Urteil vom Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern (2. Senat) - 2 L 302/06

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald - 6. Kammer - vom 13.07.2006 wird geändert.

Der Bescheid der Stammdienststelle des Heeres vom 25.10.2004 in Gestalt des Beschwerdebescheides des Bundesministeriums der Verteidigung vom 10.03.2005 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Beschwerdeverfahren wird für notwendig erklärt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen seine fristlose Entlassung aus der Bundeswehr.

2

Er trat seinen Dienst im Alter von gerade 17 Jahren am 01.10.2002 an. Seine Dienstzeit wurde zuletzt auf insgesamt drei Jahre festgesetzt. Seine letzte Beförderung (zum Unteroffizier) datiert vom 01.10.2003. Am 02.07.2004 beendete er erfolgreich den Feldwebelanwärterlehrgang Teil 2.

3

Mit Bescheid vom 25.10.2004 wurde der Kläger fristlos (zum 27.10.2004) aus der Bundeswehr entlassen. In den Gründen heißt es u.a.: Der Kläger habe Reisekosten für eine Umzugsreise am 16.07.2004 geltend gemacht und dabei angegeben, dafür sein eigenes Kraftfahrzeug genutzt zu haben. Tatsächlich sei er aber von einem Kameraden mitgenommen worden. Der Kläger habe gewusst, dass sein Verhalten den Tatbestand des Betruges erfülle.

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Seine dagegen eingelegte Beschwerde wurde durch Beschwerdebescheid vom 10.03.2005 - zugestellt am 15.03.2005 - unter gleichzeitiger Anordnung der sofortigen Vollziehung zurückgewiesen.

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Die dagegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht durch Urteil vom 13.07.2006 abgewiesen.

6

Der Senat hat die Berufung des Klägers durch Beschluss vom 27.04.2008 - zugestellt am 30.04.2008 - wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung zugelassen. Nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist um einen Monat ist die Berufungsbegründung am 24.06.2008 eingegangen.

7

Der Kläger beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald - 6. Kammer - vom 13.07.2006 zu ändern und die angefochtenen Bescheide aufzuheben

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sowie die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Beschwerdeverfahren für erforderlich zu erklären.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

13

Die Berufung des Klägers hat Erfolg. Der Klage ist stattzugeben. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

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Die fristlose Entlassung des Klägers aus der Bundeswehr ist nicht gerechtfertigt, weil die Voraussetzungen der als Rechtsgrundlage einzig in Betracht kommenden Vorschrift des § 55 Abs. 5 SG nicht vorliegen. Danach kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre fristlos entlassen werden, wenn er seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben in dem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde.

15

Zutreffend hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass der Kläger gegen die Pflicht zum treuen Dienen und gegen die Wahrheitspflicht (§§ 7 und 13 Abs. 1 SG) schuldhaft verstoßen hat. Zur Vermeidung von Wiederholungen kann in diesem Punkt auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil verwiesen werden.

16

Das Verbleiben des Klägers im Soldatenverhältnis auf Zeit hätte jedoch weder die militärische Ordnung noch das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährdet.

17

Ob diese tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für die Entlassung vorliegen, ist verwaltungsgerichtlich uneingeschränkt zu überprüfen; der für die Entlassung zuständigen Stelle ist insoweit kein Beurteilungsspielraum eingeräumt (vgl. Beschl. des Senats v. 23.10.1997 - 2 L 32/97 -, juris Rn. 22 m.w.N.).

18

Bei der Bestimmung des Begriffs der militärischen Ordnung ist vom Verteidigungszweck der Bundeswehr auszugehen. Zur militärischen Ordnung gehört alles, was erforderlich ist, um die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr nach den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen zu erhalten, wobei es nicht genügt, wenn lediglich Randbereiche des Militärischen berührt werden. Eine ernstliche Gefährdung der so verstandenen militärischen Ordnung durch das Verbleiben eines Soldaten, der seine Dienstpflichten verletzt hat, im Dienst kann sich aus der begründeten Befürchtung ergeben, dass es zu weiteren vergleichbaren Dienstpflichtverletzungen kommen werde (Wiederholungsgefahr). Die Gefahr kann sich aber auch daraus ergeben, dass es sich bei den einzelnen Dienstpflichtverletzungen um das typische Teilstück einer als allgemeine Erscheinung auftretenden Neigung zu Disziplinlosigkeiten handelt, sodass ohne die Entlassung ein Anlass zu ähnlichem Verhalten für andere Soldaten gegeben wäre. Daraus folgt, dass nicht jede Dienstpflichtverletzung die Möglichkeit einer fristlosen Entlassung eröffnet. Vielmehr ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu erwägen, ob einer eventuellen Gefährdung durch andere Maßnahmen begegnet werden kann.

