Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 11 WF 171/20

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Ludwigsburg vom 19.10.2020 (Az. 14 F 1160/20) wie folgt

abgeändert:

Dem Antragsteller wird für den ersten Rechtszug mit Wirkung ab Antragstellung Verfahrenskostenhilfe bewilligt (§ 113 Abs. 1 FamFG, §§ 114, 119 Abs. 1 ZPO).

Rechtsanwalt ... wird als Verfahrensbevollmächtigter beigeordnet.

Die Bewilligung erfolgt ohne Anordnung von Zahlungen.

2. Die Entscheidung ergeht gerichtskostenfrei, außergerichtliche Auslagen sind nicht zu erstatten (§§ 76 Abs. 1 FamFG, 127 Abs. 4 ZPO).

Gründe

 
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die Ablehnung seines Antrags auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für einen beabsichtigten Abänderungsantrag auf Herabsetzung eines Titels über Kindesunterhalt.
Der Antragsteller ist der Vater des minderjährigen Kindes ..., geboren am .... Der Antragsteller ist gebürtiger Inder und verfügt weder über einen Schulabschluss noch eine Berufsausbildung. Im vereinfachten Unterhaltsverfahren, Az. 20 FH 20/19 hat das Amtsgericht Ludwigsburg am 20.03.2019 beschlossen, dass der Antragsteller verpflichtet sei, an die Antragsgegnerin ab dem 01.03.2019 100 % des jeweiligen Mindestunterhalts der jeweiligen Altersstufe abzüglich hälftigen Kindergeldes für ein erstes Kind zu bezahlen. Vorausgegangen waren diesem Verfahren Aufforderungen zur Auskunftserteilung über seine Einkünfte und sein Vermögen, denen der Antragsteller nicht nachkam. Die Antragsschrift wurde dem Antragsteller am 19.02.2019 zugestellt. Innerhalb der gesetzten Stellungnahmefrist von einem Monat brachte der Antragsteller keine Einwendungen vor. Die Zustellung des Beschlusses vom 20.03.2019 erfolgte ausweislich der in dem Verfahren 20 FH 20/19 vorliegenden Zustellungsurkunde am 23.03.2019.
Zur Begründung seines Abänderungsantrags brachte der Antragsteller vor, ohne Gefährdung seines eigenen Unterhalts zur Begleichung des titulierten Unterhalts nicht in der Lage zu sein. Er verfüge über ein durchschnittliches Nettoeinkommen in Höhe von 764,34 EUR. Nach Abzug der Pauschale für berufsbedingte Aufwendungen verblieben ihm 726,12 EUR. Er sei der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig, um eine „tatsächliche“ Berufsausbildung erfolgreich abzuschließen. Er versuche jedoch bei seinem jetzigen Arbeitgeber eine mehrjährige Ausbildung als Koch zu absolvieren, welche mindestens noch bis in das Jahr 2024 andauern werde. Er könne deshalb überhaupt keine Unterhaltszahlungen für seine Tochter leisten und kündigte einen Antrag auf Abänderung des Unterhaltstitels insoweit an, dass ab dem 01.09.2020 kein Unterhalt mehr zu bezahlen sei und darüber hinaus die Zwangsvollstreckung aus dem Titel ab dem 01.09.2020 einzustellen sei.
Die Antragsgegnerin ist dem Antrag unter Verweis auf die gesteigerte Erwerbsobliegenheit des Antragstellers entgegengetreten.
Das Familiengericht hat mit dem angegriffenen Beschluss den Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe abgelehnt. Der Antragsteller habe die Möglichkeit gehabt, sämtliche in der angekündigten Antragsschrift vorgebrachten Einwendungen gegen die Festsetzung des Mindestunterhalts spätestens im vereinfachten Unterhaltsverfahren vorzubringen. Dies habe er unterlassen. Dass er nun in einem neuen Verfahren vor dem Familiengericht die Abänderung des Unterhaltstitels beabsichtige, sei mutwillig. Dem Antragsteller sei die begehrte Verfahrenskostenhilfe darüber hinaus zu versagen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung, die Herabsetzung des Unterhaltstitels dahingehend, dass er keinen Unterhalt mehr zahlen müsse, keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete. Eine