Beschluss vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (4. Senat) - 4 MB 5/22
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - 1. Kammer - vom 24. Januar 2022 geändert und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 12. Oktober 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2022 wiederhergestellt, soweit er sich gegen die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis richtet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
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Die Beteiligten streiten im Beschwerdeverfahren um den Sofortvollzug der Rücknahme einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG, die der Antragsteller nach erfolgter Flüchtlingsanerkennung sowie daraufhin erteilter (und verlängerter) Aufenthaltserlaubnis im Jahre 2010 erhalten hatte.
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Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Ordnungsverfügung vom 12. Oktober 2021 des Antragsgegners durch Beschluss vom 24. Januar 2022 abgelehnt, davon ausgehend, dass sowohl die auf § 116 Abs. 1 LVwG gestützte und mit Wirkung für die Vergangenheit versehene Rücknahme der Niederlassungserlaubnis als auch die Anordnung, den verkörperten Aufenthaltstitel binnen sieben Tagen zurückzugeben, offensichtlich rechtmäßig seien und auch die hierauf bezogene Anordnung des Sofortvollzugs nicht zu beanstanden sei. Zugleich hat es den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die im gleichen Bescheid verfügte Abschiebungsandrohung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbot abgelehnt.
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Mit der dagegen am 7. Februar 2022 eingelegten und am 21. Februar 2022 begründeten Beschwerde beantragt der Antragsteller,
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den Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis vom 12. Oktober 2021 wiederherzustellen.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 14. März 2022, zugestellt am 22. März 2022, hat der Antragsgegner den Widerspruch als unbegründet abgelehnt. Dagegen hat der Antragsteller am 22. April 2022 Anfechtungsklage am Verwaltungsgericht erhoben (1 A 34/22).
II.
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Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
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I. Der Aussetzungsantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist weiterhin zulässig. Er hat sich durch Ergehen des Widerspruchsbescheides nicht erledigt. Der Antrag zielt darauf ab, die Rechtslage in Kraft zu setzen, die nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO bestünde, wenn die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs nicht ausnahmsweise gemäß § 80 Abs. 2 VwGO – hier gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO – entfiele. Durchgehender „Träger“ des Suspensiveffektes ist deshalb – wie nach der Regel des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO – auch bei einem gerichtlichen Aussetzungsbeschluss der erste statthafte Rechtsbehelf – Widerspruch oder Anfechtungsklage – (OVG des Saarlandes, Beschl. v. 25.06.2012 - 1 B 128/12 - juris Rn. 11). Die durchgehende oder einheitliche aufschiebende Wirkung des Widerspruchs als erstem Rechtsbehelf, der aufschiebende Wirkung entfaltet, dient der Vermeidung von Rechtsschutzlücken und reicht bis zur Unanfechtbarkeit, solange nichts Abweichendes bestimmt wird (VGH Kassel, Beschl. v. 29.12.2014 - 7 B 1570/14 -, juris Rn. 12; BVerwG, Urt. v. 27.10.1987 - 1 C 19.85 -, BVerwGE 78, 192 ff., juris Rn. 43; Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Aufl. 2021, § 80 VwGO, Rn. 21). Eine Unanfechtbarkeit ist nach rechtzeitiger Klageerhebung nicht eingetreten.
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Allerdings kann der Antrag gemäß § 88 VwGO dahingehend ausgelegt werden, dass der Widerspruchsbescheid vom 14. März 2022, der der Ausgangsverfügung vom 12. Oktober 2021 seine abschließende Gestalt gegeben hat (§ 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), nunmehr mit einbezogen wird. Die Einbeziehung dient der Anpassung an den neuen Verfahrensstand, ohne dass sich der Klagegrund geändert hätte (vgl. § 173 VwGO i.V.m. § 264 ZPO). Die Frage nach einer zulässigen Antragsänderung im Beschwerdeverfahren entsprechend § 91 Abs. 1 VwGO stellt sich daher nicht (vgl. Beschl. des Senats v. 11.10.2018 - 4 MB 92/18 -, n.v.).
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II. Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg. Gegenstand der Prüfung durch den Senat sind die zur Begründung der Beschwerde dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Sie geben Anlass, den verwaltungsgerichtlichen Beschluss wie tenoriert zu ändern.
