandteil der letzten Jahresabrechnung in angemessener Zeit i.S.v. § 315 BGB zu widersprechen.
54Mit Schreiben vom 18.12.2009 (Anlage K 13) erhielt der Beklagte die Jahresrechnung für den Zeitraum vom 26.11.2008 bis zum 20.11.2009. In dieser wird der Stromverbrauch ab dem 01.02.2009 mit dem Preisstand entsprechend der zuvor unter dem 18.12.2008 öffentlich bekannt gemachten Preiserhöhung berechnet. Der Widerspruch des Klägers erfolgte erst am 02.11.2010, also über zehn Monate nach dem Datum der Jahresabrechnung vom 18.12.2009, und damit nicht innerhalb angemessener Zeit i.S.v. § 315 BGB.
55Unerheblich ist entgegen der Ansicht des Beklagten, dass er seinen Widerspruch gegen die Preiserhöhung zeitlich unbegrenzt erhoben haben will. Darauf kommt es nicht an, da zu diesem Zeitpunkt entsprechend den obigen Ausführungen der Sockelbetrag bereits als vereinbart anzusehen ist und ein nachträglicher Widerspruch darauf keine Auswirkungen hat.
56d)
57Der Höhe nach besteht ein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte i.H.v. 18.754,85 €. Dabei ist zu berücksichtigen, dass über einen Betrag i.H.v. 4.500,00 € ein inzwischen rechtskräftiges Teilanerkenntnisurteil ergangen ist.
58Da der Beklagte keine Berechnungsfehler oder sonstige gem. § 17 Abs.1 Nr.1 StromGVV offensichtliche Fehler aufgezeigt hat und solche auch nicht ersichtlich sind, kann auf die Berechnungen der Klägerin in den Rechnungen vom 24.04.2012 und vom 30.01.2013 Bezug genommen werden. Die Klägerin ist auch nicht gehindert gewesen, eine zuvor mit anderen Preisen erteilte Rechnung durch eine neue Rechnung unter Zugrundelegung des Sockelbetrages zu ersetzen. Insoweit entfaltet die zuerst erteilte Rechnung keine Bindungswirkung (BGH, Urteil vom 13.06.2007, Az. VIII ZR 36/06).
59Demnach steht der Klägerin gegen die Beklagte für den Zeitraum vom 21.11.2009 bis zum 27.11.2010 ein Anspruch i.H.v. 12.566,82 €, für den Zeitraum vom 28.11.2010 bis zum 24.11.2011 ein Anspruch i.H.v. 11.732,46 € und für den Zeitraum vom 25.11.2011 bis zum 14.11.2012 ein Anspruch i.H.v. 10.450,23 € zu, was zu einem Gesamtzahlungsanspruch i.H.v. 34.749,51 € führt, wovon geleistete Vorauszahlungen i.H.v. 15.994,66 € in Abzug zu bringen sind.
60e)
61Der Anspruch des Klägers ist mangels Ablaufs der Verjährungsfrist nicht verjährt und auch nicht verwirkt. Insoweit wird auf die überzeugenden Ausführungen in dem angegriffenen Urteil verwiesen, welche von dem Beklagten auch nicht angegriffen werden.
62f)
63Soweit der Beklagte eine Aufklärungspflichtverletzung durch die Klägerin rügt, ist nicht ersichtlich, welche Rechte oder Einwendungen er daraus geltend machen will. Dies kann auch dahingestellt bleiben, da der Klägerin eine solche Verletzung mangels Bestehen einer Aufklärungspflicht nicht vorgeworfen werden kann. Die Klägerin war und ist nicht verpflichtet, den Beklagten ungefragt auf andere Tarife hinzuweisen. Vielmehr obliegt es dem Beklagten, der einen sehr hohen Stromverbrauch hat, hinsichtlich günstigerer Tarife bei der Klägerin nachzufragen und den Abschluss eines Sondervertrages herbeizuführen. Im Übrigen wurden dem Beklagten mit Informationsschreiben vom 04.12.2008 (Anlage K 15) Sondertarife angeboten.
