Beschluss vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (5. Senat) - 5 MB 22/20

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners und der Beigeladenen wird der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts – 3. Kammer – vom 19. Juni 2020 geändert und unter Einbeziehung des nicht angefochtenen Teils wie folgt gefasst:

Die Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes werden abgelehnt.

Soweit diese Entscheidung die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung und die einstweilige Anordnung im Beschluss des Verwaltungsgerichts aufhebt, ist sie ab dem 19. Dezember 2020 vollziehbar.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 140.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1

Mit Bescheiden vom 17. April 2018 erteilte der Antragsgegner der Antragstellerin für die Jahre 2019 bis 2028 die Genehmigung für den eigenwirtschaftlichen Linienverkehr im Teilnetz West des Kreisgebietes und lehnte den Genehmigungsantrag der Beigeladenen ab. Nach einem im Wesentlichen erfolglosen Widerspruch erhob die Beigeladene Klage, über die noch nicht entschieden ist. Sie ist die einzige verbliebene Konkurrentin, nachdem der an eine dritte Bewerberin gerichtete Ablehnungsbescheid bestandskräftig geworden ist.

2

Für das Jahr 2019 erteilte der Antragsgegner der Antragstellerin wiederholt einstweilige Erlaubnisse. Nachdem die Beigeladene hiergegen zunächst erfolglos um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht hatte, unterließ sie es in der Folgezeit, ihrerseits eine einstweilige Erlaubnis zu beantragen.

3

Am 28. November 2019 verlangte die Antragstellerin eine zusätzliche Finanzierung, da die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung durch die im Genehmigungswettbewerb nicht ersichtlichen Leistungsausweitungen stark eingeschränkt sei. Anderenfalls werde sie keinen weiteren Antrag auf Erteilung einer einstweiligen Erlaubnis stellen. Daraufhin verpflichtete sich der Antragsgegner mit dem „Verkehrsvertrag Interimsvergabe Teilnetz West“ vom 30. Dezember 2019 zur Zahlung eines Zuschusses von 2,871 Millionen Euro für die erste Jahreshälfte 2020.

4

Für die zweite Jahreshälfte 2020 beantragten sowohl die Antragstellerin als auch die Beigeladene eine einstweilige Erlaubnis. Mit Bescheiden vom 20. Februar 2020 entschied sich der Antragsgegner unter Anordnung der sofortigen Vollziehung für die Beigeladene und lehnte den Antrag der Antragstellerin ab. Den Widerspruch der Antragstellerin wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 1. April 2020 zurück. Über die daraufhin erhobene Klage ist noch nicht entschieden.

5

Mit Beschluss vom 19. Juni 2020 hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die der Beigeladenden erteilte einstweilige Erlaubnis wiederhergestellt und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin die einstweilige Erlaubnis für die Dauer vom 1. Juli 2020 bis 31. Dezember 2020 zu erteilen. Den weitergehenden Antrag, die einstweilige Anordnung auf die Zeit bis zum 31. Dezember 2021 zu erstrecken, hat das Verwaltungsgericht abgelehnt.