19

Wenn § 55 Abs. 5 SG eine "ernstliche" Gefährdung voraussetzt, konkretisiert das Gesetz an dieser Stelle den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Jedenfalls wenn es sich nicht um eine schwerwiegende Dienstpflichtverletzung handelt oder sonst besondere Umstände die sofortige Beendigung des Dienstverhältnisses erforderlich machen, bedarf es im Regelfall vor der Entlassung einer Pflichtenmahnung, verbunden mit dem Hinweis auf die drohende Entlassung (vgl. Beschl. des Senats v. 23.10.1997 - 2 L 32/97 -, a.a.O. Rn. 21; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 23.04.2009 - 1 L 29/09 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 14.07.2006 - 10 A 10243/06 -; Nieders. OVG, Beschl. v. 30.05.2006 - 5 ME 67/06 -; alle m.w.N. und jeweils zit. nach juris).

20

Das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot der Verhältnismäßigkeit verpflichtet die Beklagte auch, zu berücksichtigen, wenn der betreffende Soldat die Dienstpflichtverletzung als Heranwachsender begangen hat (vgl. zu einer beamtenrechtlichen Entlassung: Beschl. d. Senats v. 22.04.1993 - 2 M 78/92 -, m.w.N.). Heranwachsender ist, wer noch nicht 21 Jahre alt ist (vgl. § 1 Abs. 2 JGG). Dies gilt auch für den Anwendungsbereich des § 55 Abs. 5 GG. Zwar ist davon auszugehen, dass der betroffene Personenkreis allgemein vergleichsweise jung ist; ersichtlich erfasst die Norm aber auch Erwachsene im strafrechtlichen Sinne. Auch die Gesamtpersönlichkeit des Soldaten ist in den Blick zu nehmen, wobei es insbesondere darauf ankommt, ob sich seine Dienstpflichtverletzung als einmalige Verfehlung darstellt (vgl. Beschl. des Senats v. 24.01.2007 - 2 O 65/06 -, m.w.N.).

21

Die Anwendung dieser Maßstäbe führt im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass das Verbleiben des Klägers im Dienstverhältnis die militärische Ordnung der Bundeswehr nicht ernstlich gefährdet hätte.

22

Bei der Dienstpflichtverletzung des Klägers geht es nicht um den inneren Kernbereich des Militärischen, wie dieser etwa bei einer Befehlsverweigerung oder bei Drogenkonsum während des Dienstes betroffen wäre. Der Senat verkennt allerdings nicht, dass auch ein Vermögensdelikt zum Nachteil des Dienstherrn im Einzelfall zur Bejahung der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für eine Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG führen kann. Dies würde aber voraussetzen, dass die Höhe des Schadens, den der Soldat angerichtet hat (bzw. anrichten wollte) oder die besonderen Umstände der Dienstpflichtverletzung die Annahme rechtfertigen, der Soldat sei zur Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung in der Bundeswehr nicht mehr tragbar. In diesem Zusammenhang kann auch auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in Disziplinarverfahren verwiesen werden. Danach kommt bei unrichtigen Angaben eines Beamten in Anträgen auf aus dem Beamtenverhältnis fließende Unterstützungen grundsätzlich eine Gehaltskürzung, bei erschwerenden Umständen, etwa bei zusätzlicher Urkundenfälschung, die Dienstgradherabsetzung oder auch die Entfernung aus dem Dienst in Betracht (Urt. v. 12.12.1989 - 1 D 77/88 -, zit. nach juris).

23

Vorliegend handelt es sich um einen aus mehreren Gründen minder schweren Fall, so dass bei einem Beamten nicht einmal eine Gehaltskürzung verwirkt wäre (vgl. auch § 34 Abs. 1 Nr. 1 BBG).

24

Dass der Kläger konkret einen großen Schaden hätte anrichten wollen, ist nicht festzustellen. Hiervon geht ersichtlich auch die Beklagte nicht aus, denn in den angefochtenen Bescheiden wird die Summe bzw. die Größenordnung, um die es gegangen ist, nicht erwähnt. Bei den Verwaltungsvorgängen findet sich allerdings auf dem formularmäßigen Antrag, den der Kläger am 02.08.2004 ausgefüllt hat, die Eintragung eines Erstattungsbetrags in Höhe von 85,50 Euro. Der Kläger hat ersichtlich auch nicht nach einem wohl durchdachten Plan gehandelt, sondern die Tat eher unüberlegt ausgeführt. Zum einen war er am Tag der abgerechneten Reise, d.h. am 16.07.2004 weder im Besitz einer Fahrerlaubnis noch eines einsatzfähigen Fahrzeugs, allein deshalb war das Risiko der Entdeckung schon relativ hoch (vgl. u.a. Schriftsatz der Beklagten v. 05.08.2008). Zum anderen hat er auch dem Kameraden, mit dem er tatsächlich mitgefahren ist, nichts über seine Absicht, die Fahrt abrechnen zu wollen, mitgeteilt, sodass dieser ihn in seiner eigenen Abrechnung als Mitfahrer angegeben hat. Als Entlastung im strafrechtlichen bzw. disziplinarrechtlichen Sinne ist es auch zu werten, dass es beim versuchten Betrug geblieben ist (vgl. §§ 23, 49 Abs. 2 StGB). Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Kläger zur Tatzeit erst 18 Jahre alt war, was in den angefochtenen Bescheiden keine Erwähnung findet, obwohl der Kläger im Beschwerdeverfahren mehrfach auf sein jugendliches Alter hingewiesen hatte. So schreibt er etwa in der Eingabe vom 22.12.2004, er sei der "jüngste Unteroffizier, den die Bundeswehr je hatte". Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass die Beklagte selbst dem Kläger im Beschwerdebescheid ein "sonst unbeanstandetes dienstliches Verhalten" bescheinigt hat.

25

Danach ist nicht festzustellen, dass das Verbleiben des Klägers in der Bundeswehr die militärische Ordnung ernstlich gefährdet hätte. Es gibt keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, dass der befürchteten Wiederholungs- bzw. Nachahmungsgefahr nicht in genügendem Maße durch eine Disziplinarmaßnahme eventuell mit der Androhung der Entlassung im Wiederholungsfall hätte entgegengewirkt werden können. Die Beklagte selbst hat es im Übrigen ersichtlich nicht für erforderlich gehalten, den Kläger sofort an der weiteren Dienstausübung zu hindern. Seine Verfehlung ist spätestens im August 2004 bekannt gewesen. Der Kläger hat aber noch bis März 2005 seinen Dienst verrichtet (Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entlassung). Der Kläger hatte zu dieser Zeit ohnehin nur noch etwa sechs Monate bis zu seinem regulären Dienstzeitende.

26

Auch eine ernstliche Gefährdung des Ansehens der Bundeswehr ist zu verneinen.

27

Eine solche Gefährdung ist anzunehmen, wenn der Ruf der Bundeswehr gefährdet, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Rechtstaatlichkeit der Streitkräfte erschüttert ist (vgl. Nieders. OVG, a.a.O.; Beschl. d. Senats v. 23.10.1997, a.a.O.).

28

Wenn es dazu im Beschwerdebescheid heißt, die Öffentlichkeit stelle hohe Anforderungen an die Integrität der Bundeswehr, deren Vertrauen werde irreparabel zerstört, wenn auch nur der Anschein entstünde, der Dienstherr dulde Betrugsdelikte, so wird nicht deutlich, auf welche Weise diese Außenwirkung erzielt worden sein könnte. Es ist nicht einmal ersichtlich, dass die Dienstpflichtverletzung des Klägers in der Truppe bekannt geworden ist, sieht man einmal von der Vernehmung des Kameraden, der den Kläger in seinem PKW hat mitfahren lassen, als Zeugen ab. Geht man aber zugunsten der Beklagten von einer gewissen Außenwirkung aus, so fehlt es jedenfalls an der Ernstlichkeit der Ansehensgefährdung, zumal anzunehmen ist, dass wer auch immer von der Verfehlung des Klägers erfahren haben sollte, zugleich wohl auch über deren prompte Aufdeckung informiert gewesen wäre. In diesem Punkt gelten außerdem die Ausführungen zur fehlenden Ernstlichkeit der Gefährdung der militärischen Ordnung entsprechend.

29

Da bereits die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG für eine Entlassung des Klägers nicht vorliegen, kommt es nicht darauf an, ob die angefochtenen Bescheide Ermessensfehler aufweisen.

30

Die Kostenentscheidungen beruhen auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.

31

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 132 Abs. 2 VwGO).

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Beschluss

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Der Streitwert wird für die zweite Instanz gemäß § 52 Abs. 5 GKG auf 9.060,03 Euro festgesetzt.

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