Beschluss vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (16. Senat) - 16 MB 1/21

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts – 22. Kammer – vom 7. September 2021 geändert:

Die Anordnung der Bundespolizeidirektion Bad Bramstedt vom 7. Juni 2021 über die vorläufige Dienstenthebung des Antragstellers und die Einbehaltung von 10 Prozent seiner monatlichen Dienstbezüge wird ausgesetzt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

1

Die nach § 63 Abs. 1 Satz 1, § 67 Abs. 1 und Abs. 3 BDG, § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde, mit der sich der Antragsteller gegen den seinen Antrag auf Aussetzung der vorläufigen Dienstenthebung ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 7. September 2021 wendet, ist begründet. Die zur ihrer Begründung dargelegten Gründe, die gemäß § 67 Abs. 3 BDG, § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein Gegenstand der Prüfung durch den Senat sind, führen zur Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts und Aussetzung der vorläufigen Dienstenthebung und Einbehaltung von Dienstbezügen.

2

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des Antragsstellers nach § 63 Abs. 2 BDG zu Unrecht abgelehnt, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Anordnung vom 7. Juni 2021 bestehen.

3

Gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 BDG kann die für die Erhebung der Disziplinarklage zuständige Behörde einen Beamten gleichzeitig mit oder nach der Einleitung des Disziplinarverfahrens vorläufig des Dienstes entheben, wenn im Disziplinarverfahren voraussichtlich auf Entfernung aus dem Beamtenverhältnis erkannt werden wird. Unter denselben Voraussetzungen kann die Behörde nach § 38 Abs. 2 Satz 1 BDG auch anordnen, dass bis zu 50 Prozent seiner monatlichen Dienstbezüge einbehalten werden.

4

Das Merkmal „voraussichtlich" verlangt nicht, dass die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgesprochen werden wird. Es ist auch nicht erforderlich, dass das dem Beamten vorgeworfene Dienstvergehen in vollem Umfang nachgewiesen und aufgeklärt ist. Notwendig ist, dass das Gericht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die disziplinarrechtliche Höchstmaßnahme erkennen wird (BVerwG, Beschluss vom 28. November 2019 – 2 VR 3.19 –, Rn. 21, juris; vgl. auch stRspr. des Senats, Beschluss vom 9. Februar 2021 – 14 MB 3/20 –, Rn. 2, juris, m.w.N.).

5

Ausgehend von diesem Maßstab hat das Verwaltungsgericht in dem mit der Beschwerde angegriffenen Beschluss vom 7. September 2021 angenommen, dass die Antragsgegnerin die vorläufige Dienstenthebung des Antragstellers und die Einbehaltung eines Teils seiner Bezüge zu Recht verfügt habe. Nach den strafrechtlichen Ermittlungen sei davon auszugehen, dass der Antragsteller auf seinem PC (im geringen Umfang) Dateien mit kinder- und jugendpornografischen Inhalten besessen habe. Dabei sei unerheblich, dass diese überwiegend gelöscht gewesen seien. Neben der sich hieraus ergebenden Verwirklichung des § 184b Abs. 3 StGB a.F. sei anzunehmen, dass sich der Antragsteller auch nach § 176 Abs. 5 StGB a.F. strafbar gemacht habe, indem er einer anderen Person in einem Chat im Internet einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling zum Sexualverkehr angeboten habe. Der sich hieraus ergebende Verstoß gegen die Pflicht zum achtungswürdigen Verhalten nach § 61 Abs. 1 Satz 3 BBG begründe ausgehend vom Strafrahmen der betroffenen Strafnormen und der besonderen Stellung von Polizeibeamten den Verdacht eines schwerwiegenden Dienstvergehens, das aufgrund des damit einhergehenden Vertrauensverlustes mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Entfernung des Antragstellers aus dem Dienst führen werde. Dass der disziplinarrechtlich relevante Sachverhalt in der Anordnung vom 7. Juni 2021 nur vage dargestellt werde, ändere hieran nichts, da dieser Begründungsmangel mit der Antragserwiderung der Antragsgegnerin im gerichtlichen Verfahren beseitigt worden sei.