6

In der Begründung heißt es, das Interesse der Antragstellerin an der Aussetzung der sofortigen Vollziehung überwiege das öffentliche Interesse sowie das Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Ausnutzung der einstweiligen Erlaubnis, da sich diese mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig erweise. Grundsätzlich spreche das öffentliche Verkehrsinteresse eher dafür, demjenigen Unternehmer, dem wegen seines besseren Verkehrsangebots die endgültige Genehmigung erteilt worden sei, auch eine einstweilige Erlaubnis zu erteilen. Die Antragstellerin habe sich zwar beklagt, dass die fehlende Planungssicherheit aufgrund jeweils 6-monatiger einstweiliger Erlaubnisse als wirtschaftlich unzuträglich empfunden werde. Wesentlicher Gesichtspunkt sei dabei der Einwand, dass die von ihr erbrachten Leistungen über den ursprünglich ausgeschriebenen Umfang hinausgingen. Dies sei aber zu keinem Zeitpunkt mit der Erklärung verbunden gewesen, sie, die Antragstellerin, sehe sich nicht mehr in der Lage, die Verkehrsleistungen eigenwirtschaftlich zu erbringen. Zweifel an einer derartigen Leistungsfähigkeit dürften schon deshalb nicht bestehen, weil die Antragstellerin für das erste Halbjahr aufgrund der Vereinbarungen des Verkehrsvertrages mit weit über dem Bedarf desselben Zeitraums liegenden finanziellen Mitteln ausgestattet worden sei. Da der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung Erfolg habe, müsse der Antragsgegner im öffentlichen Verkehrsinteresse auch dazu verpflichtet werden, der Antragstellerin eine einstweilige Erlaubnis zu erteilen.

7

Gegen diesen Beschluss richten sich die Beschwerden des Antragsgegners und der Beigeladenen.

8

Die Antragstellerin hat unter dem 19. Juni 2020 ein Testat zur Überkompensationskontrolle eingereicht. Dieses ermittelt bei einem eingerechneten Zuschuss des Antragsgegners von 2,4 Millionen Euro für das Jahr 2019 eine Unterkompensation von 511.806,15 Euro.

9

Mit Bescheiden vom 15. Juli 2020 hat der Antragsgegner die zugunsten der Antragstellerin erteilte Genehmigung unter Anordnung der sofortigen Vollziehung zurückgenommen, hilfsweise widerrufen, und der Beigeladenen die entsprechende Genehmigung erteilt. Mit Beschluss vom 11. August 2020 hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Rücknahme- bzw. Widerrufsbescheid wiederhergestellt.

10

Der Antragsgegner begründet seine Beschwerde wie folgt: Die bekanntgemachte Verkehrsleistung sei eindeutig beschrieben gewesen. Die Antragstellerin habe es unterlassen, den genauen Bedarf zu ermitteln. Das reine Behaupten der Eigenwirtschaftlichkeit sei für deren Bejahung nicht ausreichend. Die Verkehre der Antragstellerin seien zu keinem Zeitpunkt eigenwirtschaftlich gewesen. Dies belege der Prüfungsvermerk vom 19. Juni 2020, aufgrund dessen der Antragsgegner die zugunsten der Antragstellerin erteilte Genehmigung zurückgenommen habe. Ein weiterer Beleg sei der Umstand, dass die Antragstellerin für das erste Halbjahr 2020 aufgrund der Vereinbarungen des Verkehrsvertrages einen Zuschuss erhalten habe. Die Schlussfolgerung, dieser Betrag gewährleiste die Eigenwirtschaftlichkeit im zweiten Halbjahr, sei nicht zulässig, da zum einen die Verkehre nicht durch einen „Vorschuss“ eigenwirtschaftlich gestellt werden könnten und zum anderen auch die Interimsvergabe der strengen Überkompensationskontrolle unterliege, sodass diese finanziellen Mittel allein aus beihilferechtlichen Gründen zurückgefordert werden müssten.

