Beschluss vom Oberlandesgericht Hamm - 3 Ws 67/20
Tenor
1. Der Beschluss des Landgerichts Bielefeld vom 27. Dezember 2019 wird aufgehoben.
2. Die Vollstreckung des Strafrests aus dem Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 2. Oktober 2018 in Verbindung mit dem Urteil des Amtsgerichts Mönchengladbach vom 8. Dezember 2017 wird nach Verbüßung von mehr als zwei Dritteln der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Die Verurteilte ist vorläufig bedingt aus der Strafhaft entlassen.
3. Die Dauer der Bewährungszeit beträgt drei Jahre.
4. Die Verurteilte wird für die Dauer der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung eines von der Strafvollstreckungskammer noch namentlich zu benennenden Bewährungshelfers oder einer namentlich noch zu benennenden Bewährungshelferin unterstellt.
5. Die Verurteilte wird – mit ihrem Einverständnis – angewiesen, unverzüglich eine ambulante medizinische Behandlung für Abhängigkeitskranke bei der r Sucht- und Drogenberatung in C zu beantragen, nach Bewilligung an der Behandlung teilzunehmen und die Teilnahme nicht gegen den Rat der Behandler und ohne Absprache mit ihrem Bewährungshelfer oder ihrer Bewährungshelferin abzubrechen.
6. Die Belehrung über die Bedeutung der Aussetzung zur Bewährung wird der Leiterin der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne übertragen.
7. Die Landeskasse hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Verurteilten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
1
Gründe:
2I.
3Die Verurteilte wurde mit Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 2. Oktober 2018 in Verbindung mit Urteil des Amtsgerichts Mönchengladbach vom 8 Dezember 2017 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln und vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt. Die Strafe wird seit dem 2. April 2019 in der JVA Bielefeld-Senne vollstreckt. Die Hälfte der Strafe war am 28. Oktober 2019, zwei Drittel waren am 8. Januar 2020 vollstreckt. Strafende ist auf den 30. Mai 2020 notiert.
4Mit Führungsbericht vom 24. Juli 2019 sprach sich die Leiterin der JVA Bielefeld-Senne für eine bedingte Entlassung der Verurteilten aus, die Staatsanwaltschaft Mönchengladbach widersprach einer bedingten Entlassung nicht. Nach mündlicher Anhörung der Verurteilten lehnte die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 24. Oktober 2019 die bedingte Entlassung nach Verbüßung der Hälfte der Strafe ab.
5Mit weiterem Führungsbericht vom 20. November 2019 hat die Leiterin der JVA Bielefeld-Senne eine bedingte Entlassung der Verurteilten erneut befürwortet. Die Staatsanwaltschaft Mönchengladbach hat einer bedingten Entlassung mit Verfügung vom 29. November 2019 widersprochen. Die Strafvollstreckungskammer hat die Verurteilte am 18. Dezember 2019 noch einmal mündlich angehört. Mit Beschluss vom 27. Dezember 2019 hat die Strafvollstreckungskammer die bedingte Entlassung der Verurteilten auch nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe abgelehnt und ihre Entscheidung mit den Vorstrafen, dem Bewährungsversagen, der Rückfallgeschwindigkeit und einer therapeutisch nicht bearbeiteten Drogenproblematik begründet.
6Hiergegen wendet sich die Verurteilte mit der fristgerecht von ihrem Verteidiger eingelegten sofortigen Beschwerde. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen.
7II.
8Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
9Die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung und bedingte Entlassung der Verurteilten aus der Strafhaft gem. § 57 Abs. 1 StGB liegen vor. Zwei Drittel der Strafe sind verbüßt. Die Verurteilte ist mit der Strafaussetzung zur Bewährung einverstanden. Eine Entlassung der Verurteilten aus der Strafhaft ist mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit vereinbar.