6

Diese Würdigung hält der rechtlichen Überprüfung im Beschwerdeverfahren nicht stand.

7

Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts bestehen an der Rechtmäßigkeit der Anordnung vom 7. Juni 2021 „ernstliche Zweifel“ im Sinne von § 63 Abs. 2 BDG. Solche sind anzunehmen, wenn bei der summarischen Prüfung der angegriffenen Anordnung im Aussetzungsverfahren neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheiten in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (BVerwG, Beschluss vom 28. November 2019 – 2 VR 3.19 –, Rn. 22, juris, m.w.N.). So liegt der Fall hier. Die Rechtmäßigkeit der vorläufigen Dienstenthebung und Einbehaltung von Bezügen begegnet schon deshalb „ernstlichen Zweifeln“, weil sich die Antragsgegnerin zu ihrer Begründung auf Handlungen stützt, die bislang gar nicht Gegenstand des Disziplinarverfahrens geworden sind (dazu unter 1.). Der Antragsteller rügt darüber hinaus zu Recht, dass in dem laufenden Disziplinarverfahren auch hinsichtlich der in der Einleitungsverfügung enthaltenen Vorwürfe voraussichtlich nicht auf die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis zu erkennen sein wird (dazu unter 2.).

8

Die von der Antragstellerin getroffene Prognoseentscheidung nach § 38 Abs. 1 Satz 1 BDG erweist sich bereits deshalb als rechtswidrig, weil ihre Ermessensausübung auf fehlerhaften Annahmen zum Gegenstand des von ihr eingeleiteten Disziplinarverfahrens beruht. Entscheidungsgrundlage für die Anordnung der vorläufigen Dienstenthebung ist nach § 38 Abs. 1 Satz 1 BDG der dem Beamten in dem gleichzeitig oder zuvor eingeleiteten Disziplinarverfahren vorgeworfene Sachverhalt (vgl. auch Baunack, in: Köhler/Baunack, BDG, 7. Aufl. 2020, § 38 Rn. 6). Dieser beschränkt sich hier – entgegen der in der Anordnung vom 7. Juni 2021 zum Ausdruck kommenden Auffassung der Antragsgegnerin – ausschließlich auf den außerdienstlichen Besitz von Dateien mit kinderpornografischen Inhalten.

9

Eine Anordnung nach § 38 Abs. 1 Satz 1 BDG setzt die (wirksame) Einleitung eines Disziplinarverfahrens gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 BDG voraus. Nach § 17 Abs. 1 Satz 3 BDG ist die Einleitung aktenkundig zu machen. Aus den Akten muss im Hinblick auf die hiermit verfolgte Rechtsklarheit und spätere Nachvollziehbarkeit der Disziplinarvorgänge hervorgehen, wann der Dienstvorgesetzte seine Entscheidung getroffen hat und auf welche Sachverhalte sich die Anschuldigung (nach Zeit, Ort und Geschehen) bezieht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Oktober 2016 – 2 B 66.16 –, Rn. 8, juris). Die Aktenkundigmachung kann in Form eines Aktenvermerks, aber auch gleichzeitig mit der Unterrichtung des Beamten gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 BDG erfolgen (vgl. Schmiemann, in: Schütz/Schmiemann, Disziplinarrecht des Bundes, 14. Lfg. Februar 2021, § 17 BDG Rn. 16 f.). Im vorliegenden Fall enthält der Einleitungsvermerk vom 14. Januar 2021 (Bl. 198 der Beiakte A) selbst keine weitergehenden Angaben zu dem erhobenen Vorwurf, weshalb sich der Gegenstand des Disziplinarverfahrens hier nach der Einleitungsverfügung vom 19. Januar 2021 (Bl. 201 f. der Beiakte A) bestimmt. Obwohl zu jenem Zeitpunkt bereits Ermittlungsergebnisse der Bezirkskriminalinspektion … vorlagen (vgl. Auswertebericht vom 9. Dezember 2020, Bl. 142 f. der Beiakte A, und Auswertebericht vom 10. Dezember 2020, Bl. 156 f. der Beiakte A), hielt die Antragsgegnerin dem Antragsteller darin lediglich pauschal vor, dass gegen ihn „ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Besitzes von Dateien mit kinderpornographischem Inhalt“ geführt werde und im Rahmen einer Durchsuchung seiner Privatwohnung „am 26. November 2021“ (gemeint ist offensichtlich der 26. November 2020) Datenträger beschlagnahmt worden seien. Der Inhalt des Chatverlaufs auf der Kleinanzeigenplattform „markt.de“ (Bl. 6 ff. der Beiakte A), der Anlass für die vom Amtsgericht … angeordnete Durchsuchung war, ist nach diesem eindeutigen Wortlaut der Verfügung ebensowenig Gegenstand des eingeleiteten Disziplinarverfahrens wie der Besitz jugendpornographischer Dateien.