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1. Zutreffend geht das Verwaltungsgericht allerdings davon aus, dass die Begründung des angeordneten Sofortvollzugs den formalen Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO entspricht. Der Rechtsprechung des Senats folgend verlangt es, dass die Begründung einen bestimmten Mindestinhalt und eine auf den konkreten Einzelfall abstellende Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses aufweisen muss des Inhalts, dass ausnahmsweise die sofortige Vollziehbarkeit notwendig ist und dass das Interesse des Betroffenen, zunächst nicht von den Wirkungen des angegriffenen Verwaltungsaktes betroffen zu werden, dahinter zurückzutreten hat (vgl. nur Beschl. des Senats v. 18.06.2020 - 4 MB 21/20 -, juris Rn. 4 m.w.N.). Diese Voraussetzungen sieht das Verwaltungsgericht als erfüllt an. Es gebe eine selbstständig tragende Begründung, die erkennen lasse, dass der Antragsgegner sich den Ausnahmefall des Sofortvollzuges bewusst gemacht habe; sie nehme auf den Einzelfall Bezug und enthalte keine Floskeln.
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Die Beschwerde greift diese Ausführungen nicht an. Soweit sie rügt, dass vor dem Hintergrund der bevorstehenden Abschiebung nach 23 Jahren Aufenthalts im Bundesgebiet eine sorgfältige Verhältnismäßigkeitsprüfung anzustellen sei, bei der das Verwaltungsgericht es unterlassen habe, das allein auf Erwirkung der Niederlassungserlaubnis durch unrichtige Angaben gestützte besondere öffentliche Interesse gegen die persönlichen Belange des Antragstellers abzuwägen, betrifft dies nicht die von der Behörde zu erfüllenden verfahrensrechtlichen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, sondern die vom Gericht an anderer Stelle vorzunehmende Interessenabwägung. Insoweit führt das Verwaltungsgericht zutreffend aus, dass es im Rahmen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO grundsätzlich nicht darauf ankommt, dass die für das besondere Vollzugsinteresse angeführten Gründe die getroffene Maßnahme auch inhaltlich rechtfertigen. Zu ergänzen bleibt, dass die Behörde jedenfalls erkannt haben muss, dass es sich bei der Entscheidung, eine Anordnung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zu treffen, auch bei Vorliegen eines überwiegenden Sofortvollziehungsinteresses um eine Ermessensentscheidung handelt, bei der sämtliche wesentlichen Umstände des Falles zu überprüfen und im Wege einer konkreten, alle bedeutsamen Gesichtspunkte umfassenden Abwägung der für und gegen die Anordnung sprechenden Gründe einzubeziehen sind (Beschl. des Senats v. 18.06.2020 - 4 MB 21/20 -, juris Rn. 5 und v. 09.02.1993 - 4 M 146/92 -, juris Rn. 10 m.w.N.). Dass das Verwaltungsgericht diese Anforderung wiederum nicht erkannt oder im Ergebnis fehlerhafterweise nicht beanstandet hätte, rügt die Beschwerde nicht.
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2. Für ein überwiegendes öffentliches Interesse streitet nach Auffassung des Verwaltungsgerichts die offensichtliche Rechtmäßigkeit der angegriffenen Rücknahme der Niederlassungserlaubnis, gestützt auf den neben dem Aufenthaltsgesetz anwendbaren § 116 Abs. 1 Satz 1 LVwG. Die durch Bescheid vom 25. November 2010 erteilte Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG (in der im Zeitpunkt der Erteilung geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008, BGBl. I Seite 162; im Folgenden: a.F.) sei von Anfang an rechtswidrig gewesen und habe deshalb auch nach Unanfechtbarkeit ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden können. Insoweit stellt die Beschwerdebegründung zwar die Annahme der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 116 Abs. 1 Satz 1 LVwG nicht in Frage (a.), doch ergibt sich zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats, dass der streitgegenständliche Bescheid deshalb als offensichtlich rechtswidrig erscheint, weil der Antragsgegner das ihm mit dieser Norm eingeräumte Ermessen fehlerhaft betätigte (b.).