64g)
65Der Rechtsstreit ist auch nicht nach § 148 ZPO direkt oder analog auszusetzen. Das Verfahren des Bundesgerichtshofs, Az. VIII ZR 71/10, ist nicht vorgreiflich. Dort kommt es ausweislich der Begründung des Beschlusses auf die Wirksamkeit des einseitigen Preisänderungsrechts insbesondere im Hinblick auf Anlass, Voraussetzungen und Umfang des einseitigen Leistungsbestimmungsrechts an. Im vorliegenden Fall geht es jedoch, da die Klägerin ihren Abrechnungen einen nicht rechtzeitig widersprochenen Sockelbetrag zugrunde legt, nicht um ein einseitiges Preisänderungsrecht, sondern um einen als vertraglich vereinbart anzusehenden Preis. § 5 StromGVV bezieht sich nur auf einseitige Änderungen des Allgemeinen Preises, nicht auf Preisvereinbarungen (BGH, Urteil vom 13.04.2011, Az. VIII ZR 127/10). Folglich hat die Entscheidung des Bundesgerichtshofs in dem Verfahren Az. VIII ZR 71/10 keine Auswirkungen auf den hier vorliegenden Rechtsstreit.
66h)
67Der Zinsanspruch folgt aus § 288 Abs.1 BGB.
683.
69Die Klägerin hat gegen den Beklagten auch einen Anspruch auf Zutrittsgewährung zu der Verbrauchsstelle und Duldung der Unterbrechung der Stromversorgung gem. § 19 Abs.2 StromGVV.
70Nach § 19 Abs.2 S.1 StromGVV ist der Grundversorger berechtigt, bei anderen Zuwiderhandlungen als in § 19 Abs.1 StromGVV aufgeführt, insbesondere bei der Nichterfüllung einer Zahlungsverpflichtung trotz Mahnung die Grundversorgung vier Wochen nach Androhung unterbrechen zu lassen und den zuständigen Netzbetreiber nach § 24 Abs. 3 der Niederspannungsanschlussverordnung mit der Unterbrechung der Grundversorgung zu beauftragen.
71Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.
72Der Beklagte befindet sich entsprechend den obigen Ausführungen mit einem erheblichen Betrag in Verzug, so dass auch nicht der Ausschlussgrund gem. § 19 Abs.2 S.4 StromGVV gegeben ist. Die Stromsperre wurde auch mit Schreiben vom 24.04.2012 rechtzeitig angekündigt.
73Nach § 19 Abs.2 S.2 StromGVV besteht jedoch kein Recht zur Unterbrechung der Versorgung, wenn die Folgen der Unterbrechung außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung stehen oder der Kunde darlegt, dass hinreichende Aussicht besteht, dass er seinen Verpflichtungen nachkommt. Diese Voraussetzungen hat der insoweit darlegungs- und beweispflichtige Beklagte bereits nicht dargelegt. Er hat weder eine Unangemessenheit der Folgen der Unterbrechung noch eine hinreichende Aussicht vorgetragen, dass er seinen Verpflichtungen nachkommt. Dabei beziehen sich die genannten Verpflichtungen entgegen der Ansicht des Beklagten nicht auf die künftigen, sondern die offenen Zahlungsverbindlichkeiten, die den Grund für die Unterbrechung der Stromversorgung darstellen. Insoweit dient die sog. „Stromsperre“ als Druckmittel nämlich vorwiegend der Erfüllung offener Verbindlichkeiten, was sich insbesondere aus § 19 Abs.2 S.4 StromGVV ergibt. Aus diesem Grund bedarf es auch keines Vortrags der Klägerin, dass der Beklagte künftig seine Zahlungsverpflichtungen nicht erfüllen wird, was jedoch aufgrund des erheblichen Zahlungsrückstandes zu vermuten wäre. Vielmehr muss der Beklagte darlegen, dass hinreichende Aussicht besteht, dass er die Rückstände zahlen wird. Diesbezüglich fehlt es jedoch – wie bereits dargestellt – an einem Vortrag.
74Entgegen der Ansicht des Beklagten trifft die Klägerin auch kein Mitverschulden. Vielmehr ist der Beklagte für die Höhe der Forderung und den Verzug ausschließlich allein verantwortlich. Eine Verpflichtung der Klägerin, den Beklagten vor hohen Stromschulden zu bewahren, besteht nicht.
75Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung ist die Unterbrechung der Stromversorgung auch als verhältnismäßig anzusehen.
76III.
77Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97 Abs.1, 708 Nr.10, 711 ZPO.
78Die Revision war nicht zuzulassen, da kein Grund gem. § 543 Abs. 2 ZPO gegeben ist.
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