Beschluss vom Hamburgisches Oberverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 Bs 230/17

Tenor

1. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt. Ihr wird Rechtsanwalt ... zur Vertretung beigeordnet.

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 28. August 2017, soweit darin der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt worden ist, geändert.

Die aufschiebende Wirkung der unter dem Az. 17 K 6414/17 anhängigen Klage wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gesamten vorläufigen Rechtsschutzverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.

2. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 28. August 2017, soweit darin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt worden ist, geändert.

Der Antragstellerin wird für das erstinstanzliche vorläufige Rechtsschutzverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt. Ihr wird Rechtsanwalt ... zur Vertretung beigeordnet.

Gründe

I.

1

Die Antragstellerin, eine iranische Staatsangehörige, erstrebt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Ablehnung ihres Antrags auf Verlängerung ihrer zunächst ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis.

2

Die Antragstellerin reiste am 14. Januar 2014 mit einem zum Zweck der Eheschließung erteilten Visum in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie wenige Tage später einen in Hamburg wohnenden deutschen Staatsangehörigen heiratete. Am 28. Januar 2014 erhielt sie eine bis zum 27. Juli 2015 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Knapp drei Monate später verließ sie die Ehewohnung und zog in ein Frauenhaus; die eheliche Lebensgemeinschaft wurde nicht wieder aufgenommen.

3

Mit Anwaltsschreiben vom 16. Juni 2014 beantragte die Antragstellerin (im Hinblick auf eine von ihr erwartete nachträgliche Befristung der Aufenthaltserlaubnis), ihr eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 31 AufenthG zu erteilen. Es bestünden besondere Härtegründe, die eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis trotz des nur kurzen Bestandes der ehelichen Lebensgemeinschaft rechtfertigten. So sei ihr Ehemann wiederholt gegen sie gewalttätig geworden. Im übrigen werde ihre Ehe mit einem nicht-muslimischen Mann im Iran nicht als rechtsgültig anerkannt, so dass ihr dort "außerehelicher" Geschlechtsverkehr vorgeworfen werden könne; hierauf stehe die Todesstrafe durch Steinigung. Schließlich sähen ihre Eltern die Trennung vom Ehemann als schwere Verletzung der Familienehre an.

4

Nachdem die Ausländerakte wegen eines Umzugs der Antragstellerin an das Bezirksamt Hamburg-Nord abgegeben worden war, erteilte die dortige Ausländerbehörde der Antragstellerin im Hinblick auf den noch unbeschiedenen Antrag am 21. Juli 2015 eine Fiktionsbescheinigung, die maximal bis zum 20. Oktober 2015 gelten sollte. Mit Bescheid vom 30. September 2015 lehnte das Bezirksamt Hamburg-Nord den Antrag vom 16. Juni 2014 ab und drohte der Antragstellerin die Abschiebung in den Iran an. Die besonderen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 AufenthG für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Antragstellerin lägen nicht vor. Während des sich anschließenden Widerspruchsverfahrens stellte die Antragsgegnerin wiederholt Grenzübertrittsbescheinigungen mit jeweils neuem Ausreisedatum aus. Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2017, der Antragstellerin über ihren Bevollmächtigten am 23. Mai 2017 zugestellt, wurde der Widerspruch der Antragstellerin zurückgewiesen.

5

Am 22. Juni 2017 hat die Antragstellerin Klage auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis erhoben (Verfahren 14 K 6414/17) und im vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragt; zugleich hat sie um Gewährung von Prozesskostenhilfe gebeten. Den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz sowie den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Eilverfahren hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 28. August 2017 abgelehnt. Zwar dürfte offen sein, ob die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 AufenthG erfüllt seien; dies könne jedoch dahinstehen, da die Antragstellerin jedenfalls nicht die allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfülle. Der von der Antragstellerin vor Ablauf der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis gestellte Verlängerungsantrag habe die Fiktion des erlaubten Aufenthalts ausgelöst. Hierdurch habe die Möglichkeit bestanden, befreit von dem Regelerfordernis, den Lebensunterhalt eigenständig zu sichern, eine eigene wirtschaftliche Existenz zu begründen. Die einjährige Dauer dieser "Schonfrist", gerechnet ab dem Ablauf der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis, sei inzwischen aber verstrichen, so dass das jetzige Verlängerungsbegehren nicht mehr als erste Verlängerung i.S.v. § 31 Abs. 1 AufenthG mit der Vergünstigung des § 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG anzusehen sei. In Betracht komme nur noch eine Verlängerung nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG; dies scheitere aber daran, dass die Antragstellerin auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angewiesen sei. Auch liege kein atypischer Ausnahmefall vor, der es rechtfertige, vom Regelerfordernis des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen.