11

Die Beigeladene begründet ihre Beschwerde wie folgt: Die Antragstellerin habe im Genehmigungsverfahren keinen prüffähigen Antrag eingereicht, da sie nicht zwischen Solo- und Gelenkbussen unterschieden habe. Sie habe den Status quo nicht ausreichend ermittelt. Die als Mehrleistungen ausgewiesenen Fahrplanänderungen nach der Verkehrsaufnahme hätten allein dazu gedient, diesen Status nachträglich zu erreichen. Durch Intervention der Antragstellerin habe zum 1. Januar 2020 ein Regimewechsel zum gemeinwirtschaftlichen Verkehr stattgefunden. Die Antragstellerin habe für die ersten sechs Monate 2,871 Millionen Euro beansprucht, was den für eigenwirtschaftliche Verkehrsleistungen zur Verfügung stehenden Rahmen um 1,846 Millionen Euro übersteige. Die Eigenwirtschaftlichkeit habe von Anfang an gefehlt, denn die Antragstellerin habe in der Mittelberechnung schon für das Jahr 2019 einen Mehrbedarf veranschlagt. Zudem habe sich die Sach- und Rechtslage geändert. Mit der E-Mail vom 28. November 2019 habe die Antragstellerin verdeutlicht, dass sie unter alleiniger Inanspruchnahme aus der Allgemeinen Vorschrift nicht auskömmlich sei. Der Antragsgegner habe die Rechtswidrigkeit der Genehmigung zugunsten der Antragstellerin erkannt, indem er sie zurückgenommen habe. Diese Genehmigung entfalte daher keine Vorwirkung. Aus der nunmehr zugunsten der Beigeladenen erteilten Genehmigung ergebe sich, dass sie diejenige sei, der eine einstweilige Erlaubnis erteilt werden müsse.

12

Nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist haben der Antragsgegner und die Beigeladene weitere Schriftsätze eingereicht, auf die Bezug genommen wird.

13

Die Antragstellerin trägt vor: Eine Änderung der Sach- und Rechtslage sei nicht eingetreten. In der Kalkulation der Kosten- und Einnahmenentwicklung bis zum Jahr 2028 werde zwar deutlich, dass der Abstand zwischen den entstehenden Kosten und der Entwicklung der Einnahmen mit zunehmender Dauer geringer werde. Dennoch bestehe die Prognose, dass die Einnahmen die entstehenden Kosten deckten. Die höhere Kostenbelastung im ersten Betriebsjahr sei u.a. darauf zurückzuführen, dass wegen der Erteilung einstweiliger Erlaubnisse keine Neufahrzeuge, sondern nur wartungsintensive Übergangsfahrzeuge hätten eingesetzt werden können. Die nur kurzfristigen Subunternehmerverträge seien bis zu 30 % teurer als ursprünglich kalkuliert. Die Fluktuation der Mitarbeiter sei bei kurzlebigen Verträgen ebenfalls hoch und erfordere einen höheren Verwaltungsaufwand einschließlich Schulungskosten. Die Antragstellerin habe berechnet, dass sie das Verkehrsangebot für das zweite Halbjahr 2020 einschließlich der Mehrleistungen eigenwirtschaftlich durchführen könne. Die Rücknahme der ihr erteilten Genehmigung sei rechtswidrig, da sie das beste Verkehrsangebot gemacht habe und in der Lage sei, dieses dauerhaft und eigenwirtschaftlich durchzuführen. Die Genehmigung werde nicht dadurch rechtswidrig, dass – wie kurze Zeit nach Betriebsaufnahme erkennbar geworden – die Kapazität in den Morgenspitzen durch Verstärkerfahrzeuge zu erhöhen sei. Aus dem Genehmigungsantrag sei ersichtlich gewesen, dass Solofahrzeuge eingesetzt würden und Verstärkerfahrzeuge in den Morgenspitzen nicht vorgesehen seien. Vor diesem Hintergrund sei es auch legitim gewesen, die Durchführung dieser Mehrleistungen von der Zahlung eines Kostenausgleichs abhängig zu machen. Die Mehrleistungen seien bei der Beurteilung der Frage der Auskömmlichkeit und der Eigenwirtschaftlichkeit nicht relevant, da sie vom Genehmigungsbescheid nicht erfasst würden. Die Beigeladene habe der Antragstellerin die notwendigen Informationen für die vormals durchgeführten Verkehre nicht zur Verfügung gestellt. Die Antragstellerin sei der Aufforderung in der Verwaltungsmitteilung zum Genehmigungswettbewerb nachgekommen und habe die Schülerzahlen sorgfältig geprüft. Dass der Antragsgegner im Anschluss an die Betriebsaufnahme eine zusätzliche Leistung für erforderlich erachtet habe, bedeute nicht, dass das von der Antragstellerin beantragte und genehmigte Verkehrsangebot nicht der ausreichenden Verkehrsbedienung entsprochen habe. Ein Genehmigungsinhaber sei nur verpflichtet, dass ihm genehmigungsrechtlich aufgegebene Verkehrsangebot durchzuführen und aufrechtzuerhalten. Es sei widersprüchlich, die der Antragstellerin erteilte Genehmigung mit der Begründung aufzuheben, sie sei nicht in der Lage, das erforderliche Verkehrsangebot einschließlich der streitigen Mehrleistungen eigenwirtschaftlich durchzuführen, andererseits jedoch der Beigeladenen eine Genehmigung zu erteilen, obwohl deren Antrag die Mehrleistungen nicht enthalte und auch im Übrigen hinter dem von der Antragstellerin angebotenen Leistungsumfang zurückbleibe.