10Die Verurteilte verbüßt erstmals eine Freiheitsstrafe. Ihre Führung während des Vollzugs hat keinerlei Anlass zu Beanstandungen gegeben. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass die Strafe ihre spezialpräventiven Wirkungen entfaltet hat und es verantwortbar ist, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 25.04. 2003 – 1 AR 266/03 –, beck-online; Fischer, StGB, 67. Auflage 2020, § 57, Rn. 14).
11Es ist kein strengerer Beurteilungsmaßstab anzulegen, weil der erstmaligen Strafverbüßung bereits ein (mehrfacher) Bewährungsbruch vorangegangen und die Verurteilte vor ihrer erstmaligen Inhaftierung bereits mehrfach und innerhalb kürzerer Zeit straffällig geworden ist. Denn im Gegensatz zu § 56 Abs. 1 StGB stellt die nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu treffende Prognoseentscheidung nicht auf die Erwartung ab, die Verurteilte werde ohne die Einwirkung – weiteren – Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Haftentlassung verantwortet werden kann. Dieser unterschiedliche Maßstab beruht darauf, dass die Verurteilte die gegen sie verhängte Strafe bereits teilweise als Freiheitsentzug erlitten hat und im Strafvollzug resozialisierend auf sie eingewirkt worden ist (vgl. Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, § 57, Rn. 10). Entscheidend für die Prognose nach § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist demgemäß eine Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen des erlittenen Strafvollzugs für das künftige Leben der Verurteilten in Freiheit einerseits und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit andererseits. Isolierte Aussagen über die Wahrscheinlichkeit künftiger Straflosigkeit der Verurteilten sind daher wenig hilfreich. Vielmehr muss stets der Bezug zu den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit im Auge behalten werden. Dies bedeutet, dass je nach der Schwere der Straftaten, die von der Verurteilten nach Erlangung der Freiheit im Falle eines Bewährungsbruchs zu erwarten sind (vgl. § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB), unterschiedliche Anforderungen an das Maß der Wahrscheinlichkeit für ein künftiges strafloses Leben der Verurteilten zu stellen sind (BGH, a. a. O.; Kinzig, a. a. O., Rn. 15). Dabei muss berücksichtigt werden, inwieweit einem Rückfallrisiko durch Auflagen und Weisungen (§ 57 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 i.V. mit §§ 56b, 56c StGB) entgegengewirkt werden kann (Kinzig, a. a. O., § 57, Rn. 14). Das Gewicht der bei einem Rückfall drohenden Rechtsgutsverletzung wird im Regelfall wiederum nach Art und Schwere der Straftaten zu beurteilen sein, die die Verurteilte bereits begangen hat (BGH, a. a. O.). Daran gemessen ist die Chance künftiger Straffreiheit der Verurteilten ausreichend, um ihre bedingte Entlassung aus der Strafhaft mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit vereinbaren zu können.
12Zwar liegt dem zurzeit vollstreckten Urteil unter anderem unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln zugrunde. Auch konsumiert die Verurteilte seit mindestens fünf Jahren regelmäßig Cannabis und Amphetamine, ohne sich deshalb bislang behandelt haben zu lassen. Gleichwohl erwartet der Senat insoweit künftig keine schwerwiegenden Straftaten. Die auch bei Erstverbüßern eine ausreichend günstige Prognose verneinende Rechtsprechung, wenn eine unbehandelte Drogenproblematik besteht, ist im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Denn diese Einschränkung betrifft vor allem Konstellationen, in denen der Inhaftierte selbst mit Drogen gehandelt hat, so dass ohne Therapie mit einer Fortsetzung des Drogenhandels nach der Entlassung und deshalb mit einer erheblichen