6

Das Verwaltungsgericht stellte den Beschluss am 30. August 2017 per Empfangsbekenntnis dem Bevollmächtigten der Antragstellerin zu; bereits am Tag zuvor war der Beschluss vorab per Telefax (ohne Empfangsbekenntnis) übermittelt worden. Die am 11. September 2017 per Telefax beim Verwaltungsgericht eingegangene Beschwerde hat die Antragstellerin mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 29. September 2017 begründet, der zunächst ohne Unterschrift am gleichen Tag, einem Freitag, per Telefax beim Oberverwaltungsgericht eingegangen ist. Nach einem am darauffolgenden Montag erteilten Hinweis auf die fehlende Unterschrift ist der nunmehr vom Bevollmächtigten unterschriebene Schriftsatz am 2. Oktober 2017 erneut an das Oberverwaltungsgericht gefaxt worden.

II.

7

1. Die Antragstellerin hat Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt ... (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 1 ZPO) zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens gegen die Ablehnung des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Sie hat nachgewiesen, dass sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung aufzubringen. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Insoweit wird auf die nachfolgenden Ausführungen Bezug genommen.

8

2. Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin gegen die Versagung des beantragten vorläufigen Rechtsschutzes ist begründet. Unter Abänderung des entsprechenden Teils des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses wird die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ablehnung der beantragten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis angeordnet.

9

2.1. Die Beschwerde ist zulässig.

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a) Die am 11. September 2017 erhobene Beschwerde ist rechtzeitig innerhalb der Zweiwochenfrist des § 147 Abs. 1 VwGO erhoben worden; hierfür kommt es nicht darauf an, ob die Frist bereits am 29. oder erst am 30. August 2017 zu laufen begonnen hatte.

11

b) Auch hinsichtlich der Begründung der Beschwerde, die gemäß § 146 Abs. 4 Satz 1 und 2 VwGO zwingend innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Beschlusses des Verwaltungsgerichts beim Oberverwaltungsgericht einzureichen war, ist von der Einhaltung der Monatsfrist auszugehen.

12

Allerdings ist die Begründung nicht bereits am 29. Oktober 2017 rechtswirksam eingereicht worden, da der Schriftsatz an diesem Tag ohne Unterschrift des Bevollmächtigten beim Oberverwaltungsgericht einging. Das Schriftformerfordernis verlangt eine Unterschrift, um einen bloßen Entwurf von einem als verbindlich gemeinten Schriftstück unterscheiden zu können (vgl. GmSOGB, Beschl. v. 5.4.2000, GmS-OGB 1/98, NJW 2000, 2340, juris Rn. 10; Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 124a Rn. 154). Ein form- und inhaltsgleicher Schriftsatz, der erst nach Fristablauf in unterschriebener Form bei Gericht eingeht, reicht nicht aus (vgl. BVerwG, Beschl. v. 5.2.2003, 1 B 31.03, Buchholz 310 § 81 VwGO Nr. 16, juris Rn. 1).