10

Nach Aktenlage bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsgegnerin das Disziplinarverfahren nachträglich auf diese Sachverhaltskomplexe gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 BDG ausgedehnt hätte. Nach Satz 2 dieser Vorschrift ist auch die Ausdehnung eines Disziplinarverfahrens aktenkundig zu machen. Insoweit gelten keine anderen Anforderungen als für den Einleitungsvermerk gemäß § 17 Abs. 1 Satz 3 BDG (BVerwG, Beschluss vom 27. Oktober 2016 – 2 B 66.16 –, Rn. 8, juris). Die von der Antragsgegnerin vorgelegten Akten enthalten keinen entsprechenden Vermerk des Dienstvorgesetzten zur Ausdehnung des Disziplinarverfahrens. Der Antragsteller wurde auch nicht gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 BDG über eine etwaige Ausdehnung des Verfahrens auf weitere Handlungen unterrichtet.

11

Indem sich die Antragsgegnerin zur Begründung ihrer Anordnung nach § 38 Abs. 1 Satz 1 BDG vom 7. Juni 2021 gleichwohl undifferenziert zunächst auf alle sich aus der Strafanzeige vom 8. Oktober 2020 (Bl. 1 der Beiakte A) ergebenden strafrechtlichen Vorwürfe und damit – wie sich aus dem ergänzenden Vorbringen in ihrer Antragserwiderung im erstinstanzlichen Verfahren vom 12. Juli 2021 ergibt – auch auf den Chatverlauf bezogen hat, beruht ihre Ermessensausübung bereits insoweit auf einer unzutreffenden Entscheidungsgrundlage.

12

Auf den ausweislich der Einleitungsverfügung bislang ebenfalls nicht zum Gegenstand des behördlichen Disziplinarverfahrens gemachten Vorwurf des Besitzes jugendpornographischer Dateien (§ 184c Abs. 3 StGB) hat die Antragsgegnerin zur Begründung der Anordnung nach ihrem ergänzenden Vorbringen in ihrer Antragserwiderung im erstinstanzlichen Verfahren vom 12. Juli 2021 nicht abgestellt, denn die insoweit einschlägige Norm des § 184c Abs. 3 StGB und der abweichende Strafrahmen werden dort nicht genannt (s. Seite 3 oben ebendort).

13

2. Nach der im Verfahren nach § 63 Abs. 2 BDG gebotenen summarischen Prüfung ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch nicht überwiegend wahrscheinlich, dass gegen den Antragsteller die disziplinare Höchstmaßnahme wegen der Vorwürfe, die Gegenstand des Disziplinarverfahrens geworden sind, verhängt werden wird.

14

Es ist in tatsächlicher Hinsicht unklar, was dem Antragsteller hinsichtlich des Besitzes kinderpornographischer Dateien konkret überhaupt vorgeworfen wird. Nach der Sachverhaltsumschreibung in der Einleitungsverfügung vom 19. Januar 2021 („strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Besitzes von Dateien mit kinderpornographischem Inhalt“) und dem Abstellen auf die Beschlagnahme von Datenträgern im Zuge der Wohnungsdurchsuchung am 26. November 2020 ist nach dem objektiven Erklärungswert und Erklärungsinhalt davon auszugehen, dass sich der Vorwurf auf den Besitz der inkriminierten Dateien im Zeitpunkt der Durchsuchung bezieht. Insoweit ist jedoch festzustellen, dass sich von den laut „Uranus Kurz-Report“ vom 9. Dezember 2020 (Bl. 140 f. der Beiakte A) auf dem PC des Antragstellers vorgefundenen fünf Dateien (fünf Bilder) der Kategorie „Kinderpornografie“ und 15 Dateien (ein Video und 14 Bilder) der Kategorie „Jugendpornografie“ nach dem Auswertebericht der Bezirkskriminalinspektion … vom 9. Dezember 2020 (Bl. 142 der Beiakte A) „fast alle“ „im gelöschten Bereich“ befanden. Der Einstellungsvermerk der Staatsanwaltschaft vom 26. März 2021 (Bl. 172 der Beiakte A) enthält für den Zeitpunkt der Durchsuchung ebenfalls keine Konkretisierung. Dort heißt es lediglich, dass nur eine „geringe Anzahl kinder- und jugendpornografischer Dateien“ habe festgestellt werden können, wobei sich „die überwiegende Anzahl der Dateien im gelöschten Bereich“ befunden habe.

15

Nach diesen Feststellungen bleibt bezogen auf den in der Einleitungsverfügung erhobenen Vorwurf offen, ob der Antragsteller im Zeitpunkt der Durchsuchung überhaupt noch im Besitz von Dateien mit kinderpornografischen Inhalten war. Der Antragsteller verweist insoweit zu Recht darauf, dass der „Besitz“ im Sinne des §184b Abs. 3 StGB ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis und einen Besitzwillen voraussetzt. Bestehen gelöschte Dateien an einem Speicherort fort, die dem durchschnittlichen Computerbesitzer nicht mehr ohne Weiteres zugänglich sind, so begründet dies mangels Aufrechterhaltung eines tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses keinen Besitz mehr; dies gilt selbst dann, wenn die betreffende Person über die Kenntnis und Fähigkeit verfügt, sie wiederherzustellen. Zudem kann im Fall der Löschung von Dateien der diesbezügliche Besitzwille fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. September 2019 – 2 WD 26.18 –, Rn. 24, juris, m.w.N.). Da die Antragsgegnerin im vorliegenden Disziplinarverfahren keine eigenen Ermittlungen dazu durchgeführt hat, welche der inkriminierten Dateien im Zeitpunkt der Durchsuchung gelöscht waren, muss angesichts der im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nur undifferenziert getroffenen Feststellungen zur Löschung „fast aller“ bzw. der „überwiegenden Anzahl“ der Dateien mit kinder- und jugendpornografischen Inhalten nach dem Grundsatz des „in dubio pro reo“ davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller im Zeitpunkt der Durchsuchung keine Datei (mehr) mit kinderpornografischen Inhalten besessen hat.

16

Der Antragsteller rügt zu Recht, dass dies – entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts – auch nicht etwa deshalb unerheblich ist, weil der Antragsteller sie (einmal) heruntergeladen und damit im Besitz gehabt hätte (S. 3 des Beschlusses), weil ein etwaiger früherer Besitz der inkriminierten Dateien nicht Gegenstand des eingeleiteten Disziplinarverfahrens ist. Weder hat die Antragsgegnerin im Disziplinarverfahren selbst irgendwelche Feststellungen zu einem etwaigen früheren Besitz solcher Dateien (Anzahl, Art und Inhalt der Darstellungen und insbesondere Besitzdauer) getroffen noch den Antragsteller gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 BDG über einen diesbezüglichen Vorwurf unterrichtet.

17

Die Kostenentscheidung folgt aus § 77 Abs. 1 BDG, § 154 Abs. 1 VwGO.

18

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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