Urteil vom Oberlandesgericht Karlsruhe - 3 Ss 81/04

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten werden das Urteil des Landgerichts - 11. Kleine Strafkammer - M. vom 15. März 2004 und das Urteil des Amtsgerichts W. vom 22. Juli 2003 aufgehoben.

2. Der Angeklagte wird freigesprochen.

3. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

 
I. Das Amtsgericht W. verurteilte den Angeklagten am 22.07.2003 wegen übler Nachrede zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 25 EUR. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft - diese hatte ihr Rechtsmittel auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt - erkannte das Landgericht M. am 15.03.2004 - unter Bewilligung von Ratenzahlung - auf eine Strafe von 100 Tagessätzen zu je 25 EUR. Die weitergehende Berufung der Staatsanwaltschaft und die Berufung des Angeklagten wurden verworfen.
Hiergegen richtet sich die auf Verfahrensbeanstandungen und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten.
Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg. Einer Erörterung der Verfahrensrügen bedarf es daher nicht.
II. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte, der entschiedener Gegner von Schwangerschaftsabbrüchen ist, in der ersten Hälfte des Jahres 2002 ein Flugblatt, dessen kompletter Inhalt Bestandteil der Urteilsfeststellungen ist und das sich gegen die derzeit geltenden gesetzlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs wendet, erstellt und es am 14.09.2002 in der L’er Innenstadt verteilen lassen. In diesem Flugblatt wird u.a. behauptet, der Gynäkologe Dr. ... führe in seiner Praxis, deren Anschrift mitgeteilt wird, rechtswidrige Abtreibungen durch. Diese Behauptung ist insoweit unwahr, als Dr. ... seit 17 Jahren keine Schwangerschaftsabbrüche mehr in seiner Praxis durchführt. Das Landgericht ist der Auffassung, die wahrheitswidrige Behauptung, Dr. ... führe in seiner Praxis (rechtswidrige) Abtreibungen durch, sei geeignet, ihn verächtlich zu machen und in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen.
III. Diese Auffassung teilt der Senat nicht. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen tragen weder eine Verurteilung wegen übler Nachrede noch eine solche wegen Beleidigung.
1. Die Behauptung, Dr. ... führe in seiner Praxis Abtreibungen durch, ist unzweifelhaft eine - reine - Tatsachenbehauptung, da sie dem Wahrheitsbeweis uneingeschränkt zugänglich ist (zur Abgrenzung zwischen Werturteilen und Tatsachenbehauptungen vgl. die Nachweise bei Tröndle/Fischer StGB 52. Auflage § 186 Rdnr. 2 f). Diese Tatsachenbehauptung wird aber auch nicht dadurch zum Werturteil, dass die Abtreibungen als „rechtswidrig“ bezeichnet werden (ebenso mit zutreffender Begründung OLG Karlsruhe NJW 2003, 2029-2032 im Zusammenhang mit einem zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch entsprechender Äußerungen).
Die Bewertung eines - ohne Feststellung einer Indikation - nach der Beratungsregelung vorgenommenen Schwangerschaftsabbruchs als „rechtswidrig“ steht insoweit in Einklang mit der Rechtsordnung, als das Bundesverfassungsgericht sich der gleichen Terminologie bedient (NJW 1993, 1751 ff), weswegen eine entsprechende Einschätzung per se nicht ehrenrührig sein kann. Durch die Verwendung des Adjektivs „rechtswidrig“ wird im vorgegebenen Kontext auch für den flüchtigen Leser - wobei offen bleiben kann, ob es hierauf überhaupt ankommt (vgl. hierzu BVerfGE 43, 130-141) - nicht suggeriert, Dr. ... führe illegale Abtreibungen durch. Bereits auf der Vorderseite des Flugblattes direkt im Anschluss an die Behauptung der Durchführung rechtswidriger Abtreibungen wird dies nämlich dahingehend präzisiert, dass diese Abtreibungen vom deutschen Gesetzgeber erlaubt und nicht unter Strafe gestellt seien. Der „Beratungsschein“ schütze vor Strafverfolgung, nicht aber vor der Verantwortung vor Gott. Auf der linken Seite des Flugblattes werden die Leitsätze 4 und 15 der genannten bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung vom 28.05.1993 betreffend die Rechtswidrigkeit des indikationslosen Schwangerschaftsabbruchs wiedergegeben.
Darunter findet sich ein Zitat von Christoph-Wilhelm Hufeland, welches sich mit der Profession des Arztes als „Lebenserhalter“ beschäftigt. Der Angeklagte zitiert ferner „sinngemäß aus internationalen Strafgesetzen: Mord ist das vorsätzliche „Zu-Tode-Bringen“ eines unschuldigen Menschen!“ und stellt fest: „Die Ermordung der Menschen in Ausschwitz war rechtswidrig, aber der moralisch verkommene NS-Staats hatte den Mord an den unschuldigen Menschen erlaubt und nicht unter Strafe gestellt.“
Bereits die Interpretation dieser Äußerungen muss der Bedeutung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung - Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG - gerecht werden (vgl. hierzu BVerfGE 43, 130-141 = NJW 1977, 779-800 und StraFO 1999, 166-168 = NJW 1999, 2262-2263). Der Angeklagte hält offenbar jede Form der Abtreibung für naturrechtswidrig und will eine Änderung - Verschärfung - der geltenden gesetzlichen Regelungen der §§ 218 ff StGB erreichen. Vor diesem Hintergrund ist die Bezugnahme auf den „NS-Staat“ zu sehen. Hiermit soll erkennbar dem Rechtspositivismus eine Absage erteilt und zum Ausdruck gebracht werden, dass der Staat trotz Schaffung entsprechender Gesetze nicht die Macht hat, über Recht und Unrecht in einem moralischen, naturrechtlichen Sinne zu entscheiden. Mit Dr. ... als Arzt, der - vermeintlich - Abtreibungen durchführt, hat diese Äußerung nichts zu tun. Auch das „sinngemäße“ Zitat aus den „internationalen Strafgesetzen“ beschäftigt sich nicht mit Dr. ..., sondern bringt die subjektive Überzeugung des Angeklagten hinsichtlich der allgemeinen Geltung eines auch den menschlichen Embryo umfassenden Tötungsverbotes zum Ausdruck.
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2. Anderes gilt für das Zitat von Hufeland insoweit, als drucktechnisch hervorgehoben wird, dass „der Arzt ... zum gefährlichsten Menschen im Staate“ wird, der sich anmaßt, in irgendeiner Form eine Entscheidung gegen das Leben zu fällen und nach dieser Entscheidung zu handeln. Dadurch dass der Angeklagte vom „Arzt“ spricht, der durch den Beratungsschein vor Strafe geschützt ist, bringt er zum Ausdruck, dass er der Auffassung ist, dass ein „Arzt“, der Abtreibungen vornimmt, diese Bezeichnung nicht verdient. Durch diese Äußerungen will der Angeklagte sicherlich zum Ausdruck bringen, dass er einen Arzt, der Abtreibungen durchführt, gering schätzt. Im Rahmen der Interpretation des strafrechtlichen Beleidigungstatbestandes darf aber der Begriff der Beleidigung nicht soweit ausgedehnt werden, dass die Erfordernisse des Ehrschutzes überschritten werden oder für die Berücksichtigung der Meinungsfreiheit kein Raum bleibt (so ausdrücklich BVerfG StraFO 1999, 166-168 = NJW 1999, 2262-2263). Hierbei ist zu beachten, dass die vorliegend in Rede stehenden Äußerungen des Angeklagten im Rahmen eines Beitrages zur politischen Willensbildung in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden, fundamentalen Frage, bei der es um den Schutz des Lebensrechts Ungeborener geht, erfolgten. Es besteht in Rechtsprechung und Literatur Einigkeit darüber, dass in diesen Fällen nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG in einer freiheitlichen Demokratie Meinungsäußerungen auch dann toleriert werden müssen, wenn die geäußerte Meinung extrem erscheint (zum Vergleich des Holocaust mit „Babycaust“: BGH VersR 2000, 1162-1164; OLG Karlsruhe NJW 2003, 2029-2032), wobei letztlich dahinstehen kann, ob die Akzeptanz solcher Äußerungen bereits zum Ausschluss des Beleidigungstatbestandes führt oder aber über die Anwendung von § 193 StGB, der als Ausprägung von Art. 5 GG zu verstehen ist (BGHSt 12, 293) und eine umfassende Güter- und Interessenabwägung im Einzelfall verlangt (vgl. nur BVerfG NJW 1992, 2815; 1999, 2262, 2263; 2000, 199, 200; BGHSt 18, 184; 36, 89), den Äußerungen die Rechtswidrigkeit nimmt. Bei Äußerungen im politischen Meinungskampf und in allen Angelegenheiten von öffentlichem Interesse nimmt das Bundesverfassungsgericht (vgl. nur BVerfGE 61, 1-13) - zu Recht - eine prinzipielle Vermutung zugunsten der Meinungsfreiheit an. Abwertende Äußerungen sind in diesem Rahmen angesichts der heutigen Reizüberflutung auch dann hinzunehmen, wenn sie einprägsame und starke Formulierungen enthalten, sofern sie nur im Einzelfall nicht unverhältnismäßig erscheinen (st. Rspr.: BVerfGE 24, 278, 286), was auch für Äußerungen ad personam gilt (vgl. die Rechtsprechungsnachweise bei Tröndle/Fischer StGB 52. Auflage § 193 Rdnr. 17).
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Einschränkungen erfährt der Vorrang der Meinungsfreiheit allerdings dann, wenn der Angegriffene durch die kritischen Äußerungen in seiner Menschenwürde tangiert wird oder es sich um sog. „Schmähkritik“ handelt, d.h. um herabsetzende Äußerungen, bei denen es nicht mehr die Sache geht, sondern die Diffamierung der Person des Angegriffenen im Vordergrund steht (BVerfG AfP 1991, 387-389 = NJW 1991, 1529-1530; BVerfGE 93, 266-284 = NJW 1995, 3303-3310; BVerfG NJW 1999, 2358-2359; BGH VersR 2000, 1162-1164 und NJW 2002, 1192-1194).
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Dr. ... wird durch die Bezeichnung als „Arzt“, der zum „gefährlichsten Menschen im Staate“ werden kann, nicht in seiner Menschenwürde beeinträchtigt, noch handelt es sich hierbei um „Schmähkritik“. Die vorliegenden Formulierungen sind nicht unverhältnismäßig und nicht grob überzogen. Sie halten sich in jeder Hinsicht innerhalb dessen, was im Rahmen der Meinungsfreiheit hingenommen werden muss (sehr viel weitergehend: BGH VersR 2000, 1162-1164; OLG Karlsruhe NJW 2003, 2029-2032; BGH NJW 2002, 1192-1994).
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3. Wenn aber nach den bisherigen Ausführungen eine Strafbarkeit nach § 185 StGB ausscheidet, wobei der Wahrheitsgehalt der potenziell ehrverletzenden Äußerungen schon deswegen unerheblich ist, weil - rein - wertende Äußerungen einem Wahrheitsbeweis nicht zugänglich sind, kann es im Folgenden nur noch darauf ankommen, ob die Behauptung, Dr. ... führe Abtreibungen durch, als solche ehrverletzend sein kann, wobei - wie oben bereits dargestellt - der Bezeichnung der Abtreibungen als „rechtswidrig“ keine eigenständige Bedeutung zukommt.
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Die Strafbarkeit nach § 186 StGB setzt nämlich nicht nur eine unwahre Tatsachenbehauptung voraus - welche nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils insoweit vorliegt, als Dr. ... in seiner Praxis in den vergangen 17 Jahren keine Abtreibungen vorgenommen hat -, sondern diese unwahre Behauptung müsste auch geeignet sein, Dr. ... verächtlich zu machen bzw. ihn der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Da es sich bei dieser Eignung um ein Tatbestandsmerkmal handelt, müsste als Voraussetzung einer Strafbarkeit nach § 186 StGB dessen Vorliegen positiv festgestellt werden können.
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Zwar entfaltet das vom Angeklagten hergestellte und verbreitete Flugblatt eine gewisse „Prangerwirkung“ (vgl. hierzu BGH VersR 2003, 777-778 = NJW 2003, 2011-2012; BVerfGE 97, 391-408 = NJW 1998, 2889-2892; BVerfG NJW 1999, 2358-2359; BGH ZIP 1993, 1801-1804 = BGHR BGB § 1004 Abs. 1 Persönlichkeitsrecht 2; BGH DtZ 1994, 343-345 = BGHR BGB § 823 Abs. 1 Persönlichkeitsrecht 19); hieraus können sich für Dr. ... als Arzt und als Privatperson negative Konsequenzen ergeben. Ob er durch das Flugblatt in seinen Rechten - seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht - verletzt ist und ihm deswegen nach §§ 823, 1004 BGB ein Unterlassungsanspruch zusteht, hat der Senat aber nicht zu entscheiden.
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Entscheidungserheblich ist vorliegend lediglich die objektive Eignung der Äußerung zur Ehrverletzung: Die Äußerung über Dr. ..., er führe Abtreibungen durch, muss geeignet sein, ihn als Person und Arzt in seinem Geltungsanspruch herabzuwürdigen bzw. ihn verächtlich zu machen.
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Abtreibungen - die es zu allen Zeiten unter den verschiedensten rechtlichen Bedingungen gegeben hat - sind nicht gänzlich zu verhindern, weil sich schwangere Frauen in besonders belasteten Situationen befinden können, in denen sie unter keinen Umständen bereit sind, ein Kind zur Welt zu bringen. Auf der anderen Seite gebietet die Schutzpflicht für das ungeborene Leben, die Anzahl der vorgenommenen Abbrüche möglichst zu minimieren. Vor diesem Hintergrund sind die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28.05.1993 (NJW 1993, 1751 ff) und die darauf basierende, derzeit geltende Regelung der §§ 218 ff StGB zu sehen. Nach diesen Normen kommt der Mitwirkung des den Schwangerschaftsabbruch - freiwillig - vornehmenden Arztes eine ganz entscheidende Bedeutung zu. Ohne ärztliche Beteiligung ist eine rechtliche Konzeption, die einen möglichst weitreichenden Lebensschutz auch für das ungeborene Kind gewährleisten soll, nicht denkbar. So weist das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auf die dem Arzt in einem Schutzkonzept einer Beratungsregelung zukommende elementare Funktion hin (aaO, 1762 f). Würden alle Ärzte von dem ihnen nach § 12 Schwangerschaftskonfliktgesetz zustehenden Recht der Verweigerung der Teilnahme an einem Schwangerschaftsabbruch Gebrauch machen, hätte dies zwangsläufig zur Folge, dass fest zur Abtreibung entschlossene Frauen den Weg in die Illegalität nähmen, was es auf jeden Fall zu verhindern gilt. Dann aber kann das Handeln eines Arztes, der sich - möglicherweise nach langer Gewissensprüfung und unter Hintanstellen eigener, persönlicher Moral- und Wertvorstellungen um der Rechtsgemeinschaft und der Durchsetzung ihrer Grundsätze willen - bereit erklärt, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, nach objektiver Beurteilung nicht geeignet sein, ihn in der öffentlichen Meinung verachtenswert erscheinen zu lassen.
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Der Angeklagte stellt mit keiner Äußerung auf dem Flugblatt in Abrede, dass Dr. ... zu der Gruppe solcher Ärzte gehören mag. Eine möglicherweise unehrenhafte Motivation für sein Handeln unterstellt er ihm nicht.
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4. Inwieweit die Auffassung der Kammer, es könne den Angeklagten nicht entlasten, dass er die Information, Dr. ... führe in seiner Praxis Schwangerschaftsabbrüche durch, der Homepage des Ministeriums für Jugend und Familie S. entnommen habe, das für das Jahr 2002 eine Liste von Ärzten und Ärztinnen veröffentlichet habe, welche Abtreibungen durchführten und in welcher Dr. ... mit seiner Praxisanschrift genannt gewesen sei, richtig ist, braucht der Senat aus den vorgenannten Gründen nicht entscheiden, da es schon an der Behauptung einer zur Herabwürdigung geeigneten Tatsache fehlt.
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IV. Weil dem Angeklagten somit insgesamt kein strafrechtlich relevanter Vorwurf gemacht werden kann, ist die Revision begründet und führt zur Aufhebung des Urteils des Landgerichts M., die nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen erfolgt, weswegen der Senat den Angeklagten - mit der sich aus entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO ergebenden Kostenfolge - freispricht, § 354 Abs. 1 StPO.

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