II.

14

Die Beschwerden sind begründet. Die Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sind zulässig, haben aber in der Sache keinen Erfolg.

15

1. Die Anträge sind zulässig. Die Antragsschrift vom 5. Mai 2020 und die Antragserweiterung vom 8. Mai 2020 sind zwar nicht wirksam eingegangen, da sie entgegen § 55a Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV nicht in durchsuchbarer Form übermittelt worden sind. Dieser Mangel ist jedoch gemäß § 55a Abs. 6 Satz 2 VwGO dadurch geheilt worden, dass die Antragstellerin die Schriftsätze nach dem entsprechenden gerichtlichen Hinweis unverzüglich – mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2020 – formgerecht nachgereicht und die Übereinstimmung mit den zuerst eingereichten Dokumenten durch eine eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemacht hat.

16

2. Die Anträge sind unbegründet.

17

a) Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die der Beigeladenden erteilte einstweilige Erlaubnis ist nicht gemäß § 80a Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO wiederzustellen. Das öffentliche Interesse und das Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Nutzung der Erlaubnis überwiegen das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin. Die Erlaubnis ist offensichtlich rechtmäßig.

18

Bei einer Drittanfechtung im Personenbeförderungsrecht ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der getroffenen Auswahl der Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung maßgeblich (BVerwG, Urteil vom 06. April 2000 – 3 C 6.99 –, juris Rn. 28 ff.; Urteil vom 12. Dezember 2013 – 3 C 31/12 –, juris Rn. 15). Dies gilt nicht nur für die endgültige Genehmigung, sondern auch für die einstweilige Erlaubnis gemäß § 20 PBefG. Denn eine rechtmäßig erteilte einstweilige Erlaubnis kann nicht deshalb wieder entzogen werden, weil während des anschließenden Rechtsstreits ein anderer Bewerber die Erlaubnisvoraussetzungen erfüllt (vgl. zur Genehmigung: BVerwG, Urteil vom 06. April 2000, a.a.O. Rn. 31). Allerdings kann die Drittanfechtung keinen Erfolg haben, wenn die einstweilige Erlaubnis zwar ursprünglich rechtswidrig war, dieser Fehler jedoch durch eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage behoben worden ist. Daher sind auch nach der Behördenentscheidung eingetretene Umstände zu berücksichtigen, soweit sie sich zugunsten des Erlaubnisinhabers auswirken (vgl. zum Baurecht: BVerwG, Beschluss vom 8. November 2010 – 4 B 43.10 –, juris Rn. 9; zum Immissionsschutzrecht: OVG Münster, Beschluss vom 19. Oktober 2017 – 8 B 1113/17 –, juris Rn. 7).