13

Die am Montag, den 2. Oktober 2017 erneut per Telefax übersandte, nunmehr unterschriebene Beschwerdebegründung wahrt die Monatsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO. Als Beginn der Frist ist auf den 30. August 2017, das Datum des Empfangsbekenntnisses, abzustellen; von hieraus gerechnet endete die Monatsfrist am 2. Oktober 2017, da der 30. September 2017 ein Samstag war (§ 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 174 Abs. 1 und Abs. 4 Satz 1, § 222 Abs. 2 ZPO). Hingegen ist hier nicht in Anwendung von § 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 189 ZPO auf den 29. August 2017 abzustellen, an dem der Beschluss dem Bevollmächtigten von der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts bereits per Telefax übersandt worden war. Diese Übermittlung war nicht mit dem Zusatz "Zustellung gegen Empfangsbekenntnis" (vgl. § 174 Abs. 2 ZPO) eingeleitet worden. Dabei mag im vorliegenden Fall dahinstehen, ob schon die "Vorab"-Übermittlung des Beschlusses per Telefax vom (ansonsten sicherlich gegebenen) Zustellungswillen des Verwaltungsgerichts gedeckt war (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.5.2006, 6 B 65.05, NVwZ 2006, 943, juris Rn. 7 und 13). Für eine den Lauf der Beschwerde(begründungs)frist auslösende Heilung eines Zustellungsmangels durch nachweislichen Zugang des Schriftstücks müsste jedoch feststehen, dass der Beschluss dem Bevollmächtigten bereits am 29. August 2017 tatsächlich zugegangen ist. Hierfür müsste – entsprechend der Zustellung mittels Empfangsbekenntnisses – feststehen, dass der Bevollmächtigte selbst den per Telefax übermittelten Beschluss bereits am 29. August 2017 mit Empfangsbereitschaft entgegengenommen hat (vgl. Czybulka in: Sodan/Ziekow, a.a.O., § 56 Rn. 33); der Eingang des Beschlusses in der Kanzlei würde hierfür allein noch nicht genügen. Im vorliegenden Fall steht aber nicht fest, dass der Bevollmächtigte der Antragstellerin den Beschluss in der per Telefax übersandten Form bereits am 29. August 2017 in Empfang genommen hat.

14

2.2. Die Beschwerde ist auch begründet.

15

Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung das Beschwerdegericht zunächst gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, zieht die tragende Erwägung des Verwaltungsgerichts erfolgreich in Zweifel (a). Damit ist das Beschwerdegericht berechtigt, über den vorläufigen Rechtsschutzantrag des Antragstellers eigenständig und ohne die Begrenzung des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu entscheiden. Danach ist die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (b).

16

a) Das Verwaltungsgericht hat – entgegen der Annahme der Antragsgegnerin in ihrer Beschwerdeerwiderung – die Frage ausdrücklich offen gelassen, ob die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des über § 28 Abs. 3 Satz 1 AufenthG anwendbaren § 31 Abs. 2 AufenthG erfüllt sind (Beschluss S. 9). Tragend war für das Verwaltungsgericht allein die Überlegung, dass der Antragstellerin, die derzeit Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehe, die Vergünstigung des § 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG – Absehen vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung im ersten Jahr nach dem Ende der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis – nicht mehr zugutekomme. Vom somit einschlägigen Regelerteilungserfordernis des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sei hier keine Ausnahme zu machen.

17

Die dieser Auffassung zugrundeliegenden rechtlichen Erwägungen hat die Antragstellerin durchgreifend in Zweifel gezogen.