Gesundheitsgefährdung der Allgemeinheit zu rechnen ist (vgl. z. B. OLG Frankfurt, Beschluss vom 12. Mai 2014 – 3 Ws 381/14 –; OLG Koblenz, Beschluss vom 2. April 2013 – 2 Ws 150/13 –, beide zitiert nach juris). So verhält es sich hier gerade nicht. Denn die Bestrafung der Verurteilten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln beruhte weder auf ihrem eigenen Drogenkonsum noch auf eigenem Drogenhandel. Nach den Feststellungen im Anlassurteil wurden von dem Bruder der Verurteilten in seiner Wohnung gelagerte Drogen, nachdem er von der Polizei festgenommen worden war, von einem Komplizen ihres Bruders in der Wohnung der Verurteilten versteckt. Aus dem von der Verurteilten beantworteten Fragebogen der JVA Bielefeld-Senne, der zusammen mit dem Führungsbericht vom 24. Juli 2019 vorgelegt worden ist, ergibt sich, dass die Verurteilte die Tat in erster Linie begangen hat, weil sie sich für ihren Bruder verantwortlich gefühlt und Sorgen gemacht hat, dass dieser „immer tiefer reinrutschen würde“. Die Verurteilte war bis dahin auch noch nicht mit Betäubungsmitteldelikten in Erscheinung getreten. Der Senat hält es deshalb für realistisch, dass die Verurteilte sich – zumal nach dem Eindruck der erlittenen Strafhaft – künftig nicht erneut zu vergleichbarem Fehlverhalten hinreißen lässt. Sie wird nach ihrer Haftentlassung nicht mehr in ihr altes Umfeld in Mönchengladbach zurückkehren, sondern in den gemeinsamen Haushalt mit ihrem neuen Lebensgefährten und Ehemann in C ziehen. Zu dieser räumlichen und nach den Angaben der Verurteilten auch sozialen Distanzierung kommt hinzu, dass der Empfangsraum vom Sozialdienst der JVA als stabil eingeschätzt wird; Gesichtspunkte, die gegen die Richtigkeit dieser Einschätzung sprechen, ergeben sich aus den Akten nicht.
13Die übrigen der Verurteilung und den Vorstrafen zugrunde liegenden Taten lassen im Falle eines Rückfalls keine schwerwiegenderen Taten erwarten. Es überspannt daher die Anforderungen, die Aussetzung des Vollzugs des Strafrests zur Bewährung davon abhängig zu machen, dass die Verurteilte ihre Drogenproblematik erfolgreich hat behandeln lassen. Vielmehr können die bestehenden Rückfallrisiken durch die Bestellung einer Bewährungshelferin oder eines Bewährungshelfers gem. § 57 Abs. 1 Halbs. 1, § 56d StGB und die Weisung, nach der Entlassung an einer ambulanten Suchtbehandlung teilzunehmen, so weit eingedämmt werden, dass auch unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit die bedingte Haftentlassung verantwortet werden kann. Die Verurteilte hat bereits selbständig Kontakt zur Drogenberatung aufgenommen. Sie ist mit der Teilnahme an einer ambulanten Behandlung nach ihrer Entlassung einverstanden. Dies ist von der Drogenberatung bestätigt worden.
14Die Übertragung der Belehrung über die Bedeutung der Bewährungsaussetzung auf die Justizvollzugsanstalt beruht auf §§ 268a Abs. 3, 453a, 454 Abs. 4 Satz 2 StPO.
15Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.
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Referenzen
- Beschluss vom Oberlandesgericht Koblenz (2. Strafsenat) - 2 Ws 150/13 1x
- StGB § 56b Auflagen 1x
- StGB § 56 Strafaussetzung 1x
- StPO § 268a Aussetzung der Vollstreckung von Strafen oder Maßregeln zur Bewährung 1x
- 1 AR 266/03 1x (nicht zugeordnet)
- 3 Ws 381/14 1x (nicht zugeordnet)
- StGB § 56c Weisungen 1x
- StPO § 453a Belehrung bei Strafaussetzung oder Verwarnung mit Strafvorbehalt 1x
- StGB § 56d Bewährungshilfe 1x
- StGB § 57 Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe 4x
- StPO § 454 Aussetzung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung 1x
- StPO § 467 Kosten und notwendige Auslagen bei Freispruch, Nichteröffnung und Einstellung 1x