19

Konkurrieren mehrere Bewerber um eine einstweilige Erlaubnis gemäß § 20 PBefG, ist es in der Regel sachgerecht, denjenigen Unternehmer zu bevorzugen, dem die endgültige, wenngleich noch nicht bestandskräftige Linienverkehrsgenehmigung erteilt worden ist. Etwas Anderes kann gelten, wenn eine zwischenzeitlich eingetretene Änderung der Sach- und Rechtslage Anlass für eine erneute Prüfung der Behörde gibt oder wenn die Erteilung der Genehmigung offensichtlich auf einer falschen Rechtsanwendung beruht (BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 1968 – VII C 90.66 –, juris Rn. 25; OVG B-Stadt, Beschluss vom 21. Januar 2019 – 7 LA 91/18 –, juris Rn. 9; OVG Koblenz, Beschluss vom 26. September 2017 – 7 B 11392/17 –, juris Rn. 16 f.; VGH Mannheim, Beschluss vom 24. Juli 2017 – 9 S 1431/17 –, juris Rn. 17; OVG Münster, Beschluss vom 12. September 2008 – 13 B 929/08 –, juris Rn. 16; OVG Magdeburg, Beschluss vom 23. Oktober 2007 – 1 M 148/07 –, juris Rn. 6; VGH Mannheim, Beschluss vom 2. Januar 2007 – 3 S 2675/06 –, juris Rn. 8). Die Genehmigungsbehörde ist nicht daran gehindert, mit der Erteilung einer einstweiligen Erlaubnis einen Unternehmerwechsel herbeizuführen, wenn sie dem damit verbundenen Verwaltungsaufwand im Rahmen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums nur eine geringe Bedeutung beimisst (OVG B-Stadt, a.a.O., VGH Mannheim, Beschlüsse vom 24. Juli 2017 und vom 2. Januar 2007, a.a.O.).

20

Aufgrund der Bescheide vom 15. Juli 2020 ergibt sich folgende Situation: Die Beigeladene besitzt die Genehmigung für den Linienverkehr im Teilnetz West. Im Gegenzug hat der Antragsgegner die ursprünglich zugunsten der Antragstellerin erteilte Genehmigung zurückgenommen bzw. widerrufen. Auch wenn diese Entscheidungen nicht bestandskräftig und nicht vollziehbar sind, sind sie zugunsten der Beigeladenen zu berücksichtigen. Sie tragen aus heutiger Sicht die Erteilung der einstweiligen Erlaubnis zugunsten der Beigeladenen. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass die Bescheide erst nach Erlass der angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ergangen sind. Die Beschwerde kann auch auf nachträglich eingetretene Gründe gestützt werden, wenn diese – wie hier – innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist dargelegt werden (Rudisile, in: Schoch u.a., VwGO, Stand 2020, § 146 Rn. 13c m.w.N.).

21

Die Bescheide vom 15. Juli 2020 beruhen nicht auf einer offensichtlich fehlerhaften Rechtsanwendung. Ausgangspunkt ist die auf § 116 Abs. 1 Satz 1 LVwG gestützte Rücknahme der zugunsten der Antragstellerin erteilten Genehmigung bzw. deren Widerruf gemäß § 117 Abs. 2 Nr. 3 LVwG. Die Anwendung der letztgenannten Vorschrift ist nicht durch § 25 PBefG ausgeschlossen (vgl. VG Halle, Urteil vom 25. Oktober 2010 – 7 A 1/10 –, juris Rn. 297 m.w.N.). Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass die Voraussetzungen für die Rücknahme bzw. den Widerruf insoweit vorliegen, als entweder bereits bei der Erteilung der Genehmigung ein Versagungsgrund nach § 13 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PBefG vorlag oder dieser Versagungsgrund später entstanden ist. Öffentliche Verkehrsinteressen im Sinne von § 13 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PBefG sind u.a. dann beeinträchtigt, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Bewerber um eine eigenwirtschaftliche Linienverkehrsgenehmigung die betreffende Linie wegen fehlender Kostendeckung nicht dauerhaft – also nicht während der gesamten Laufzeit der Genehmigung – in dem der Genehmigung zugrundeliegenden Umfang betreiben kann, obwohl ein entsprechendes Verkehrsbedürfnis besteht (BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2013 – 3 C 26.12 –, juris Rn. 22 ff.).