Herabsetzung der Unterhaltsverpflichtung unter den Mindestunterhalt komme nur in Betracht, wenn der Antragsteller substantiiert darlege, dass es ihm trotz Ausnutzung aller zumutbaren Erwerbsmöglichkeiten nicht möglich sei, ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften, um den Unterhalt bezahlen zu können. Vorliegend habe der Antragsteller nicht ausreichend vorgetragen und Beweis angeboten, um zu belegen, dass er alle Anstrengungen unternommen habe, die ihn im Rahmen der gesteigerten Erwerbsobliegenheit träfen. Gegenüber seiner minderjährigen Tochter treffe den Antragsteller die Obliegenheit zur gesteigerten Ausnutzung der Arbeitskraft. Der Unterhaltspflichtige habe zunächst grundsätzlich vollschichtig zu arbeiten. Bei einer vollschichtigen Tätigkeit sei eine 40-Stundenwoche zugrundezulegen. Im Rahmen seiner Obliegenheit zur gesteigerten Ausnutzung seiner Arbeitskraft könne der Unterhaltspflichtige gegenüber seinem Kind darüber hinaus auch gehalten sein, neben seiner vollschichtigen Erwerbstätigkeit eine Nebentätigkeit auszuüben, sofern sie zumutbar sei. Den Gehaltsabrechnungen des Antragstellers sei zu entnehmen, dass er lediglich 70 - 120 Stunden im Monat gearbeitet habe. Gründe, weshalb er keiner Vollzeittätigkeit nachgehen könne beziehungsweise keine Nebentätigkeit annehmen könne, seien von ihm nicht vorgebracht worden. Seine Nationalität, sein nicht vorhandener Schulabschluss beziehungsweise seine unzureichenden Deutschkenntnisse seien jedenfalls keine Gründe, die gegen eine Ausweitung seiner Tätigkeit sprechen könnten.
In seiner Beschwerdebegründung trägt der Antragsteller vor, aufgrund seiner Ausbildung als Koch lediglich einer 100 Stunden umfassenden Hilfsarbeitstätigkeit nachgehen zu können. Hinzu komme, dass infolge der derzeitigen Corona-Pandemie die Aufnahme einer zusätzlichen Arbeitsstelle nicht möglich sei. Der Antragsteller versuche auf diesem Weg, leistungsfähig für die Zahlung von Unterhaltsleistungen zu werden. Dass im vorliegenden Fall kein Ausbildungsvertrag vorliege, spiele keine Rolle. Selbst wenn man der Argumentation des Gerichts folge, ergäbe sich bei Aufnahme einer Vollzeittätigkeit nicht zwangsläufig eine volle Leistungsfähigkeit des Antragstellers. Hinsichtlich der Auffassung, dass der Antragsteller bereits im vereinfachten Verfahren hätte vortragen müssen, sei auszuführen, dass der Antragsteller erst in den letzten zwölf Monaten der deutschen Sprache derart mächtig geworden sei, dass er überhaupt ein Grundverständnis habe. Er habe die entsprechenden Ausführungen der offensichtlich an ihn gerichteten gerichtlichen Aufforderungen nicht lesen können. Es müsse insoweit bestritten werden, dass der Antragsteller überhaupt einen Unterhaltstitel sowie die gerichtliche Korrespondenz in dem damaligen vereinfachten Unterhaltsverfahren erhalten habe.
Das Familiengericht hat der sofortigen Beschwerde des Antragstellers nicht abgeholfen.
Die zuständige Einzelrichterin hat die Entscheidung über die Beschwerde dem Senat als Kollegialgericht übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
10 
Die sofortige Beschwerde des Antragstellers ist gemäß §§ 113 Abs. 1 FamFG, 127 Abs. 2 S. 2, 567 ff. ZPO statthaft und zulässig, sie wurde insbesondere fristgerecht eingelegt.
11 
In der Sache hat die sofortige Beschwerde Erfolg. Das Familiengericht hat die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung überspannt und dadurch den Zweck der Verfahrenskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen (vgl. BVerfG FamRZ 1984, 1206; 2010, 183), verfehlt.
12 
1. Der Senat teilt nicht die Auffassung des Familiengerichts, die Beantragung von Verfahrenskostenhilfe für den in Aussicht genommenen Abänderungsantrag sei mutwillig.
13 
Nach § 113 Abs. 1 FamFG, § 114 ZPO, ist die Rechtsverfolgung mutwillig, wenn ein Beteiligter, der keine Verfahrenskostenhilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände von der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung absehen würde, obwohl eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht.
14 
Das in Aussicht genommene Abänderungsverfahren erscheint unter diesen Voraussetzungen nicht mutwillig. In einem Verfahren auf Herab- oder Heraufsetzung des festgesetzten Unterhalts nach § 240 FamFG können die Beteiligten auch Tatsachen vorbringen, die sie bereits im vereinfachten Verfahren hätten geltend machen können (OLG Koblenz, FamRZ 2001, 1079, 1080). Dass der Antragsteller seine Einwendungen erst nach Ablauf der Einwendungsfrist vorgebracht hat und hierdurch von den ihm eingeräumten rechtlichen Möglichkeiten im Rahmen des Abänderungsverfahrens nach § 240 FamFG Gebrauch macht, erscheint vor diesem Hintergrund entgegen der Ansicht des Familiengerichts nicht mutwillig (a.A. OLG Celle, FamRZ 2013, 1592 f.; unter Bezugnahme hierauf ebenso: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 240 Rn. 33; jurisPK-BGB/Schmidt, 9. Aufl. 2020, Kostenrechtliche Hinweise in Familiensachen, Teil 17 - Verfahrenskostenhilfe Rn. 18 f.; Gerhardt/v. Heintschel-Heinegg/Klein/Keske, 11. Aufl. 2018, Kap. 16 Rn. 69). Denn das Verfahren nach § 240 FamFG bildet gerade ein Korrektiv dafür, dass das vereinfachte Verfahren dem Kind schnell zu einem Unterhaltstitel verhelfen soll und deshalb einerseits die Unterhaltsfestsetzung der Höhe nach beschränkt ist, andererseits die Einwendungsmöglichkeiten des Schuldners stark begrenzt sind (Ehinger/Rasch/Schwonberg/Siede, Handbuch Unterhaltsrecht, 8. Aufl. 2018, Kap. 11 Rn. 11.590). Der Antragsteller nutzt lediglich die ihm gewährten verfahrensrechtlichen Befugnisse, die vom Gesetzgeber angesichts des besonderen Charakters des vereinfachten Unterhaltsverfahrens vorgesehen wurden. Hier ist zudem zu berücksichtigen, dass der Schuldner der deutschen Sprache nur eingeschränkt mächtig ist und daher vermutlich mehr Zeit als andere Beteiligte aufwenden muss, um den Inhalt an ihn gerichteter Schreiben – unter Umständen erst nach Übersetzung durch eine dritte Person – zu erfassen und darauf, ebenfalls in deutscher Sprache, zu reagieren.
15 
2. Der beabsichtigte Antrag hat auch in der Sache Aussicht auf Erfolg.
16 
a) Der beabsichtigte Antrag ist zunächst zulässig. Es kann dahinstehen ob das Verlangen auf Herabsetzung des Unterhalts ab dem 01.09.2020 von der Regelung des § 240 Abs. 2 S. 1 FamFG gedeckt ist, nachdem die Zustellung des Antrags noch nicht erfolgt ist. § 240 Abs. 2 S. 3 FamFG ermöglicht auch nach Ablauf der Monatsfrist die Abänderung für die Zeit vor Rechtshängigkeit des Abänderungsantrags, wenn außergerichtlich zur Auskunft oder zum Verzicht auf den Unterhalt aufgefordert wurde. Danach ist entweder ein Auskunftsverlangen gegenüber dem Unterhaltsgläubiger oder eine „negative Mahnung“, d.h. die Aufforderung an den Unterhaltsgläubiger, ganz oder teilweise auf den titulierten Unterhalt zu verzichten, erforderlich (Zöller/Lorenz, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 240 FamFG Rn. 10). Diese Aufforderung kann in dem Schreiben vom 31.03.2020 (Bl. 26 f. d.A.) gesehen werden. Darin hat der Antragsteller das Landratsamt als Beistand des unterhaltsberechtigten Kindes aufgefordert, rechtsverbindlich zu erklären, dass gegen den Antragsteller keinerlei weitere Ansprüche auf Kindesunterhalt geltend gemacht werden. Der Herabsetzungsantrag für die Zeit ab dem 01.09.2020 ist daher jedenfalls nach der Regelung des § 240 Abs. 2 S. 3 FamFG zulässig.
17 
b) In einem Verfahren auf Herab- oder Heraufsetzung des festgesetzten Unterhalts nach § 240 FamFG können die Beteiligten ihr Begehren auf alle einschlägigen materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Gründe stützen. Es ist nicht erforderlich, dass sich die Verhältnisse seit dem Festsetzungsbeschluss geändert haben oder dass die Abänderung zu einer wesentlichen Veränderung des Unterhalts führt (Zöller/Lorenz, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 240 FamFG Rn. 1). Die Darlegungs- und Beweislast im Verfahren nach § 240 FamFG ist wie in einem regulären Verfahren zur erstmaligen Titulierung von Unterhalt verteilt (OLG Karlsruhe FamRZ 2003, 1672). Wird wie hier lediglich der Mindestunterhalt nach § 1612 Abs. 1 BGB verlangt, ist das minderjährige Kind von der Darlegungs- und Beweislast für seinen Bedarf sowie für die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten befreit (BGH FamRZ 2002, 536, 540; 2003, 444, 445). Stattdessen trägt der Unterhaltsschuldner die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er den Mindestunterhalt nicht aufbringen kann (OLG München ZKJ 2008, 250).
18 
Nach § 1603 Abs. 1 BGB ist nicht unterhaltspflichtig, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Eltern, die sich in dieser Lage befinden, sind gemäß § 1603 Abs. 2 Satz 1 BGB ihren minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden. Die Eltern trifft demnach eine gesteigerte Unterhaltsverpflichtung (BGH FamRZ 2014, 637, 638; 2014, 1992, 1994). Den Unterhaltspflichtigen trifft die Obliegenheit, die ihm zumutbaren Einkünfte zu erzielen. Die Anforderungen an das, was den Eltern zuzumuten ist, ist umso höher je mehr es um die Deckung des notwendigen Kindesunterhalts geht (Palandt/von Pückler, 80. Aufl. 2021, BGB, § 1603 Rn. 40). Bei engen wirtschaftlichen Verhältnissen hat danach der Unterhaltsverpflichtete für den Unterhalt auch die Mittel zur Verfügung zu stellen, die unter dem angemessenen und über seinem notwendigen Selbstbehalt liegen (Ehinger/Rasch/Schwonberg/Siede, Handbuch Unterhaltsrecht, 8. Aufl. 2018, Kap. 1 Rn. 1.55).
19 
Ausweislich der Lohnabrechnung für Dezember 2019 erzielte der Antragsgegner im Jahr 2019 ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen in Höhe von 754,90 EUR bei einem Stundenlohn in Höhe des Mindestlohns. Nach den Angaben des Antragstellers sei dieses Einkommen bis zum Zeitpunkt der Antragstellung im September 2020 unverändert geblieben.
20 
Damit erzielt der Antragsteller lediglich ein Einkommen, das weit unter seinem notwendigen Selbstbehalt in Höhe von 1.160 EUR (vgl. SüdL 2020 Ziff. 21.2) liegt und ihn deshalb zur Zahlung von Kindesunterhaltsbeträgen nicht in die Lage versetzt. Grund dafür ist unter anderem, dass er keine Vollzeittätigkeit ausübt. Die Erwerbsobliegenheit verpflichtet indes grundsätzlich zur Aufnahme einer Vollzeiterwerbstätigkeit (BGH FamRZ 2017, 109, 110). Deswegen ist auch ein Unterhaltsschuldner, der eine sichere Teilzeitbeschäftigung hat, regelmäßig verpflichtet, sich nachhaltig um eine vollschichtige Erwerbstätigkeit zu bemühen (Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 10. Aufl. 2019, § 1 Rn. 736). Zur Erfüllung der gegenüber einem minderjährigen Kind gesteigerten Erwerbsobliegenheit muss sich der Unterhaltsschuldner auch um eine besser vergütete Erwerbstätigkeit bemühen, wenn seine Einkünfte aus der ausgeübten Erwerbstätigkeit zur Zahlung von Unterhalt nicht ausreichen. Von dem Antragsgegner wurden keinerlei Bemühungen behauptet und dargelegt, um eine besser bezahlte Arbeitsstelle zu erlangen beziehungsweise seine Stundenanzahl aufzustocken. Er hat lediglich behauptet, aufgrund seiner Ausbildung zum Koch derzeit nicht mehr als 100 Stunden im Monat arbeiten zu können, ohne dies näher darzulegen. Dies hat grundsätzlich zur Folge, dass ihm ein von ihm auf dem Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung seiner tatsächlichen Fähigkeiten erzielbares Einkommen fiktiv zuzurechnen ist.
21 
Die Zurechnung fiktiver Einkünfte setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer voraus, dass der Verpflichtete nach seinen tatsächlichen Einkünften nicht oder nur teilweise leistungsfähig ist, er dies aufgrund eines Verstoßes gegen seine Erwerbsobliegenheit zu vertreten hat und die zur Erfüllung der Unterhaltspflichten erforderlichen und ihm fiktiv zuzurechnenden Einkünfte objektiv für ihn erzielbar sein müssen (reale Beschäftigungschance). Die Zurechenbarkeit hängt damit sowohl von persönlichen subjektiven Voraussetzungen wie etwa dem Alter, der beruflichen Qualifikation nach der Erwerbsbiografie und dem Gesundheitszustand als auch objektiv von dem Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen ab (BVerfG, FamRZ 2010, 626, 628; FamRZ 2010, 183, 184; FamRZ 2010, 793, 794; FamRZ 2012, 1283; FamRZ 2014, 1977). Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller weder über einen Schulabschluss noch eine Berufsausbildung verfügt und die deutsche Sprache nur eingeschränkt beherrscht.
22 
Für gesunde Arbeitnehmer im mittleren Erwerbsalter wird allerdings selbst in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit regelmäßig kein Erfahrungssatz dahin gebildet werden können, dass sie nicht in eine vollschichtige Tätigkeit zu vermitteln seien (vgl. BGH FamRZ 2014, 637, 638; Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 10. Aufl. 2019, § 1 Rn. 784). Dies gilt auch für ungelernte Kräfte oder für Ausländer mit eingeschränkten deutschen Sprachkenntnissen (OLG Hamm, FamRZ 2002, 1427, 1428). Zu den insbesondere im Rahmen von § 1603 Abs. 2 BGB zu stellenden Anforderungen gehört es schließlich auch, dass der Unterhaltspflichtige sich um eine Verbesserung seiner deutschen Sprachkenntnisse bemüht (Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 10. Aufl. 2019, § 1 Rn. 784). Auf seine mangelnden Sprachkenntnisse kann der Unterhaltspflichtige sich nur für eine Übergangszeit berufen. Denn zu den gesteigerten Anforderungen an seine Bemühungen um einen neuen Arbeitsplatz gehört es nicht nur, die berufliche Qualifikation weiter zu fördern, sondern auch, sich unter Ausnutzung sämtlicher Hilfsangebote intensiv um eine Verbesserung der deutschen Sprachkenntnisse zu bemühen (BGH FamRZ 2014, 637, 638). Entsprechende Bemühungen hat der Antragsgegner bisher nicht dargelegt. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass seine Unterhaltspflicht bereits mit der Geburt der Antragstellerin im Jahr 2008 einsetzte, er seit über zehn Jahren in Deutschland lebt und er somit genügend Zeit hatte, seine Sprachkenntnisse zu verbessern und seine berufliche Qualifikation weiter zu fördern.
23 
Auch im Rahmen einer Vollbeschäftigung in der Gastronomie dürfte der Antragsgegner allerdings netto kein Einkommen erzielen, das über dem notwendigen Selbstbehalt liegt. Er verdient dort lediglich den Mindestlohn. Auch in anderen Tätigkeitsfeldern würde der Antragsteller aller Voraussicht nach mangels Schulabschlusses und Berufsausbildung keine höheren Einkünfte erzielen können. Legt man den im Jahr 2020 nach der Zweiten Mindestlohnanpassungsverordnung vom 13.11.2018 festgesetzten Mindestlohn in Höhe von 9,35 EUR pro Stunde bei einer monatlichen durchschnittlichen Stundenzahl von 173,90 zu Grunde, könnte der Antragsgegner in der Lohnsteuerklasse 1 im Jahr 2020 bei einem halben Kinderfreibetrag 1.219,27 EUR netto verdienen, wie die nachfolgende Berechnung für das Steuerjahr 2020 zeigt:
24 
Bruttolohn:
        
Stundenlohn:
9,35 EUR
Stundenzahl:
173,9
insgesamt:
1.625,97 EUR
        
LSt-Klasse 1
        
Kinderfreibeträge 0,5
Zusatzbeitrag zu KV (%)
0,9
Lohnsteuer:
-85,16 EUR
Rentenversicherung (18,6 % / 2)
-151,22 EUR
Arbeitslosenversicherung (2,4 % / 2)
-19,51 EUR
Krankenversicherung: (14,6%/2 + 0.9%/2)
-126,01 EUR
Pflegeversicherung (AN-Anteil 1,525 %)
-24,80 EUR
Nettolohn:
1.219,27 EUR
25 
Nach Abzug von 5 % pauschalen berufsbedingten Aufwendungen in Höhe 60,96 EUR liegt das verbleibende Einkommen des Antragstellers unter dem notwendigen Selbstbehalt in Höhe von 1.160 EUR (vgl. SüdL 2020, Ziff. 21.2). Bei Gefährdung des Mindestunterhalts für ein minderjähriges Kind und im Mangelfall kann der Pflichtige allerdings auf die konkrete Darlegung seines Aufwands verwiesen werden (vgl. Knoop, NJW-Spezial 2018, 260 und SüdL 2020, Ziff. 10.2.1). Die Antragsgegnerin hat insoweit vorgetragen, pauschale berufsbedingte Aufwendungen würden hier nicht anfallen, da der Antragsteller nur wenige Meter von seinem Arbeitsplatz entfernt wohne und diesen daher zu Fuß ohne weiteres erreichen könne. Diesem Vortrag ist der Antragsteller bisher nicht entgegengetreten. Selbst wenn man allerdings die pauschalen berufsbedingten Aufwendungen nicht in Abzug brächte, wäre der Antragsteller lediglich in Höhe von 60 EUR leistungsfähig.
26 
Legt man den im Jahr 2021 nach der Dritten Mindestlohnanpassungsverordnung vom 09.11.2020 festgesetzten Mindestlohn in Höhe von 9,50 EUR pro Stunde bei einer monatlichen durchschnittlichen Stundenzahl von 173,90 zu Grunde, stellen sich die Einkommensaussichten des Antragstellers für das Jahr 2021 ähnlich dar, wie die nachfolgende Aufstellung zeigt:
27 
Bruttolohn:
        
