Beschluss vom Oberlandesgericht Hamm - 5 RVs 42/22
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der XXVI. kleinen Strafkammer des Landgerichts Essen vom 22.11.2021 hat der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 21.04.2022
nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft einstimmig beschlossen:
Das angefochtene Urteil wird mit den zu Grunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zurückverwiesen.
1
Gründe
2I.
3Das Amtsgericht hat den Angeklagten durch Urteil vom 11.06.2021 unter Einbeziehung der Strafe des Amtsgerichts Recklinghausen vom 21.10.2020 (Az.: 81 Ds – 141 Js 21/20) und unter Auflösung der Gesamtstrafe und unter Einbeziehung der Strafen aus dem Urteil des AG Essen (Az.: 46 Ds – 14 Js – 415/20 – 159/20), wobei es die dortige Geldbuße aufrechterhielt, wegen Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Es hat ihn darüber hinaus wegen eines versuchten gefährlichen Eingriffs in den Schienenverkehr zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt.
4Die hiergegen gerichtete Berufung des Angeklagten hat das Landgericht mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass der Angeklagte wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt wird und es im Übrigen bei dem Urteilsausspruch des Amtsgerichts Essen „verbleibt“.
5Zur Sache hat das Landgericht folgende Feststellungen getroffen:
61.
7„Der Angeklagte erklärte am 15.05.2020 gegen 12:00 Uhr gegenüber dem späteren Geschädigten A auf der in der Zwischenebene befindlichen, abwärts fahrenden Rolltreppe am Hauptbahnhof Essen, er werde ihn jetzt von der Rolltreppe treten. Daraufhin trat der Angeklagte den Geschädigten A bewusst und zielgerichtet in den Rücken, so dass dieser zwei bis drei Stufen nach unten stolperte. Dem Geschädigten A gelang es, sich an den sich an dem Handlauf der Rolltreppe fest zu halten und so einen Sturz die Rolltreppe hinunter zu vermeiden.
82.
9Als sie auf der unteren Ebene angekommen waren, kam es zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten A zu einer verbalen Diskussion. Der Angeklagte zeigte sich äußerst aggressiv und schlug dem Geschädigten A mit seiner geballten linken Faust bewusst und zielgerichtet auf die rechte Wange, welche sich infolge dessen rötete und zu pochen begann.
10Der Geschädigte A stellte am 15.05.2020 Strafantrag.
113.
12Am 13.01.2021 gerieten der Angeklagte und eine weitere unbekannte Person in der Mittagszeit auf dem Bahnsteig bei Gleis 11/12 des Essener Hauptbahnhofs in eine verbale Auseinandersetzung. Verärgert warf der Angeklagte das Fahrrad der Person bewusst und zielgerichtet in das neben ihm befindliche Gleisbett. Obwohl das Fahrrad teilweise auf den Schienen liegen blieb, beließ der Angeklagte es in dem Gleisbett und verließ den Bahnsteig. Der Angeklagte nahm hierbei billigend in Kauf, dass in das Gleis einfahrende Züge mit dem Fahrrad kollidieren könnten und er dementsprechend durch sein Verhalten Leib oder Leben anderer Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdete.“
13Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Revision. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts, jeweils in allgemeiner Form. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
14II.
15Die zulässige Revision des Angeklagten hat Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den zu Grunde liegenden Feststellungen und zur Zurückverweisung der Sache (§§ 349 Abs. 4; 353; 354 Abs. 2 StPO).
16Die Überprüfung des angefochtenen Urteils auf die Sachrüge hin hat durchgreifende Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten ergeben.
171.
18Die Feststellungen zu den Taten 1) und 2) (Geschehen auf bzw. am Fuße der Rolltreppe) tragen eine Verurteilung wegen (vollendeter) vorsätzlicher Körperverletzung nicht.
19Eine Körperverletzung nach § 223 StGB begeht, wer einen anderen körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt.
20Eine Gesundheitsbeschädigung oder körperliche Misshandlung i.S.v. § 223 StGB ist in keinem der beiden Fälle hinreichend festgestellt worden.
21Unter einer Gesundheitsbeschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines krankhaften Zustandes zu verstehen (OLG Hamm, Beschl. v. 28.04.2016 – III-3 RVs 30/16 –, juris m.w.N.). Diese muss über eine ganz geringfügige Einwirkung auf die körperliche Integrität hinausgehen (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 31.03.2005 – 1 Ss 4/05 – juris).
22Die körperliche Misshandlung ist ein übles, unangemessenes Behandeln, das dass körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt (BGH JR 2016, 707; Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 223 Rdn. 3). Die Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens setzt nicht unbedingt das Zufügen eines Schmerzes voraus (BGH, Urt. v. 23. 01.1974 - 3 StR 324/73 - juris). Es darf sich aber nicht nur um eine ganz unerhebliche Einwirkung handeln (OLG Düsseldorf NJW 1991, 2918, 2919; OLG Hamm a.a.O.). Die Beurteilung der Erheblichkeit bestimmt sich dabei nach der Sicht eines objektiven Betrachters - nicht nach dem subjektiven Empfinden des Betroffenen - und richtet sich insbesondere nach Dauer und Intensität der störenden Beeinträchtigung (BGH, Urt. v. 14.01.2009 - 1 StR 554/08 - juris; OLG Hamm a.a.O.)