22

Ein Indiz für die fehlende Dauerhaftigkeit des Verkehrsangebots der Antragstellerin ist der zur Überkompensationskontrolle ausgestellte Prüfungsvermerk vom 19. Juni 2020, der nach den Vorgaben des Anhangs der Verordnung (EG) 1370/2007 für das Jahr 2019 eine Unterkompensation von 511.806,15 Euro ausweist. In dieser Summe ist ein kalkulierter, als angemessen angesehener Gewinn von 294.003,24 Euro enthalten. Wird dieser Betrag abgezogen, so verbleibt ein Verlust von 217.802,91 Euro. Daraus ist zu ersehen, dass die Antragstellerin nicht nur keinen Gewinn erwirtschaftet hat, sondern auch nicht in der Lage war, ihren Aufwand zu decken.

23

Hinzukommt, dass die Rechnung fehlerhaft sein dürfte, soweit sie einen Zuschuss gemäß der Satzung (Allgemeinen Vorschrift) des Antragsgegners über die Festsetzung von Höchsttarifen im straßengebundenen Öffentlichen Personennahverkehr auf Basis von Liniengenehmigungen im Sinne der §§ 42, 43 Nr. 2 PBefG für das Jahr 2019 in Höhe von 2,4 Millionen Euro unterstellt. Laut Nr. 3 der Verwaltungsmitteilung zum Genehmigungswettbewerb beträgt der Zuschuss lediglich 2,05 Millionen Euro. Die Antragstellerin addiert zum Ausgleich einer sog. „Mehrleistung“ im Jahr 2019 (vgl. Brückenrechnung von der Überkompensationskontrolle 2019 zu den kalkulierten Jahresergebnissen 2020 – 2028, Anlage Ast 9 zum Schriftsatz der Antragstellerin vom 21. August 2020) einen Teilbetrag von 350.000 Euro aus der im Jahr 2020 zufließenden Summe (vgl. die Aufgliederung im Schriftsatz der Antragstellerin vom 11. Juni 2020, S. 14). Dies ist jedoch nicht zulässig. Der Ausgleichsanspruch aus dem Interimsvertrag bezieht sich ausschließlich auf die Fahrplankilometer im Jahr 2020 (Nr. 7.1. des Vertrages, vgl. auch Nr. 2.2.2 und Nr. 1.3.1 Abs. 4 des Vertrages). Er kann daher nicht für einen Ausgleich der Aufwendungen im Jahr 2019 verwendet werden, sondern ist in voller Höhe bei der Überkompensationsrechnung für die erste Jahreshälfte 2020 zu berücksichtigen (vgl. Nr. 7.9 des Interimsvertrages).

24

Der im Prüfungsvermerk ermittelten Unterkompensation von 511.806,15 Euro im Jahr 2019 dürften mithin 350.000 Euro hinzuzurechnen sein. Daraus ergibt sich eine Unterkompensation von 861.806,15 Euro.

25

Ein weiteres Indiz ist der Interimsvertrag. Für die erste Jahreshälfte 2020 hat sich die Antragstellerin eine Ausgleichszahlung von 2,871 Millionen Euro versprechen lassen. Dies übersteigt den halbjährlichen Zuschuss aus der Allgemeinen Vorschrift um 1,846 Millionen Euro. Ein Vergleich mit der durchschnittlichen halbjährlichen Unterkompensation im Vorjahr (430.903,08 Euro) lässt darauf schließen, dass die Antragstellerin eine erhebliche Verschlechterung der Ertragssituation befürchtete. Mit der Einschätzung, die Antragstellerin sei – möglicherweise nach anfänglichen Schwierigkeiten im Jahr 2019 – nunmehr zu einer auskömmlichen Leistungserbringung in der Lage gewesen, ist das kaum zu vereinbaren.