Stundenlohn:
9,50 EUR
Stundenzahl:
173,9
insgesamt:
1.652,05 EUR
        
LSt-Klasse 1
        
Kinderfreibeträge 0,5
Zusatzbeitrag zu KV (%)
1,3
Lohnsteuer:
-91,00 EUR
Rentenversicherung (18,6 % / 2)
-153,64 EUR
Arbeitslosenversicherung (2,4 % / 2)
-19,82 EUR
Krankenversicherung: (14,6%/2 + 1.3%/2)
-131,34 EUR
Pflegeversicherung (AN-Anteil 1,525 %)
-25,19 EUR
Nettolohn:
1.231,06 EUR
28 
Auch im Jahr 2021 beträgt der notwendige Selbstbehalt 1.160 EUR (vgl. SüdL 2021, Ziff. 21.2). Nach Abzug von 5 % pauschalen berufsbedingten Aufwendungen in Höhe 61,55 EUR, wäre der Antragsteller in Höhe von 10 EUR leistungsfähig, ohne Berücksichtigung pauschaler berufsbedingter Aufwendungen könnte der Antragsteller Unterhaltszahlungen in Höhe von 71 EUR erbringen.
29 
Bei einem für den Mindestunterhalt auch bei fiktiver Vollbeschäftigung unzureichenden Einkommen ist zu prüfen, ob und inwiefern dem Antragsgegner eine zusätzliche Nebentätigkeit zumutbar ist (vgl. Wendl/Dose/Klinkhammer, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 10. Aufl. 2019, § 2 Rz. 370), um das Existenzminimum des Kindes zu sichern. Auch wenn der Unterhalt aufgrund eines – wegen Verletzung der Erwerbsobliegenheit – lediglich fiktiven Einkommens festzusetzen ist, trifft den Antragsgegner eine Obliegenheit zur Ausübung einer Nebentätigkeit in demselben Umfang wie einen seine Erwerbsobliegenheit erfüllenden Unterhaltsschuldner (BGH, FamRZ 2014, 637, 639). Trotz der gesteigerten Unterhaltspflicht ergeben sich die Grenzen der vom Unterhaltspflichtigen zu verlangenden Tätigkeiten aus den Vorschriften des Arbeitsschutzes und den Umständen des Einzelfalls. Die Anforderungen dürfen nicht dazu führen, dass eine Tätigkeit trotz der Funktion des Mindestunterhalts, das Existenzminimum des Kindes zu sichern, unzumutbar erscheint (BGH FamRZ 2009, 314, 316; FamRZ 2011, 1041, 1043 f.). Im Rahmen der Zurechnung fiktiver Nebenverdienste ist auch zu prüfen, ob und in welchem Umfang es dem Unterhaltspflichtigen unter Abwägung seiner von ihm darzulegenden besonderen Lebens- und Arbeitssituation einerseits und der Bedarfslage des Unterhaltsberechtigten andererseits zugemutet werden kann, eine Nebentätigkeit auszuüben (vgl. BVerfG, FamRZ 2003, 661, 662). Zu den näheren Lebensumständen des Antragsgegners ist bisher nichts bekannt. Für die Frage, ob ihm die Ausübung einer Nebentätigkeit am Wochenende zumutbar ist, wäre etwa auch zu berücksichtigen, ob er regelmäßig Umgang mit seiner Tochter wahrnimmt. Zudem sind aufgrund der Corona-Pandemie insbesondere Beschäftigungen auf geringfügiger Basis aktuell schwer zu erlangen.
30 
Ferner hat der Antragsteller vorgetragen, er absolviere derzeit eine Ausbildung zum Koch, die bis zum Jahr 2024 andauere. Die Ausbildung werde ihn dazu befähigen, höhere Einkünfte zu erzielen, ermögliche es ihm aber derzeit nicht, mehr als 100 Stunden im Monat zu arbeiten. Sollte diese Ausbildung anerkennenswert sein, wird dem Antragsteller darüber hinaus eine Aufstockung auf Vollzeittätigkeit zuzüglich Nebentätigkeit nicht zugemutet werden können.
31 