18

Sie weist zu Recht darauf hin, dass das Verwaltungsgericht eine Annahme zugrunde lege, die in ihrem Fall nicht gegeben gewesen sei. Zwar meine das Verwaltungsgericht zutreffend, die Regelung des § 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG bezwecke, dem Ausländer die Möglichkeit einzuräumen, im ersten Jahr nach dem Scheitern der Ehe eine eigene wirtschaftliche Existenz zu begründen. Das Verwaltungsgericht verkenne aber, dass ihr diese Möglichkeit gerade nicht eingeräumt worden sei, da ihr Verlängerungsantrag schon gut zwei Monate nach Ablauf der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis abgelehnt worden sei. Weiter habe das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass ein ausländischer Ehegatte nach Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft auch im Schutz einer (durch einen rechtzeitig gestellten Verlängerungsantrag ausgelösten) Fiktionswirkung eine eigene wirtschaftliche Existenz begründen könne; aus diesem Grund sei die Dauer einer Fiktionswirkung im Anschluss an die ehebezogene Aufenthaltserlaubnis als "erste Verlängerung" anzurechnen. Zutreffend weist die Antragstellerin darauf hin, dass hierbei der tatsächliche Verfahrensablauf ihres Falles nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. Zwar hatte der zunächst nicht beschiedene Verlängerungsantrag vom 16. Juni 2014 ab dem Ablauf der bis 27. Juli 2015 gültigen ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis die Fortgeltungswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 ausgelöst; die Fiktionsbescheinigung enthielt auch die Nebenbestimmung "Erwerbstätigkeit erlaubt". Diese Wirkung erlosch aber bereits mit Zustellung des Ablehnungsbescheids vom 30. September 2015, wie sich aus § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ("gilt ... bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend") ergibt und auch im Tenor des Bescheides erwähnt wurde. Damit galt der Aufenthalt der Antragstellerin nur gut zwei Monate über die Geltungsdauer der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis hinaus als erlaubt. In der Folgezeit erhielt die Antragstellerin nur noch jeweils verlängerte Grenzübertrittsbescheinigungen, aufgrund derer ihr eine Erwerbstätigkeit nicht erlaubt war. Damit war es aber nicht möglich, sich im Jahr nach Ablauf der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis eine eigene Existenzgrundlage zu schaffen. Es spricht auch viel dafür, dass – wie die Antragstellerin vorbringt – diese besondere Situation zumindest bei der Prüfung einer Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG hätte berücksichtigt werden müssen.

19

b) Die somit vom Beschwerdegericht anzustellende eigenständige Prüfung des vorläufigen Rechtsschutzbegehrens der Antragstellerin führt zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ablehnung des Verlängerungsantrags vom 16. Juni 2014.

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aa) Mit dem Verwaltungsgericht geht der Senat davon aus, dass die richtige Rechtsschutzform des vorläufigen Rechtsschutzes hier der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist, da die Antragstellerin erst durch die Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 30.September 2015 vollziehbar ausreisepflichtig wurde (§ 58 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Mit der begehrten Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage wird die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht suspendiert.

21

bb) Die Erfolgsaussichten der Klage stellen sich bei der hier allein möglichen summarischen Prüfung als offen dar; die somit erforderliche gerichtliche Abwägung des Bleibeinteresses der Antragstellerin und des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung führt zu einem Überwiegen des Interesses der Antragstellerin, bis zur Entscheidung des Hauptsacherechtsstreits im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen.

22

(1) Eine Verlängerung der bis zum 27. Juli 2015 geltenden ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis kommt, da die eheliche Lebensgemeinschaft allenfalls knapp drei Monate bestanden hat, hier nur in Betracht, wenn die besonderen Voraussetzungen des § 28 Abs. 3 i.V.m. § 31 Abs. 2 Satz 1 und 2 AufenthG vorliegen. Demnach müsste es zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich sein, der Antragstellerin den weiteren Aufenthalt zu ermöglichen. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, lässt sich im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend beurteilen.

23

Eine besondere Härte liegt nach § 31 Abs. 2 Satz 3 AufenthG u.a. dann vor, wenn dem Ehegatten ein Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft deshalb unzumutbar ist, weil er Opfer häuslicher Gewalt ist. Ob sich die Antragstellerin hierauf mit Erfolg berufen kann, muss derzeit als offen angesehen werden. Die Darstellungen der Antragstellerin und ihres Ehemannes über die Geschehnisse im Frühjahr 2014 unterscheiden sich erheblich, wie insbesondere den Angaben der Antragstellerin bei ihrer zeugenschaftlichen Vernehmung bei der Polizei am 5. Juni 2014 (Sachakte 163 f.) und den durch eine Anwältin abgegebenen Einlassungen des Ehemannes (Sachakte S. 176 f.) zu entnehmen ist. Sollte sich im Hauptsacheverfahren eine gerichtliche Überzeugung ergeben, dass überhaupt für eine gewisse Zeit eine eheliche Lebensgemeinschaft zwischen der Antragstellerin und ihrem Ehemann bestanden hat (vgl. zur Erforderlichkeit dieser Voraussetzung für die Anwendung des § 31 AufenthG: Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 31 AufenthG Rn. 45) und die Angaben der Antragstellerin zu den geschilderten Vorfällen glaubhaft sind, so wird eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange der Antragstellerin kaum mit der Begründung zu verneinen sein, die Handlungen des Ehemannes hätten nicht zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Antragstellerin geführt, da es sich nicht um gravierende Misshandlungen gehandelt habe (so sinngemäß der Widerspruchsbescheid vom 16.5.2017, S. 8 und die Beschwerdeerwiderung der Antragsgegnerin vom 30.10.2017). Die Unzumutbarkeit, die eheliche Lebensgemeinschaft fortzusetzen, verlangt nach dem Wortlaut des § 31 Abs. 2 Satz 2, 3. Beispielsfall AufenthG anders als nach dem 2. Beispielsfall keine erhebliche Beeinträchtigung z.B. der körperlichen Unversehrtheit (vgl. Dienelt in: Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 31 AufenthG Rn. 48 und 65). Die Unzumutbarkeit, die eheliche Lebensgemeinschaft fortzuführen, wird jedenfalls dann, wenn es durch den einzelnen Vorfall nicht bereits zu gravierenden Beeinträchtigungen gekommen ist, aufgrund einer wertenden Gesamtschau zu beurteilen sein. Hierbei kann es eine Rolle spielen, innerhalb welchen Zeitrahmens und aus welchen Gründen es zu wiederholten Vorfällen gekommen ist; die Antragstellerin hat insoweit von zwei Vorfällen innerhalb von nicht einmal drei Monaten gesprochen.

24

Im vorläufigen Rechtsschutzverfahren lässt sich auch nicht abschließend beurteilen, ob sich die Antragstellerin ggf. aus anderen Gründen berechtigterweise auf eine besondere Härte im Sinn von § 31 Abs. 2 Satz 1 und 2 AufenthG berufen kann. Da die Ehe zwischen einer muslimischen Frau und einem nicht-muslimischen Mann nach iranischem Recht (§ 1059 iranZGB) verboten und nichtig ist (vgl. Enayat in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Ordner VII, Iran [Stand 1.10.2002], S. 47 f., 122), befürchtet die Antragstellerin, im Fall einer Rückkehr in den Iran wegen "außerehelicher" sexueller Kontakte bis hin zur Todesstrafe bestraft werden zu können. Bei der Interpretation des Begriffs der erheblichen Beeinträchtigungen i.S.v. § 31 Abs. 2 Satz 2 AufenthG sind nur solche Gefährdungen zu berücksichtigen, die aus der Auflösung der Ehe folgen oder mit dem vorangegangenen ehe- und familienbedingten Aufenthalt zumindest mittelbar im Zusammenhang stehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.6.2009, 1 C 11.08, BVerwGE 134, 124, juris Rn. 24 ff.). Hierunter werden auch die von der Antragstellerin angeführten Gefahren fallen. Dass es hierbei um Fragen geht, für deren Prüfung sonst das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig wäre (§ 60 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG; §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1, 13 Abs. 1 AsylG), muss der Würdigung im vorliegenden Zusammenhang noch nicht zwingend entgegenstehen, da die Prüfungsgegenstände nicht notwendig identisch sind (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 31 AufenthG Rn. 54; BVerwG, Urt. v. 9.6.2009, a.a.O., juris Rn. 32).

25

Nach dem geltenden iranischen Strafrecht (siehe hierzu Silvia Tellenbach, Grundzüge des iranischen Strafgesetzbuchs von 2013 in: Konrad-Adenauer-Stiftung, Iran-Reader 2017, Beiträge zum deutsch-iranischen Kulturdialog, zusammengestellt von Dr. Oliver Ernst, S. 71-86) ist als Hadd-Straftat (im Koran festgelegte Straftat, vgl. Tellenbach, a.a.O., S. 72) jeder Geschlechtsverkehr zwischen Personen strafbar, die nicht miteinander verheiratet sind; dabei ist die Strafe für den Geschlechtsverkehr zwischen Unverheirateten 100 Peitschenhiebe (Tellenbach, a.a.O., S. 80). Eine Steinigungsstrafe würde zusätzlich einen Ehebruch voraussetzen, der nur bei bestehender Dauerehe mit einer anderen Person begangen werden kann (Tellenbach, a.a.O., S. 80), was im vorliegenden Fall nicht der Fall ist. Für Hadd-Straftaten gelten zwar an sich streng formalisierte Beweisregeln, doch kennt das schiitische Recht auch das weitere Beweismittel des "Wissens des Richters". Dieses kann auf Sachverständigengutachten, Augenscheineinnahmen, Berichten von Polizeibeamten und sonstigen Indizien beruhen, die ihrer Art nach geeignet sind, Wissen zu vermitteln; insgesamt ist das Beweisrecht damit auch im Bereich des islamischen Kernstrafrechts sehr flexibel (Tellenbach, a.a.O., S. 83). Nach dem iranischen Strafrecht wird ein iranischer Staatsangehöriger, der im Ausland eine Tat begeht, die nach dem iranischen Strafgesetz strafbar ist, bestraft, sobald er sich im Iran aufhält (Tellenbach, a.a.O., S. 73).

26

Damit ist aber noch nicht gesagt, wie hoch im Fall der Rückkehr der Antragstellerin in den Iran die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung der Antragstellerin und einer Verurteilung zu einer unmenschlichen und erniedrigenden Strafe (Auspeitschung) wäre; diese Frage wäre, soweit es hierauf ankommen sollte, im Hauptsacheverfahren näher zu prüfen.

27

(2) Sollten die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 AufenthG vorliegen, spricht viel dafür, dass die Antragstellerin sich auf eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG berufen kann.

28

Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, kann vorliegend nur dann Erfolg haben, wenn die Erteilung einer in die Zukunft gerichteten Aufenthaltserlaubnis in Betracht kommt. Zwar ist das Bestehen eines Anspruchs auf Verlängerung der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis in dem Jahr nach Ablauf der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis – somit für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum – Voraussetzung für die weitere Verlängerung (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.6.2011, 1 C 5.10, BVerwGE 140, 64, juris Rn. 13), doch besteht ein Rechtsschutzbedürfnis für vorläufigen Rechtsschutz nur insoweit, als es um den weiteren Aufenthalt in der Zukunft geht. Insoweit kann sich die Antragstellerin, die derzeit ihren Lebensunterhalt nicht ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann, nicht auf § 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG berufen. Diese Vorschrift, die die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch für grundsätzlich unschädlich hält, gilt nur für das Jahr unmittelbar nach Ablauf der ehegattenbezogenen Aufenthaltserlaubnis (BVerwG, Urt. v. 22.6.2011, a.a.O., Rn. 13; Urt. v. 10.12.2013, 1 C 1.13, BVerwGE 148, 297, juris Rn. 20), hier somit bis zum 27. Juli 2016. Daran dürfte sich auch dann nichts ändern, wenn die Antragsgegnerin die besonderen Verlängerungsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 AufenthG zu Unrecht verneint haben sollte.

29

Der Fall der Antragstellerin unterscheidet sich indes dadurch von der Grundannahme der gesetzlichen Regelung in § 31 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG, als sie – abgesehen von den zwei Monaten zwischen dem Ablauf der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis und der Ablehnung des Verlängerungsantrags – infolge dieser Ablehnung gerade nicht die Möglichkeit hatte, im Jahr nach dem Ablauf der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis eine eigenständige wirtschaftliche Existenz zu begründen. Allerdings kann hierbei nicht schematisch allein auf die Umstände im unmittelbar auf den Ablauf der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis folgenden Jahr abgestellt werden. Eine ehebezogene Aufenthaltserlaubnis wandelt sich weder von sich aus mit dem Ende der ehelichen Lebensgemeinschaft in eine eigenständige Aufenthaltserlaubnis um, noch entsteht bereits zu diesem Zeitpunkt der Anspruch nach § 31 Abs. 1 AufenthG; vielmehr entsteht dieser erst mit dem Ablauf des ehebezogenen Aufenthaltstitels und setzt einen darauf gerichteten Antrag voraus (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.12.2013, a.a.O., Rn. 14). Die Zeitdauer, in der die ehebezogene Aufenthaltserlaubnis nach endgültiger Trennung der Eheleute noch fortgilt (soweit sie nicht nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nachträglich befristet wird), kann somit im Einzelfall durchaus erheblich sein. In dieser "Restlaufzeit" ist der Ehegatte berechtigt, eine Erwerbstätigkeit auszuüben (§ 27 Abs. 5 AufenthG) und hat somit grundsätzlich die Möglichkeit, sich bereits in dieser Zeit um eine Beschäftigung zu bemühen. Zwar ist der Ehegatte ausländerrechtlich hierzu nicht verpflichtet, doch kann vorwerfbares Verhalten insoweit bereits im ersten Jahr nach dem Ende der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis durch eine Versagung der Verlängerung sanktioniert werden (§ 31 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Dieser Gedanke kann dementsprechend für die nachfolgende Zeit auf die Prüfung übertragen werden, ob ein Ausnahmefall von der Regel des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorliegt.

30

Nach dem durch zahlreiche Nachweise belegten Vorbringen der Antragstellerin (vgl. Schriftsatz vom 13.11.2015 im Widerspruchsverfahren sowie Beschwerdebegründung) spricht viel dafür, dass man ihr nicht vorwerfen kann, sie habe die ihr zur Verfügung stehende Zeit aus der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis – hier noch etwa 15 Monate seit der endgültigen Trennung vom Ehemann – nicht genutzt, um später durch eigenständige Berufstätigkeit ihren Lebensunterhalt sichern zu können. So hat sich die Antragstellerin bereits im Juni 2014 um die Anerkennung ihrer iranischen Schulausbildung bemüht, hat im April 2015 den Deutsch-Test für Zuwanderer mit dem Ergebnis B1 bestanden und im Mai 2015 den Test "Leben in Deutschland" mit beinahe voller Punktzahl absolviert. Sie hat ferner seit November 2014 ein mehrmonatiges Praktikum zur Vorbereitung auf eine Berufsausbildung absolviert. Zu dieser Ausbildung in der Berufsfachschule für Sozialpädagogische Assistenz war sie bereits zugelassen, konnte diese aber infolge der Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht durchführen. Von September 2015 bis April 2016 engagierte sich die Antragstellerin zudem ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe Hamburg Hauptbahnhof.

31

(3) Die bei noch offener Erfolgsaussicht hinsichtlich des Hauptsacheverfahrens vom Beschwerdegericht eigenständig vorzunehmende Interessenabwägung führt zu einem Überwiegen des Bleibeinteresses der Antragstellerin. Das durch den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen (§ 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) dokumentierte öffentliche Interesse an der baldigen Beendigung des Aufenthalts der Antragstellerin ist vorliegend auch deshalb nicht besonders hoch zu gewichten, weil die Antragsgegnerin den Verlängerungsantrag vom 16. Juni 2014 erst am 30. September 2015 beschieden und über den Widerspruch erst am 16. Mai 2017 entschieden hat.

32

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG.

III.

33

Die zulässige Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche vorläufige Rechtsschutzverfahren hat ebenfalls Erfolg. Die Antragstellerin war nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung aufzubringen. Der Antrag hatte auch die nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg. Insoweit wird auf die vorstehenden Ausführungen unter II. Bezug genommen. Die Beiordnung von Rechtsanwalt ... beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO.

34

Hinsichtlich dieses Teils der Beschwerde ist eine Kostenentscheidung entbehrlich, da bei einer erfolgreichen Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe keine Gerichtsgebühren anfallen (Nr. 5502 KV-GKG) und außergerichtliche Kosten nicht erstattet werden (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).

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