26

Die Antragstellerin beruft sich auf Sondereffekte (Kosten für Mehrleistungen, Zusatzkosten durch fehlende Zukunftssicherheit bei Erteilung einstweiliger Erlaubnisse). Ob diese Argumente zutreffen, lässt sich ohne nähere Prüfung nicht feststellen. Sie sind deshalb auch nicht dazu geeignet, einen Fall offensichtlich unrichtiger Rechtsanwendung zu belegen. Gleiches gilt für die vorgelegten Planungen und Prognosen zu zukünftigen (Halb-)Jahresergebnissen.

27

Es erscheint im Übrigen zweifelhaft, ob die Deklarierung sogenannter „Mehrleistungen“ die Eigenwirtschaftlichkeit belegen kann, denn diese ist dadurch gekennzeichnet, dass außer dem Zuschuss auf Grund der Allgemeinen Vorschrift keine weiteren Zuwendungen aus öffentlichen Mitteln gezahlt werden (§ 8 Abs. 4 Satz 2 PBefG). Da die Allgemeine Vorschrift gemäß Art. 2 Buchst. l der Verordnung (EG) 1370/2007 diskriminierungsfrei sein muss, darf sie nach Ablauf der Frist für die Einreichung der Genehmigungsanträge nicht mehr mit dem Ziel geändert werden, einem einzelnen Unternehmen zur Eigenwirtschaftlichkeit zu verhelfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2019 – 10 C 3.19 –, juris Rn. 18). Daher können Kostennachteile durch nachträglich als solche bezeichnete „Mehrleistungen“ auch auf diesem Weg nicht ausgeglichen werden. Die Prognose der erforderlichen, über den fahrplanmäßigen Verkehr hinausgehenden Verstärkerfahrten für den Schülerverkehr lag nach alledem in der Risikosphäre der Antragstellerin. Das Argument, diese Fahrten seien in den Zusicherungen nicht enthalten gewesen und nicht zum Gegenstand des Bewilligungsbescheides gemacht worden, erscheint auf den ersten Blick wenig überzeugend. Der Bescheid vom 6. August 2018, mit dem der Antragstellerin die einstweilige Erlaubnis für die ersten Jahreshälfte 2019 erteilt worden ist, enthält in der Nebenbestimmung 1 die Festlegung auf die Mindeststandards gemäß Anlage A der Verwaltungsmitteilung. In dieser Anlage wird erläutert, dass vor dem Hintergrund der heutigen „tatsächlich vorhandenen“ Nachfrage Verstärkerfahrten durchgeführt würden, die nicht im Fahrplan ersichtlich seien. Es werde darum gebeten, die in den Anlagen D und E dargestellten Schülerzahlen sorgfältig zu prüfen und der eigenen Kapazitätsplanung zu Grunde zu legen (Nr. 2.1 Absatz 4 der Anlage). Die Antragstellerin hat in ihrem Angebot nicht ausdrücklich erklärt, den Mindeststandard unterschreiten zu wollen. Was die Fahrten im Schülerverkehr angeht, enthalten die Zusicherungen im Schreiben vom 3. August 2018 zwar einen Vorbehalt in Bezug auf sich (gegebenenfalls) ändernde Rahmenbedingungen. Dies betrifft aber nicht den Status quo.