Grundsätzlich müssen die Eltern zwar auf eigene Aus- und Fortbildungswünsche verzichten. Kinder müssen allerdings eine Weiterbildung des Unterhaltspflichtigen hinnehmen, wenn sie nur mit einem vorübergehenden Einkommensrückgang verbunden und ihr Existenzminimum (Mindestunterhalt) gesichert ist. Zwar ist hier das Existenzminimum des Kindes nicht gesichert, aber angesichts des fehlenden Schulabschlusses und einer fehlenden Ausbildung des Antragstellers besteht hierfür langfristig ohne eine Weiterbildung auch keinerlei Aussicht.
32 
Kinder müssen im Ausnahmefall zudem hinnehmen, dass der unterhaltspflichtige Elternteil eine Erstausbildung absolviert (BGH FamRZ 2011, 1041, 1044). Verfügt der Schuldner noch über keine abgeschlossene Berufsausbildung, ist die bisher ausgeübte Tätigkeit als ungelernte oder angelernte Hilfskraft fortgefallen und bestehen reale Arbeitsmöglichkeiten in diesem Bereich nicht mehr, kann ihm die Aufnahme einer Ausbildung nicht verwehrt werden, auch wenn die Schulzeit länger zurückliegt. Denn die Erlangung einer angemessenen Berufsausbildung gehört zum eigenen Lebensbedarf des Pflichtigen, den dieser grundsätzlich vorrangig befriedigen darf (BGH FamRZ 1994, 372, 375; 2011, 1041, 1044). Insoweit sind allerdings die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Tatsache warum der Unterhaltspflichtige gerade jetzt seine Erstausbildung durchführt und wie sich dies langfristig auf seine Leistungsfähigkeit für den Kindesunterhalt auswirkt. Vor dem Hintergrund, dass der Antragsteller bei Ausübung einer Vollzeittätigkeit unter Berücksichtigung pauschaler berufsbedingter Aufwendungen gar nicht beziehungsweise lediglich in geringem Umfang leistungsfähig wäre, wäre zu prüfen, ob mit der von ihm angegebenen Ausbildung zum Koch Leistungsfähigkeit erreicht werden könnte. Eine erstmalige Ausbildung zum Koch könnte die Erwerbsaussichten des Antragstellers nicht unerheblich verbessern und der Antragsgegnerin eine sicherere Grundlage für ihren Kindesunterhalt verschaffen. Insoweit hat der Antragsteller in einem Schreiben an seinen anwaltlichen Vertreter selbst mitgeteilt, dass er ab Sommer 2021 mit einem Bruttoeinkommen in Höhe von 1.800 EUR rechne (vgl. Anlage 2 zum Beschwerdeschriftsatz).
33 
Mit dem diesbezüglichen Vortrag des Antragstellers hat sich das Familiengericht in seiner Entscheidung allerdings nicht auseinandergesetzt und auch keine verfahrensleitenden Hinweise zu ergänzendem Vortrag des Antragstellers erteilt. Ob die von dem Antragsteller unter Beweisantritt behauptete Ausbildung vorliegend eine fiktive Zurechnung von Einkommen aus einer Vollzeittätigkeit zuzüglich des Einkommens aus einer möglicherweise zumutbaren Nebentätigkeit verbietet, bleibt der Prüfung im Hauptverfahren vorbehalten und kann nicht von vornherein im Verfahrenskostenhilfeverfahren ausgeschlossen werden.
34 
3. Dem Antragsteller ist Verfahrenskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu bewilligen, nachdem er derzeit netto nicht mehr als 800 EUR monatlich verdient und nach Abzug der Mietkosten und der Freibeträge ein Resteinkommen nicht verbleibt.
35 
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet, §§ 113 FamFG, 127 Abs. 4 ZPO.

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