23Bzgl. der Tat 1) (Geschehen auf der Rolltreppe) ist zur Gesundheitsbeschädigung bzw. zu einer körperlichen Misshandlung in dem oben genannten Sinne gar nichts festgestellt. Es mag zwar naheliegen, dass ein Tritt in den Rücken, der zu einem Stolpern führt, das körperliche Wohlbefinden regelmäßig nicht nur unerheblich beeinträchtigt, so zwingend, dass bei dem festgestellten Tatgeschehen aber zwangsläufig – ohne ausdrückliche Feststellungen hierzu – davon auszugehen wäre, ist das nicht (vgl. auch zu Tritten: OLG Düsseldorf a.a.O.).
24Bzgl. der Tat 2) (Geschehen am Fuß der Rolltreppe) ist lediglich festgestellt, dass die Wange sich infolge des Schlages „rötete und zu pochen begann“. Ob das „Pochen“ bereits das körperliche Wohlbefinden in mehr als nur unerheblichem Maße beeinträchtigt hat, ergeben die bisherigen Feststellungen nicht. Zweifel daran könnten bestehen, weil der Geschädigte ausweislich der Ausführungen in der Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils ausdrücklich erklärt hat, er habe keine Schmerzen erlitten, die Wange sei „heiß“ geworden und er sei „hart im Nehmen“.
25Ob die Rötung bereits die Schwelle zu einer Gesundheitsbeschädigung überschritten hat, lässt sich auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen ebenfalls nicht beurteilen. Regelmäßig ist eine bloße Rötung noch keine Gesundheitsbeschädigung (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 31.03.2005 – 1 Ss 4/05 – juris). Ob bei einer sehr starken oder sehr lang anhaltenden Rötung etwas anderes zu gelten hat, muss der Senat derzeit nicht beurteilen.
26Bzgl. beider Taten kommt hinzu, dass die Beweiswürdigung des Landgerichts insoweit lückenhaft ist, als es seine Überzeugung (auch) auf die Konstanz der Aussagen des Geschädigten bei Polizei, Amtsgericht und im Berufungsverfahren stützt, ohne die Angaben bei Polizei und Amtsgericht auch nur im Ansatz wiederzugeben. Eine Überprüfung der Beweiswürdigung durch das Revisionsgericht auf Rechtsfehler ist insoweit daher nicht möglich.
27Angesichts dessen kann der Senat dahinstehen lassen, ob auch die Beweiswürdigung bzgl. der Tat 2) einen durchgreifenden Rechtsmangel in Form der Lückenhaftigkeit aufweist, weil die Kammer eine – offenbare von den Bekundungen des Geschädigten in der Hauptverhandlung abweichende - „Sachverhaltsschilderung im Rahmen seines Strafantrags“ in ihre Erwägungen mit einbezieht, ohne diese Sachverhaltsschilderung näher darzustellen.
28Weitere Feststellungen zu beiden Taten sind möglich.
292.
30Die getroffenen Feststellungen tragen auch keine Verurteilung nach §§ 315 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 StGB, da die Beweiswürdigung die Feststellung eines Tatentschlusses bzgl. der hierfür erforderlichen konkreten Gefährdung („und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet“; vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 315 Rdn. 2) nicht trägt. Das Landgericht geht von einem Eventualvorsatz des Angeklagten bzgl. einer Gefährdung aus (UA S. 214). Dieser wird im Rahmen der Beweiswürdigung nicht belegt. Das Bewusstsein, fremde Rechtsgüter zu gefährden reicht nicht. Erforderlich ist vielmehr, dass der Täter die Umstände kennen und billigend in Kauf nehmen muss, die einen konkreten Schadenseintritt als nahe liegende Möglichkeit erscheinen lassen (vgl. BGH NStZ-RR 1998, 150; Fischer, StGB, 69. Aufl., § 315 Rdn. 18). Aus der Beweiswürdigung ergibt sich, dass ein Zugfahrer wegen des auf den Gleisen liegenden Fahrrades eine Bremsung, durch die niemand zu Schaden gekommen sei, habe einleiten müssen und dass eine Person das Fahrrad aus dem Gleisbett geholt habe (offenbar bevor der Zug herangenaht war, vgl. UA S. 218). Es sind aber keine Umstände erkennbar, aus denen erkennbar wird, dass der Angeklagte erkannt hätte, dass das Herannahen eines Zuges, nachdem er das Fahrrad auf die Gleise geworfen hatte, unmittelbar bevorstand (etwa durch Anzeige einer unmittelbar bevorstehenden Ankunftszeit auf der Informationstafel; bereits Sichtkontakt zum herannahenden Zug, o.ä.). Allein der Umstand, dass der Angeklagte nach eigener Einlassung gewusst hat, dass zur Tatzeit „vergleichsweise viele“ Züge in den Bahnhof ein- und ausfahren, lässt für sich genommen noch nicht auf einen Gefährdungsvorsatz in dem o.g. Sinne schließen.
31Weitere Feststellungen sind indes möglich.
323.
33Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass die Ausführungen zu § 47 StGB, der Angeklagte habe aus „nichtigem Anlass“ gehandelt, ebenfalls nicht frei von rechtlichen Bedenken sind nachvollziehbare, verständliche Motive für eine Tatbegehung sind strafmildernd, das bloße Fehlen verständlicher Motive jedoch nicht strafschärfend zu berücksichtigen. Es wäre rechtsfehlerhaft, dem Fehlen eines Strafmilderungsgrunds strafschärfende Bedeutung beizumessen (OLG Hamm, Beschl. v. 08.10.2020 – III-4 RVs 108/20 –juris m.w.N.).
34Der Senat konnte vor Ablauf der Frist des § 349 Abs. 3 StPO entscheiden, da der Angeklagte mit seinem Revisionsantrag in vollem Umfang durchdringt.
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