28

Der Hinweis auf die besondere Kostenstruktur bei nur befristet erteilten einstweiligen Erlaubnissen trifft zwar im Ansatz zu. Jedoch ist zu bedenken, dass der Antragsgegner den Leistungsumfang bei der für das erste Halbjahr 2019 erteilten einstweiligen Erlaubnis abgesenkt hat. Im Entwurf vom 10. Juli 2018 (Nebenbestimmung 1) sollte die Antragstellerin noch dazu verpflichtet werden, die im Genehmigungsverfahren gemachten Zusicherungen mit Ausnahme des abweichenden Fahrzeugeinsatzes auch im Rahmen der einstweiligen Erlaubnis einzuhalten. Nach Intervention der Antragstellerin mit Schreiben vom 24. Juli 2018 hat der Antragsgegner die Verpflichtung auf die Mindeststandards reduziert (s.o.). Lediglich die beantragten Fahrplanleistungen waren umzusetzen. Hierzu hatte die Antragstellerin mit dem bereits genannten Schreiben vom 3. August 2018 eine gesonderte, auf die einstweilige Erlaubnis zugeschnittene Zusicherung eingereicht. Angesichts dieser Vergünstigung ist es zumindest erklärungsbedürftig, warum die Antragstellerin das Ziel einer eigenwirtschaftlichen Leistungserbringung trotzdem in hohem Maße verfehlt hat.

29

Auch die Erteilung der Genehmigung an die Beigeladene gemäß § 13 PBefG beruht nicht auf einer offensichtlich falschen Rechtswendung. Ob das Leistungsangebot der Antragstellerin – wie diese behauptet – über das der Beigeladenen hinausgeht bzw. ob sämtliche von der Beigeladenen benannten Fahrplankilometer auf einem fristgemäßen und zulässigerweise beantragten Fahrplanumfang beruhen, ist im vorliegenden Zusammenhang nicht entscheidend. Zwar ist gemäß § 13 Abs. 2b Satz 1 PBefG die Auswahl des Unternehmers danach vorzunehmen, wer die beste Verkehrsbedienung anbietet. Dabei sind jedoch von vornherein nur solche Unternehmen zu berücksichtigten, bei denen kein Versagungsgrund gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PBefG vorliegt. Dieser steht jedoch bei der Beigeladenen in Rede (s.o.).

30

Die Antragstellerin stellt die Möglichkeit in den Raum, dass die Ausgleichszahlungen für die Beigeladene günstiger gestaltet werden sollen, da die aktuelle Fassung der Allgemeinen Vorschrift keine Begrenzung auf einen Betrag von 2,05 Millionen Euro vorsehe. Hierzu fehlt es jedoch an substantiiertem Vortrag. Insofern besteht kein Anlass zu einer Auseinandersetzung mit den rechtlichen Konsequenzen, die sich aus einer nachträglichen Änderung der Ausgleichszahlung ergeben könnten.

31

b) Eine einstweilige Anordnung gemäß § 123 VwGO, mit der der Antragsgegner verpflichtet wird, der Antragstellerin die einstweilige Erlaubnis für den Linienverkehr im Teilnetz West für die Dauer vom 1. Juli 2020 bis 31. Dezember 2020 zu erteilen, kann nicht ergehen. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO nicht mit der für eine Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht. Da bereits die Beigeladene eine einstweilige Erlaubnis besitzt, scheitert der Anspruch an dem Doppelbedienungsverbot gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a, b und c PBefG. Als weiterer Versagungsgrund gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PBefG kommt die fehlende Dauerhaftigkeit des Verkehrsangebots in Betracht (s.o.).

32

In Ausübung des in § 80 Abs. 5 Satz 5 VwGO bzw. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO eingeräumten Ermessens hat der Senat entschieden, die Änderung der Hauptsacheentscheidung des Verwaltungsgerichts erst ab dem 19. Dezember 2020 für vollziehbar zu erklären, um einen geordneten Betreiberwechsel zu ermöglichen. Die Beigeladene hat auf Nachfrage erklärt, dass sie für die Verkehrsaufnahme im Teilnetz West eine technologisch, logistisch und planungsspezifisch bedingte Vorlaufzeit von etwa acht Wochen benötigt.

33

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Da die Beigeladene auch in der ersten Instanz einen Sachantrag gestellt und sich damit im Hinblick auf § 154 Abs. 3 VwGO einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es billigem Ermessen, ihre außergerichtlichen Kosten der unterliegenden Antragstellerin aufzuerlegen.

34

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 1 GKG.

35

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen