Urteil vom Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken - 4 U 110/10 - 34

Tenor

1. Auf die Erstberufung der Beklagten wird das Grund- und Teilurteil des Landgerichts Saarbrücken vom 17. Dezember 2009 – 6 O 305/07 – mit der Maßgabe abgeändert, dass die auf Ersatz der den Klägern entstandenen Schäden gerichtete Klage dem Grunde nach lediglich zu 20% gerechtfertigt ist und die im Feststellungsausspruch tenorierte Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung der dem Kläger zu 2) entstandenen Schäden lediglich auf eine 20%-ige Haftung beschränkt ist. Die Haftung der Beklagten ist auf die Höchstbeträge des § 12 StVO in der bis zum 18.12.2007 geltenden Fassung beschränkt. Die weitergehende Klage wird abgewiesen. Im Übrigen wird die Erstberufung zurückgewiesen.

2. Die Zweitberufung der Kläger wird zurückgewiesen.

3. Die Kosten der Zweitberufung fallen den Klägern zur Last. Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung dem Endurteil vorbehalten.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Klägern wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 120% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Zwangsvollstreckung in Höhe von 120% des zu vollstreckenden Betrages Sicherheit leisten.

5. Die Revision wird nicht zugelassen.

6. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 121.840 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Im vorliegenden Rechtsstreit nehmen die Kläger die Beklagten aus einem Verkehrsunfall, welcher sich am.9.2006 gegen 19:00 Uhr in der Straße in P. ereignete, auf Schadensersatz in Anspruch.

Der im Jahr 1986 geborene Kläger zu 2) war Fahrer des Motorrades der Marke K. mit dem amtlichen Kennzeichen, dessen Eigentümer und Halter der Kläger zu 1) war. Der Beklagte zu 1) war Fahrer, der Beklagte zu 2) Halter des unfallbeteiligten Pkws der Marke B. mit dem amtlichen Kennzeichen, der zum Zeitpunkt des Unfalls bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversichert war.

Der Beklagte zu 1) befuhr die straße in K., um nach links in die bevorrechtigte Straße abzubiegen. Der Kläger zu 2) befuhr die Straße aus dem Zentrum von K. kommend in Richtung S.. Der Beklagte zu 1) hielt sein Fahrzeug im Einmündungsbereich zur Straße vor der Haltelinie an, setzte den Fahrtrichtungsanzeiger nach links, blickte sich zunächst nach links, dann nach rechts und nochmals nach links um, bevor er mit seinem Fahrzeug in einem normalen Anfahrvorgang einbog. Die Sicht des Beklagten zu 1) war beim Einfahren in die Straße durch zwei vor der Bank parkende Fahrzeuge eingeschränkt. Als der Beklagte zu 1) den Kläger zu 2) wahrnahm, bremste er sein Fahrzeug sofort bis zum Stillstand ab und blieb auf der Straße stehen. Der Kläger zu 2) kam in Höhe der Einmündungstraße zu Fall und kollidierte mit dem auf der Straße stehen gebliebenen Fahrzeug des Beklagten zu 2). Der Kläger erlitt schwere Verletzungen u.a. ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Wegen der schwerwiegenden Hirnverletzung wurde der Kläger zu 2) unter die rechtliche Betreuung seiner Mutter gestellt.

Die Kläger haben behauptet, das Motorrad habe sich vor dem Sturz auf der rechten Fahrspur befunden und sei erst dann von der rechten Fahrspur auf die linke Fahrspur bewegt worden. Sie haben die Auffassung vertreten, dass der Beklagte zu 2) eine Vorfahrtsverletzung begangen habe, indem er ohne Beachtung des Vorrechts des Klägers zu 2) in die Straße eingefahren sei.

Der Kläger zu 1) erstrebt den Ausgleich des ihm entstandenen Sachschadens. Der Kläger zu 2) erstrebt die Zahlung eines Schmerzensgeldes, dessen Höhe er in das Ermessen des Gerichts stellt, welches jedoch einen Mindestbetrag von 100.000 EUR nicht unterschreiten sollte. Darüber hinaus begehrt der Kläger zu 2) die Erstattung materieller Schäden (Klageantrag zu 1 c)) sowie die Zahlung einer Schmerzensgeldrechte (Klageantrag zu 3). Schließlich begehrt der Kläger zu 2) den Feststellungsausspruch künftiger Einstandspflicht. Hinsichtlich der Zusammensetzung der Klageforderung wird auf die Klageschrift Bezug genommen (GA I Bl. 3 – 9).

Die Kläger haben beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen,

a. an den Kläger zu 1) 2.800,06 EUR nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 23.11.2006 zu zahlen;

b. an den Kläger zu 2) ein angemessenes Schmerzensgeld nebst fünf Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen;

c. an den Kläger zu 2 ) 13.040,52 EUR nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen;

2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger zu 2) sämtliche Schäden, die ihm in Zukunft aus dem Verkehrsunfall vom.9.2006 in der Straße in K., circa 19 h, entstehen, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen;

3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger zu 2) eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von 500 EUR ab dem 1.10.2006, monatlich im Voraus jeweils zum ersten eines jeden Monats, zu zahlen;

4. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Kläger außerprozessuale Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.665,34 EUR zu zahlen.

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagten haben behauptet, dass sich beim Einfahren des Beklagten zu 1) in die Straße kein bevorrechtigter Verkehr genähert habe. Erst nachdem der Beklagte zu 1) in die Straße eingefahren gewesen sei, habe er plötzlich das heranrasende Motorrad des Klägers zu 2) wahrgenommen. Dieser sei gerade dabei gewesen, mit überhöhter Geschwindigkeit den Pkw der Zeugin W. zu überholen. Hierauf habe der Beklagte zu 1) sein Fahrzeug zum Stehen gebracht. Der Kläger zu 2) habe das Motorrad unmittelbar nach dem Abbiegen in die Straße deutlich beschleunigt. Der Kläger zu 2) habe nicht über die erforderliche Fahrerlaubnis verfügt: Ihm sei am 3.11.2004 die Fahrerlaubnis der Klassen A1 und ABE ausgestellt worden, weshalb er bis zum Ablauf von zwei Jahren nur zum Führen von Krafträdern mit einer Leistung von 25 KW berechtigt gewesen sei. Für den Beklagten zu 1) sei der Unfall sowohl räumlich als auch zeitlich unvermeidbar gewesen. Das unmittelbare Anhalten des Beklagten zu 1) nach Erkennen der Gefahrensituation habe die optimale Rettungsreaktion dargestellt.

Das Landgericht hat in einem Grund– und Teilurteil festgestellt, dass die Ansprüche der Kläger auf Ersatz des Schadens infolge des Verkehrsunfalls dem Grunde nach zu 40% gerechtfertigt seien und festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet seien, dem Kläger zu 2) 40% sämtlicher Schäden, die ihm in Zukunft aus dem Verkehrsunfall vom.9.2006 in der Straße im K., circa 19 h, entstehen, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Träger übergegangen sind beziehungsweise übergehen. Der Senat nimmt gem. § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO auf die angefochtene Entscheidung Bezug.

Hiergegen wenden sich die Beklagten mit ihrer Erstberufung und die Kläger mit ihrer Zweitberufung.

Die Kläger erstreben eine Korrektur der angefochtenen Entscheidung nach Maßgabe einer hundertprozentigen Haftung. Sie vertreten die Auffassung, dass dem Kläger zu 2) ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO nicht vorgeworfen werden könne. Der Kläger zu 2) habe sich im Überholvorgang und in der Phase davor jeweils auf der eigenen Fahrbahn weiter links befunden. Aus dieser Position heraus und vor allem während des Überholvorgangs sei die Verkehrslage trotz der leichten Biegung der Straße überschaubar und für den Kläger zu 2) ohne jegliche Sichtbehinderung gewesen. In dieser Situation habe keine Gefährdung des Querverkehrs bestanden, weshalb die Verkehrslage zum Zeitpunkt der Einleitung des Überholvorgangs nicht unklar gewesen sei. Demgegenüber habe der Beklagte zu 2) die Sorgfaltsanforderungen des § 8 Abs. 2 S. 3 StVO verletzt.

Der Kläger beantragt,

1. unter Abänderung des am 18.12.2009 verkündeten Urteils des Landgerichts Saarbrücken – 6 O 305/07 – zu erkennen:

a) die Ansprüche der Kläger auf Ersatz des Schadens infolge des Verkehrsunfalls vom 16.9.2006 gegen 19:00 Uhr in der Straße, Höhe Hausnummer in P.- K., sind dem Grunde nach zu 100% gerechtfertigt;

b) es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger zu 2) 100% sämtlicher Schäden, die ihm in Zukunft aus dem Verkehrsunfall vom 16.9.2006 in der Straße in K. entstehen, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind beziehungsweise übergehen werden;

2. die Erstberufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagten beantragen,

1. das am 18.12.2009 verkündete Grundurteil des Landgerichts Saarbrücken – 6 O 305/07 – aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen;

2. die Zweitberufung der Kläger zurückzuweisen.

Die Beklagten wenden sich gegen die Tatsachenfeststellungen des Landgerichts und vertreten die Auffassung, dass die Einmündung für den Beklagten zu 1) nicht unübersichtlich im Sinne des § 8 Abs. 2 S. 3 StVO gewesen sei. Die Sichtweite habe für den Beklagten zu 1) in der gegebenen Situation 45 m betragen. Umgekehrt sei für den bevorrechtigten Verkehr ein im Ausfahrtbereich der ...straße stehender Pkw in einer Entfernung von 45 bis 60 m erkennbar. Fahre ein Verkehrsteilnehmer aus der untergeordneten ...straße in dem Moment aus dem Stand an, in dem sich ein bevorrechtigter Verkehrsteilnehmer im Bereich des dortigen Zebrastreifens befinde und sogar schon im Sichtbereich des Ausfahrenden sei, müsse der bevorrechtigte Verkehrsteilnehmer nicht einmal abbremsen. Selbst bei einer mäßigen Überschreitung der höchstzulässigen Geschwindigkeit von 50 km/h sei eine Bremsung überhaupt nicht nötig. Unter Zugrundelegung der erstinstanzlichen Feststellungen, wonach der Beklagte zu 1) sein Fahrzeug ordnungsgemäß an der Haltelinie angehalten habe und erst zu einem Zeitpunkt angefahren sei, als sich weder von rechts noch von links bevorrechtigter Verkehr genähert habe, stehe gleichzeitig fest, dass der Beklagte zu 1) keinen Vorfahrtverstoß begangen habe.

Fehlerhaft habe das Landgericht die Haftung der Beklagten nicht auf die Haftungshöchstsummen beschränkt. Eine solche Beschränkung hänge allein davon ab, ob einem Verkehrsteilnehmer ein Verschulden vorgeworfen werden könne.

In allen Fällen, in denen feststehe, dass der Einbieger mit dem Einfahren in die Vorfahrtstraße begonnen habe, bevor er das auf dieser Straße sich nähernde Fahrzeug wahrnehmen könne, entfalle nicht nur dessen Verschulden, sondern sei zugleich bereits nach Anscheinsgrundsätzen von einem Verschulden des Vorfahrtsberechtigten auszugehen. Überdies habe das Landgericht das Verschulden des Klägers zu 2) zutreffend festgestellt.

Weiterhin sei dem Kläger zu 2) ein Verstoß gegen das Gebot des Fahrens auf Sicht vorzuwerfen: Der Sachverständige habe festgestellt, dass das Unfallgeschehen für den Kläger zu 2) bei der Einhaltung einer Geschwindigkeit von 50 km/h zu vermeiden gewesen wäre. Nach der Aussage der Zeugin W. habe sich das Fahrzeug des Beklagten zu 1) schon quer auf der Fahrbahn befunden, als sie dieses Fahrzeug das erste Mal wahrgenommen habe. Folglich sei das mitten auf der Fahrbahn befindliche Fahrzeug des Beklagten zu 1) auch für den Kläger zu 2) zu diesem Zeitpunkt erkennbar gewesen. Wenn der Kläger zu 2) in dieser Situation das Unfallereignis nicht habe vermeiden können, so habe er unter Verstoß gegen das Sichtfahrgebot seine Geschwindigkeit nicht so eingestellt, dass er beim Auftauchen eines Hindernisses rechtzeitig habe anhalten können.

Auch habe sich das Fehlen der erforderlichen Fahrerlaubnis kausal für das Unfallereignis ausgewirkt: Sinn und Zweck der Regelung, dass junge Verkehrsteilnehmer in den ersten zwei Jahren nach Erhalt der Fahrerlaubnis nur Krafträder führen dürften, die eine Leistung von nicht mehr als 25 KW aufwiesen, sei es zu verhindern, dass junge Verkehrsteilnehmer mangels Fahrpraxis leistungsstarke Maschinen führten.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Erstberufungsbegründung vom 27.4.2010 (GA III Bl. 427 ff.), der Zweitberufungsbegründung vom 6.4.2010 (GA III Bl. 422 ff.), auf den Schriftsatz des Klägervertreters vom 7.6.2010 (GA III Bl. 446 ff.) sowie auf den Schriftsatz der Beklagtenvertreter vom 29.6.2010 (GA III Bl. 453 ff.) Bezug genommen. Hinsichtlich des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll (GA III Bl. 455 f.) verwiesen.

II.

A.

Nur die Erstberufung der Kläger hat Erfolg: Soweit das Landgericht im Rahmen der Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1 StVG einen Verstoß des Beklagten zu 1) gegen die Vorschrift des § 8 Abs. 2 S. 3 StVO für nachgewiesen erachtet hat, bedarf die angefochtene Entscheidung einer Korrektur: Das Landgericht hat die Anforderungen an die beim Abbiegen gebotene Sorgfalt unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten der Unfallstelle überspannt. Demgegenüber hat das Landgericht dem Kläger zu 2) frei von Beanstandungen vorgeworfen, das Fahrzeug der Zeugin W. bei unklarer Verkehrslage überholt zu haben (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO). In der Zusammenschau der beiderseitigen Verursacherbeiträge überwiegt dieser nachgewiesene Verkehrsverstoß, weshalb eine Haftungsverteilung von 20/100 zu 80/100 zum Nachteil der Kläger festzusetzen war. Ist auf der Grundlage des Rechtsverständnisses des Senats ein schuldhafter Verstoß des Beklagten zu 1) gegen die im Straßenverkehr erforderliche Sorgfalt nicht bewiesen, so sind im Betragsverfahren die Haftungshöchstgrenzen des § 12 StVO zu beachten.

B.

Dem prozessualen Vorgehen des Landgerichts, im Wege eines Grundurteils über den Grund der Haftung zu entscheiden, begegnen keine Bedenken:

Gemäß § 304 Abs. 1 ZPO kann das Gericht vorab über den Grund des Anspruchs entscheiden, wenn ein Anspruch nach Grund und Höhe streitig ist. Der Erlass eines Grundurteils scheidet aus, wenn zumindest hinsichtlich eines Teils des Rechtsstreits Entscheidungsreife eingetreten ist. In einem solchen Fall ist das Gericht gehalten, gegebenenfalls durch Teilurteil über den entscheidungsreifen Teil des Rechtsstreits zu entscheiden (Zöller/Vollkommer, ZPO, 27. Aufl., § 304 Rdnr. 6). Diese Anforderungen hat das Landgericht beachtet: Es hat nicht nur ein Urteil über die Haftung dem Grunde nach erlassen, sondern zugleich abschließend in der Form des Endurteils über den entscheidungsreifen Feststellungsantrag entschieden. Es handelt sich mithin um ein Grund- und Teilurteil, gegen dessen Zulässigkeit keine Bedenken bestehen: Der Gefahr, dass es hinsichtlich des Haftungsgrundes im Teil- und Schlussurteil zu divergierender Entscheidungen kommt (vgl. BGHZ 173, 328, 333; 139, 116, 117; 120, 376, 380; 107, 236, 242; Zöller/Vollkommer, aaO, § 301 Rdnr. 7; P/G/Thole, ZPO, 2. Aufl., § 301 Rdnr. 3), wurde durch den Erlass des Grundurteils vorgebeugt. Darüber hinaus steht außer Zweifel, dass die geltend gemachten Ansprüche in irgendeiner Höhe bestehen (vgl. BGHZ 111, 201; 110, 201; Zöller/Vollkommer, aaO, § 304 Rdnr. 6).

Soweit der Tenor hinsichtlich der festgesetzten Haftungsquote nicht hinsichtlich der materiellen und immateriellen Schadensersatzansprüche differenziert, wird im Betragsverfahren zu beachten sein, dass das Mitverschulden nicht zu einer quotenmäßigen Begrenzung des Anspruchs führt, sondern lediglich einen – allerdings gewichtigen – Bemessungsfaktor darstellt (Nachweise bei Palandt/Grüneberg, BGB, 69. Aufl., § 253 Rdnr. 20). Eine sprachliche Korrektur des auslegungsfähigen Tenors war entbehrlich.

C.

Die wechselseitige Verwirklichung des Haftungstatbestandes des § 7 Abs. 1 StVG und die Haftung der Beklagten zu 3) aus § 3 Nr. 1 und 2 PflVG in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung stehen zwischen den Parteien außer Streit. Beide Berufungen wenden sich – mit gegenläufiger Zielrichtung – gegen die Haftungsquote des Landgerichts, die das Landgericht nach Maßgabe des § 17 StVG gebildet hat.

a) Das Landgericht ist von zutreffenden Rechtsgrundsätzen ausgegangen:

Gemäß § 17 Abs. 1 StVG hängt im Verhältnis der beteiligten Fahrzeughalter zueinander die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Hierbei sind bei der Abwägung der beiderseitigen Verursacherbeiträge nur solche Umstände einzubeziehen, die erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden geworden sind. Die für die Abwägung maßgebenden Umstände müssen nach Grund und Gewicht feststehen, d. h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sein. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben (BGH, Urt. v. 21.11.2006 – VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; Urt. v. 27.6.2000 – VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 17 StVG Rdnr. 5; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 17 StVG Rdnr. 13).

b) Das Landgericht hat dem Beklagten zu 1) einen Verstoß gegen § 8 Abs. 2 S. 2 und 3 StVO vorgeworfen. Hiergegen wendet sich die Erstberufung mit Erfolg.

aa) Nach dieser Regelung darf derjenige, der die Vorfahrt zu gewähren hat, nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den Vorfahrtsberechtigten weder gefährdet noch behindert. Kann er das nicht übersehen, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, so hat er sich vorsichtig in die Kreuzung und Einmündung hineinzutasten, bis er die Übersicht hat. Hierbei kann es geboten sein, lediglich zentimeterweise mit der Möglichkeit zum sofortigen Anhalten bis zum Übersichtspunkt vorzurollen. Gegebenenfalls ist dieser Vorgang mehrfach zu wiederholen (st. Rspr. vgl. nur: BGH, Urt. v. 21.5.1985 – VI ZR 201/83, NJW 1985, 2757; KG, MDR 2010, 805; Hentschel/König/Dauer, aaO, § 8 StVO Rdnr. 58; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, aaO, § 8 Rdnr. 50).

Das Landgericht hat in tatsächlicher Hinsicht bindend festgestellt (§ 529 ZPO), dass der Beklagte zu 1) anstatt sich vorsichtig in die Kreuzung hineinzutasten „normal zügig“ in die Kreuzung gefahren ist.

bb) Allerdings bestehen durchgreifende Bedenken an der Bewertung, dass die Einmündung i.S. von § 8 Abs. 2 S. 3 StVO eine unübersichtliche Straßenstelle war.

aaa) Die Örtlichkeit wird auf den Lichtbildern GA II Bl. 349 f. d. A. gezeigt, wobei zu beachten ist, dass die Zeugin W. und der Kläger zu 2) zunächst von der auf dem Lichtbild GA II Bl. 350 unten links erkennbaren Hauptstraße in die aus der Blickrichtung des Betrachters rechts abgehende Straße abgebogen sind und sich dann von links dem Bankgebäude und der späteren Unfallstelle näherten. Die Sichtweite des Beklagten zu 1) betrug angesichts dessen, dass vor der Bank Fahrzeuge geparkt waren, nach den Feststellungen des Sachverständigen zumindest 45 m (GA II Bl. 345).

bbb) Die beschriebene Einmündung war zumindest nicht so unübersichtlich, dass es dem Wartepflichtigen in der Unfallsituation des Beklagten zu 1) geboten erscheinen musste, sich vor einem Einbiegen in die Hauptstraße einweisen zu lassen: Die Notwendigkeit der Einweisung durch Hilfspersonen besteht nur im Ausnahmefall, insbesondere dann, wenn der Wartepflichtige ein schwer bewegliches Fahrzeug führt, das den unübersichtlichen Einbiegevorgang nicht zügig vollenden kann (BGH, Urt. v. 25.1.1994 – VI ZR 285/92, MDR 1994, 352; Hentschel/König/Dauer, aaO, § 8 Rdnr. 58; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, aaO, § 8 StVO Rdnr. 51).

ccc) Die Frage nach der Unübersichtlichkeit einer Einbiegesituation ist insbesondere mit Blick auf die an die Unübersichtlichkeit geknüpften Rechtsfolgen zu beantworten; zwischen Tatbestandsvoraussetzung und Rechtsfolge besteht eine Wechselwirkung: Die Straßenstelle war unübersichtlich, wenn es einem vernünftigen und sorgsamen Verkehrsteilnehmer in der Situation des wartepflichtigen Beklagten zu 1) zur Vermeidung einer Gefährdung des die bevorrechtigte Straße befahrenden Verkehrs bei wertender Betrachtung geboten erscheinen musste, den Einbiegevorgang in einer den Anforderungen des § 8 Abs. 2 S. 3 StVO entsprechenden Weise zu vollziehen. Ein solches Verhalten konnte dem Beklagten zu 1) nicht angesonnen werden: Unter Beachtung der örtlichen Gegebenheiten war der Wartepflichtige in der Unfallsituation des Beklagten zu 1) nach dem Überschreiten der Fahrbahnbegrenzungslinie gehalten, nicht langsam und zentimeterweise, sondern stattdessen zügig in die Vorfahrtstraße einzubiegen. Dazu im Einzelnen:

aaaa) Der Beklagte zu 1) musste sich zunächst bis an die Sichtlinie herantasten. Dies ist die auf der Skizze GA II Bl. 248 abgebildete gestrichelte Fahrbahnbegrenzungslinie. An dieser Stelle konnte der Beklagte zu 1) die Vorfahrtsstraße aus der Annäherungsrichtung des Klägers zu 2) 45m übersehen. War die Vorfahrtstraße im überschaubaren Sichtfeld frei, so durfte er darauf vertrauen, dass sich der außerhalb seines Sichtfeldes befindliche Verkehr nicht mit einer wesentlich höheren als der örtlich vorgeschriebene Geschwindigkeit von 50 km/h nähern werde. Ein sich mit 50 km/h näherndes Fahrzeug hätte selbst ungebremst circa 3,2 Sekunden gebraucht, bis es den Schnittpunkt beider Fahrlinien erreicht hätte. Diese Zeit hätte ausgereicht, um den zügig eingeleiteten Einbiegevorgang abzuschließen. Demnach durfte der Beklagte zu 1) darf darauf vertrauen, den an der Sichtkante eingeleiteten Abbiegevorgang ohne Gefährdung des noch nicht in sein Sichtfeld getretenen Verkehrs zu beenden. Bei dieser Sachlage scheidet ein Verkehrsverstoß aus: Nach anerkannten Rechtsgrundsätzen erlischt das Vorfahrtsrecht des Herannahenden, wenn der Wartepflichtige berechtigterweise zu einem Zeitpunkt einbiegt, in dem ein vorfahrtsberechtigtes Fahrzeug noch nicht in Sichtweite ist (BGH, NJW 1994, 1303, 1304; OLGR Saarbrücken 1999, 125; Hentschel/König/Dauer, aaO, § 8 Rdnr. 55).

bbbb) Soweit der Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat die Auffassung vertreten hat, die erhöhten Sorgfaltsanforderungen des § 8 Abs. 2 S. 2 und 3 StVO seien deshalb zu beachten gewesen, weil der Beklagte zu 1) den rechtsseitigen Verlauf der Straße nicht in der gebotenen Tiefe habe einsehen können, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen: Aus der Übersichtsaufnahme des Lichtbildes GA II Bl. 350 ist zu ersehen, dass die Straße vom Standort des Beklagten zu 1) an der Fahrbahnbegrenzungslinie der ...straße auch in ihrem rechtsseitigen Verlauf hinreichend weit eingesehen werden kann.

cc) Es bleibt anzumerken, dass ein Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 8 Abs. 1 StVO nicht bereits im Wege des Anscheinsbeweises bewiesen ist (zur Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises beim Vorfahrtsverstoß vgl. nur OLGR Brandenburg 2009, 684; KG NVZ 2002, 79; Hentschel/König/Dauer, aaO, § 8 StVO Rdnr. 68). Der Anscheinsbeweis erlaubt bei typischen Geschehensabläufen den auf der Lebenserfahrung beruhenden Schluss, dass ein Ereignis auf einer bestimmten Ursache oder einem bestimmten Ablauf beruht. Allerdings steht der durch den Anscheinsbeweis bewiesene Zusammenhang nicht unverrückbar fest. Der Gegner kann die auf dem Erfahrungssatz beruhende Schlussfolgerung erschüttern, wenn er die Möglichkeit eines anderen Ablaufs aufzeigt, indem er Tatsachen beweist, die einen abweichenden Geschehensverlauf nicht nur theoretisch denkbar, sondern mit einer empirisch nicht zu vernachlässigen, nicht erst mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit für möglich erscheinen lassen (BGHZ 6, 169, 170; Urt. v. 17.1.1995 – X ZR 82/93, VersR 1995, 723, 724; Urt. v. 3.7.1990 – VI ZR 239/89, NJW 1991, 230, 231; vgl. Zöller/Greger, aaO, vor § 284 Rdnr. 29; MünchKomm(ZPO)/Prütting, 3. Aufl., § 286 Rdnr. 48 ff., 65; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 21. Aufl., § 286 Rdnr. 87 ff., 98; Musielak/Foerste, ZPO, 6. Aufl., § 286 Rdnr. 23).

Diese Möglichkeit des atypischen Geschehensablaufs ist im vorliegenden Fall durch den unstreitigen Überholvorgang des Klägers zu 2) valide nachgewiesen: Zutreffend legt das Landgericht dar, dass sich der Kläger zu 2) nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere nach den Feststellungen des Sachverständigen, zum Zeitpunkt des Beginns des Abbiegevorgangs durch den Beklagten zu 1) noch außerhalb der Sichtweite des Beklagten 1) befunden haben kann. Die Fahrweise des Klägers zu 2) entkräftet den Anscheinsbeweis und steht im Rahmen des gem. § 286 ZPO zu beachtenden Beweismaßes dem positiven Nachweis einer Vorfahrtsverletzung durch den Beklagten zu 2) entgegen.

b) Das Landgericht hat dem Kläger zu 2) ein unzulässiges Überholen bei unklarer Verkehrslage (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO) vorgeworfen. Die hiergegen gerichtete Zweitberufung der Beklagten bleibt ohne Erfolg:

aa) Eine unklare Verkehrslage liegt vor, wenn der Überholende nach den Umständen nicht mit einem gefahrlosen Überholvorgang rechnen darf. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Überholstrecke übersichtlich ist beziehungsweise die Entwicklung der Verkehrslage bei Einleitung des Überholvorganges nicht verlässlich beurteilt werden kann. Ein relevanter Zweifel an der Gefahrlosigkeit des Überholvorganges kann dann entstehen, wenn das Verhalten eines Querverkehrs nicht übersehen werden kann (Burmann/Heß/Jahnke/Janker, aaO, § 5 StVO Rdnr. 26 mit weiterem Nachweis).

bb) Diese Voraussetzungen waren hier gegeben: Die Unfallstelle liegt in einem innerörtlichen Bereich, der zur Unfallzeit – dies belegen die vor der Bank abgestellten Fahrzeuge – noch hinreichend belebt war. In der etwa 200 m langen Strecke vom Einmündungsbereich zur Hauptstraße bis zur späteren Unfallstelle münden unter Einschluss der ...straße vier Straßen in die Straße ein. Im unmittelbaren Umfeld der Unfallstelle befindet sich ein Fußgängerüberweg, dem sich Fahrzeuge nur mit mäßiger Geschwindigkeit nähern dürfen (§ 26 Abs. 1 StVO). Zudem ordnet § 46 Abs. 3 StVO an Fußgängerüberwegen ein Überholverbot an. Direkt an den Fußgängerüberweg anschließend, mündet von rechts ein weiterer Weg in die Straße ein. Gegenüber befindet sich unmittelbar an das Bankgebäude der angrenzend eine weitere Straßeneinmündung. Diese Situation erlaubt den Schluss, dass der Kläger zu 2) bei Einleitung seines Überholvorganges im Bereich zwischen Fußgängerüberweg und Bankgebäude das vor ihm sich entwickelnde Verkehrsgeschehen, insbesondere das Verkehrsgeschehen des abbiegenden Querverkehrs, nicht verlässlich beurteilen konnte.

cc) Auch ist die Kausalität dieses Sorgfaltverstoßes für das Unfallgeschehen nachgewiesen.

Soweit die Zweitberufung die Kausalität des Sorgfaltsverstoßes mit der Erwägung in Zweifel zieht, dass der Überholvorgang des Klägers zu 2) bei Einleitung des Bremsvorgangs bereits abgeschlossen gewesen sei, vermag sich der Senat dieser Betrachtungsweise nicht anzuschließen. Zwar beginnen die vom Sachverständigen dem Unfallgeschehen zuzuordnenden Bremsspuren des Motorrades in einem räumlichen Abstand von 12 m vor der Einmündung der ...straße auf der eigenen Fahrspur des Klägers zu 2), nicht auf der Fahrspur des Gegenverkehrs. Dennoch wird der Kausalitätsnachweis – unabhängig von der Tatfrage, ob die Bremsung auf der rechten oder linken Fahrbahnhälfte eingeleitet wurde – durch die Aussage der Zeugin W. geführt. Diese Zeugin hat ausgesagt, es sei ihr ohne Probleme gelungen, vor dem Beklagten zu 1) anzuhalten; sie habe noch gut anhalten können (GA II Bl. 339), um nicht mit dem quer auf der Fahrbahn stehenden Fahrzeug des Beklagten zu 1) zu kollidieren. Damit ist zugleich bewiesen, dass der Unfall vermieden worden wäre, wenn der Kläger zu 2) in dem gebotenen Sicherheitsabstand hinter dem Fahrzeug der Zeugin geblieben wäre. Das Unfallgeschehen verdeutlicht den Schutzzweck des Überholverbots: Das Überholverbot war notwendig, weil der Überholende in der Situation des Klägers zu 2) die Entwicklung des Querverkehrs bei Einleitung des Überholvorganges nicht verlässlich vorhersehen konnte. Gerade diese Gefahr hat sich im Unfallgeschehen verwirklicht.

c) Ohne Erfolg rügt die Erstberufung, dem Kläger zu 2) sei ein Verstoß gegen das Sichtfahrgebot vorzuwerfen:

aa) Das Sichtfahrgebot ist in § 3 Abs. 2 S. 3 StVO normiert. Demnach darf der Fahrzeugführer nur so schnell fahren, dass er innerhalb der überschaubaren Strecke anhalten kann. Ein Nachweis für einen Verstoß gegen das Sichtfahrgebot kann im Regelfall nur dann geführt werden, wenn sowohl die Höhe der zum Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung gefahrenen Geschwindigkeit, als auch die Sichtweite des Fahrers feststehen.

bb) Im vorliegenden Fall hat die sachverständige Begutachtung hinsichtlich der Ausgangsgeschwindigkeit des Motorrades keine eindeutigen Ergebnisse geliefert. Der Sachverständige hat bereits in seinem im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren erstatteten Gutachten Feststellungen zur Ausgangsgeschwindigkeit getroffen. Er ist hierbei unter Auswertung der Intensität der an den Fahrzeugen entstandenen Schäden und des auf der Fahrbahn gesicherten Spurenbildes zu dem Ergebnis gelangt, dass die Ausgangsgeschwindigkeit des Klägers zu 2) zwischen 44 und 66 km/h gelegen habe (Bl. 84 f. des Ermittlungsverfahrens). Sodann hat der Sachverständige in seinem im vorliegenden Rechtsstreit erstatteten Gutachten das von ihm gefundene Ergebnis auf der Grundlage der Aussage der Zeugin W. kritisch hinterfragt. Auch nach Durchführung eines Fahrversuchs sah der Sachverständige keine Veranlassung, seine unter Auswertung des Spurenbildes getroffenen Erkenntnisse zu revidieren: Angesichts des Umstandes, dass die Zeugin bei dem in Anwesenheit des Sachverständigen durchgeführten Fahrversuch lediglich 40 km/h fahren ist, obwohl sie, im Beweisaufnahmetermin vom 19.5.2008 zur subjektiven Einschätzung der gefahrenen Geschwindigkeit befragt, angegeben hat, mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 km/h gefahren zu sein (GA II Bl. 214 ), besteht kein Anlass, den vom Sachverständigen ermittelten Korridor zu Gunsten der Erstberufung nach oben zu verschieben. Die Ausführungen des Sachverständigen zur Ermittlung der aus dem Spurenbild rekonstruierten Ausgangsgeschwindigkeit werden nicht angegriffen.

cc) Die Erstberufung stützt ihren Angriff gegen die Tatsachenfeststellung des Landgerichts auf die Einschätzung des Sachverständigen, dass der Unfall bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 50 km/h für den Motorradfahrer vermeidbar gewesen wäre. Das tatsächliche Unfallgeschehen belege demnach – so die Erstberufung der Beklagten: „zwangläufig“ (GA III Bl. 437) – , dass der Kläger zu 2) zu schnell gefahren sein müsse.

aaa) Dem vermag sich der Senat nicht anzuschließen: Zwar hat der Sachverständige bei der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens in der Verhandlung vom 5.11.2009 (GA II Bl. 343) ausgeführt, dass der Unfall für den Kläger zu 2) bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 50 km/h vermeidbar gewesen wäre. Gleichwohl ist der Sachverständige hinsichtlich der Einschätzung der vom Kläger zu 2) gefahrenen Geschwindigkeit von seiner im Gutachten eingehend dargelegten Einschätzung zur Höhe der Bremsausgangsgeschwindigkeit nicht abgerückt. Die Unsicherheiten resultieren daraus, dass die Geschwindigkeit des von der Zeugin W. gesteuerten Fahrzeugs keineswegs feststeht. So hat der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht weiter ausgeführt, es sei – geht man davon aus, dass die Zeugin W. nur 40 km/h gefahren sei – grundsätzlich möglich, dass der Kläger zu 2) die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht überschritten habe. Der Senat verkennt nicht, dass es durchaus Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Kläger zu 2) mit mehr als 50 km/h unterwegs war: So erscheint die vom Sachverständigen ermittelte Kollisionsgeschwindigkeit von mindestens 30 km/h in Anbetracht der vor der Kollision durchgeführten Bremsung recht hoch. Auch deutet der Umstand, dass zum Zeitpunkt der Einleitung des Bremsvorgangs der 4. Gang eingelegt war, eher darauf hin, dass der Kläger schneller als 50 km/h fuhr. Dennoch hat der Sachverständige alle diese Umstände bei der Beantwortung der Beweisfrage aus sachverständiger Sicht einbezogen. Der Senat sieht sich ebenso wie das Landgericht dazu außerstande, die aus dem objektiven Spuren- und Schadensbild sowie aus der Vernehmung der Zeugin W. resultierenden Zweifel an einer Geschwindigkeitsüberschreitung bei der richterlichen Überzeugungsbildung nach § 286 ZPO hintanzustellen. Hinzukommt, dass nicht jede noch so geringfügige Überschreitung der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit bei der Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1 StVG Niederschlag finden muss.

bbb) Auch die nachgewiesene Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens ist nicht eigenständig haftungsverschärfend zu gewichten: Nicht jeder abwendbare Unfall beruht auf einem schuldhaften Verkehrsverstoß.

Die Unabwendbarkeit eines Unfalls verhindert die Quotierung der an den unfallbeteiligten Fahrzeugen entstandenen Schäden (§ 17 Abs. 3 StVO). Allerdings ist die Unabwendbarkeit i.S. von § 17 Abs. 3 StVO nicht schon dann gegeben, wenn dem Fahrer kein Verstoß gegen spezifische Verkehrsvorschriften nachgewiesen werden kann. Dieses Verständnis erschließt sich aus Sinn und Zweck des Haftungsausschlusses: Der Haftungsausschluss nach § 17 Abs. 3 StVG ist erst dann gerechtfertigt, wenn sich im Schadensereignis eine Gefahr realisiert hat, die der aus dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs erwachsenden Gefahr nach Sinn und Zweck der Gefährdungshaftung nicht mehr zugeordnet werden kann (vgl. zur Rechtslage bei § 7 Abs. 2 StVG a.F.: BGHZ 117, 337, 341). Diese Grenze ist nicht überschritten, wenn sich der Fahrer lediglich nicht verkehrswidrig verhält.

Demnach ist unter Unabwendbarkeit zwar nicht eine absolute Unvermeidbarkeit zu verstehen. Unanwendbar ist ein Schadensereignis vielmehr dann, wenn es durch eine besonders sorgfältige Reaktion, durch die Anstrengung der äußersten Sorgfalt, die den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt i.S. von § 276 BGB erheblich übersteigt, nicht abgewendet werden kann. Geboten ist mithin ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln, das gemessen an den durchschnittlichen Anforderungen über den gewöhnlichen und persönlichen Maßstab hinausreicht. Prägnant formuliert muss sich der den Unabwendbarkeitsnachweis erbringende Fahrer wie ein „Idealfahrer“ verhalten (BGHZ, 117, 340, Hentschel/König/Dauer, aaO, § 17 Rdnr. 22). Dieses Rechtsverständnis verbietet es, die nachgewiesene Abwendbarkeit des Unfallereignisses mit dem Nachweis eines fahrlässigen Verkehrsverstoßes gleichzusetzen.

ccc) Schließlich kann dem Kläger zu 2) nicht im Wege der Wahlfeststellung (zur Anwendbarkeit dieses Rechtsinstituts im Bereich des Zivilrechts vgl. nur BGH, Urt. v. 23.6.1987 – VI ZR 188/86, MDR 1988, 41) vorgeworfen werden, entweder zu schnell oder unter Verstoß gegen § 1 Abs. 1, 2 StVO nicht hinreichend aufmerksam gefahren zu sein. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die Vermeidbarkeit des Unfalls nicht zwingend auf einen Geschwindigkeitsverstoß oder ein eigenständig zu gewichtendes Aufmerksamkeitsdefizit zurückzuführen. Vielmehr ist nach Lage der Dinge in Betracht zu ziehen, dass der Kläger zu 2) den Beklagten zu 1) deshalb zu spät sah, weil er den Überholvorgang nicht rechtzeitig abschließen konnte. In diesem Fall wäre die Vermeidbarkeit das Unfallgeschehens Folge des Verstoßes gegen das Überholverbot. Eine erneute Gewichtung desselben Umstandes – nunmehr unter dem Blickwinkel des § 1 Abs. 1, 2 StVO – scheidet demnach aus. Im Einzelnen sind folgende Erwägungen maßgeblich:

Der Kläger zu 2) fuhr zunächst hinter der Zeugin W. her; er konnte den Beklagten zu 1) erstmals bei Einleitung des Überholvorganges wahrnehmen. Der Beginn dieses Überholvorganges kann nicht zweifelsfrei bestimmt werden. Der Sachverständige hat den Bereich, in dem der Kläger zu 2) neben der Zeugin W. herfuhr, auf der Skizze GA II Bl. 254 zeichnerisch dargestellt. Innerhalb dieser fast 20 m langen Strecke lässt sich der Beginn des Überholvorganges nicht weiter eingrenzen. Unterstellt man einen späten Beginn des Überholvorganges, so ist das Fahrzeug des Beklagten zu 1) erst recht spät in das Blickfeld des Klägers zu 2) getreten. Stellt man in Rechnung, dass die Aufmerksamkeit des Klägers zu 2) während des Überholvorganges vor allem darauf gerichtet war, den Überholvorgang abzuschließen, ist durchaus in Betracht zu ziehen, dass der Kläger zu 2) das Fahrzeug des Beklagten zu 1) wesentlich später als die Zeugin W. bemerkte. Unter Zugrundelegung eines solchen Sachverhalts streitet die tatsächliche Vermeidung des Unfalls durch die Zeugin W. nicht dafür, dass der Unfall sich nur deshalb ereignete, weil der Kläger nicht nur zur Unzeit überholte, sondern zwingend alternativ zu schnell oder nicht aufmerksam fuhr.

d) Auch das Fehlen der Fahrerlaubnis war nicht haftungsverstärkend zu bewerten, da dies zu einer doppelten Gewichtung desselben tatsächlichen haftungsverstärkenden Umstandes führte: Das Fehlen der Fahrerlaubnis wirkte sich nur dann adäquat kausal im Schadensfall aus, wenn man unterstellt, dass das verkehrswidrige Fahrmanöver auf der fehlenden fahrerischen Praxis im Umgang mit schweren Motorrädern beruhte. Dieser Aspekt begründet jedoch bereits einen eigenen Verkehrsverstoß nach § 5 Abs. 3 StVO, weshalb eine erneute Gewichtung dieses Sorgfaltsverstoßes ausscheidet (vgl. BGH, Urt. v. 21.11.2008 – VI ZR 115/05, BGHR 2007, 200).

e) Letztlich ist zum Nachteil der Beklagten lediglich die Betriebsgefahr zu gewichten. Allerdings tritt die Betriebsgefahr nicht vollständig hinter den nachgewiesenen Verkehrsverstoß des Klägers zu 2) zurück. Im vorliegenden Fall erscheint es angemessen, die Betriebsgefahr mit einer Quote von 20% festzusetzen: Dem Kläger zu 2) kann nicht vorgeworfen werden, in relevanter Weise zu schnell gefahren zu sein. Allein der Verstoß gegen die Vorschrift des § 5 Abs. 3 StVO erlaubt noch nicht den Vorwurf der rücksichtslosen Fahrweise. Der Verkehrsverstoß beruhte auf der fehlerhaften Einschätzung einer konkreten Verkehrslage, wie sie jedem Verkehrsteilnehmer unterlaufen kann. Andererseits war die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs gegenüber dem Motorrad schon deshalb erhöht, weil der Pkw die größere Masse besaß. Darüber hinaus stand der Pkw mitten auf der Straße. Auch dieser Umstand erhöht die Betriebsgefahr zum Nachteil der Beklagten.

Einer Haftungsquote von 20% steht die vom Kläger zitierte Kasuistik nicht entgegen: Anders als in dem vom OLG Saarbrücken entschiedenen Fall (Urt. v. 26.3.1998 – 3 U 762/97, OLGR 1999, 125) kann dem Wartepflichtigen im vorliegenden Fall kein schuldhafter Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO vorgeworfen werden: Im dort entschiedenen Fall gereichte es dem dortigen Wartepflichtigen zum Nachteil, dass er sein schwerfälliges Fahrzeug nicht sofort anhielt, als er den herannahenden Vorfahrtsberechtigten sah. Im vom OLG München entschiedenen Fall (Urt. v. 13.2.1996 – 5 U 2060/95, VersR 1998, 773, der mit einer Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zum Nachteil des Vorfahrtsberechtigten entschieden wurde) konnte dem bevorrechtigten Motorradfahrer lediglich ein Verstoß gegen das Sichtfahrgebot, nicht hingegen ein Verstoß gegen § 5 Abs. 3 StVO nachgewiesen werden.

h) Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass eine Haftung der Beklagten nicht gem. § 17 Abs. 3, § 18 Abs. 3 StVG ausscheidet: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bleibt zum Nachteil der Beklagten zumindest offen, ob der Unfall vermieden worden wäre, wenn der Beklagte zu 1) das Fahrzeug nicht abgebremst und auf der Straße zum Stillstand gebracht, sondern wenn er seine Fahrt zügig fortgesetzt hätte. Bei dieser Sachlage war der Unfall aus Sicht des Idealfahrers nicht nachgewiesen unvermeidbar.

3. Entgegen der Auffassung der Berufung unterlag die gegen den Beklagten zu 1) gerichtete Klage nicht der Abweisung, weil der Unfall bewiesenermaßen nicht durch ein Verschulden des Beklagten zu 1) verursacht worden sei. Es kann dahinstehen, ob – so die Feststellungen des Landgerichts – der Beklagte zu 1) den Einbiegevorgang begonnen hatte, bevor er den herannahenden Kläger zu 2) sah. In jedem Fall ist mit den Argumenten des Landgerichts nicht ausgeschlossen, dass der Beklagte zu 1) dadurch in einer den Fahrlässigkeitsvorwurf begründenden Weise gegen § 1 Abs. 2 StVO verstieß, dass er den Einbiegevorgang bei Erkennen des Klägers zu 2) nicht zügig abschloss, sondern stattdessen sein Fahrzeug mitten auf der Straße bis zum Stillstand abbremste. Zwar war dieser mögliche Verstoß bei der Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1, 2 StVG nicht zu berücksichtigen, da die Kausalität dieses möglichen Verstoßes für das Unfallereignis aus den vom Landgericht aufgezeigten Gründen nicht feststeht. Im Rahmen des § 18 Abs. 1 S. 2 StVG trägt jedoch der Fahrer den prozessualen Nachteil aus der Nichterweislichkeit der fehlenden Kausalität eines möglichen Verschuldens.

4. Auf der Grundlage der vorstehenden Überlegungen war die Haftung der Beklagten beim Feststellungsausspruch auf die Höchstbeträge des § 12 StVO in der bis zum 18.12.2007 geltenden Fassung zu begrenzen, da eine Verschuldenshaftung des Beklagten zu 1) nach § 823 Abs. 1, 2 BGB i.V.m. § 229 StGB nicht bewiesen ist. Für Halter- und Fahrerhaftung nach §§ 7, 18 StVG finden die Haftungshöchstgrenzen Anwendung.

D.

Die Kostenfolge beruht auf § 97 Abs. 1, § 100 Abs. 1 ZPO. Über die Kosten des Berufungsverfahrens war lediglich hinsichtlich der anteiligen Kosten der in vollem Umfang zurückgewiesenen Zweitberufung abschließend zu entscheiden (Zöller/Vollkommer, aaO, § 304 Rdnr. 26). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung besitzt und weder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung noch die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern (§ 543 Abs. 2 ZPO).

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