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a. Ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis habe laut Verwaltungsgericht weder nach § 26 Abs. 3 noch nach § 26 Abs. 4 AufenthG a.F. bestanden. Der Antragsteller habe zwar seit drei Jahren über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG verfügt, doch sei darüber hinaus nach dem Regelungszweck des § 26 Abs. 3 und 4 AufenthG a.F. zu fordern, dass der Ausländer bei Erteilung der Niederlassungserlaubnis auch noch über den maßgeblichen Schutzstatus (die für § 25 Abs. 2 AufenthG erforderlichen Flüchtlingseigenschaft) verfüge und dieser nicht nach § 73 Abs. 1 AsylVfG/AsylG widerrufen oder nach Abs. 2 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden sei. Denn nur diesen Personen solle der besondere Status eines unbefristeten Aufenthaltsrechts verliehen werden.
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Insoweit macht die Beschwerde geltend, dass eine Rücknahme der Flüchtlingsanerkennung mit Wirkung für die Vergangenheit, die auch den Zeitpunkt der Erteilung der Niederlassungserlaubnis am 25. November 2010 umfasse, entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht vorliege. Dies trifft jedoch nicht zu. In dem bestandskräftigen Rücknahmebescheid vom 10. April 2019 führte das BAMF zwar nicht im Tenor, wohl aber in der Begründung (Seite 4 oben) aus, dass die Rücknahme der asylrechtlichen Begünstigung mit Wirkung für die Vergangenheit erfolge, weil keine Gründe ersichtlich seien, die im vorliegenden Fall ausnahmsweise eine Wirkung nur für die Zukunft rechtfertigen könnten. Ob das vom BAMF angenommene Regel-Ausnahme-Verhältnis angebracht ist, kann dahinstehen. Vorliegend jedenfalls ergibt sich der Regelungsinhalt der Rücknahme hinreichend deutlich aus der Begründung des Bescheides. Diese erwächst zwar nicht in Bestandskraft, die darin enthaltenen tragenden Erwägungen können jedoch zur Auslegung des Tenors herangezogen werden.
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b. Mit Erfolg greift die Beschwerde allerdings die verwaltungsgerichtliche Bewertung der Ermessensausübung durch den Antragsgegner an, insbesondere, soweit es die Auswahlentscheidung im Rahmen des § 116 Abs. 1 LVwG betrifft, die Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft (ex nunc) oder für die Vergangenheit (ex tunc) anzuordnen.
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Wie das Verwaltungsgericht selbst ausführt, muss die Ausländerbehörde bei Rücknahme einer unanfechtbaren Aufenthaltserlaubnis im Rahmen ihrer Ermessensausübung prüfen, ob es aufgrund besonderer Umstände erforderlich erscheint, von der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzes zugunsten der Bestandskraft und damit der Rechtssicherheit ausnahmsweise abzuweichen. Dabei sind neben den in Rede stehenden öffentlichen Interessen sowie der Art und Intensität des mit der Rücknahme zu korrigierenden Rechtsverstoßes auch die Auswirkungen für den Betroffenen in den Blick zu nehmen und nach ihrer Bedeutung angemessen zu berücksichtigen. Zudem muss zu erkennen sein, dass sie die Alternativen einer Rücknahme für die Zukunft oder die Vergangenheit gesehen und abgewogen hat (vgl. schon VG Schleswig, Urt. v. 15.11.2018 - 1 A 40/15 -, juris Rn. 36 m.w.N.).
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Das Fehlen einer solchen Abwägung wird von der Beschwerde zu Recht gerügt. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des zwischenzeitlich ergangenen Widerspruchsbescheides vom 14. März 2022, dessen Inhalt vom Senat entsprechend der Regelung des § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen ist, zumal für die Bewertung der Sach- und Rechtslage bei der Rücknahme oder dem Widerruf eines unbefristeten Aufenthaltstitels gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 13.04.2010 - 1 C 10.09 -, juris Rn. 11; Urt. v. 22.03.2012 - 1 C 3.11 -, juris Rn. 13) auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung – hier der Beschwerdeentscheidung – abzustellen ist.
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aa. Nicht gefolgt werden kann dem Antragsteller allerdings in der Annahme, dass der Ausgangsbescheid nicht ansatzweise erkennen lasse, dass eine „ex nunc“-Entscheidung auch nur in Erwägung gezogen worden wäre und dass dies wiederum im Beschluss des Verwaltungsgerichts nicht geprüft worden sei. Denn das Verwaltungsgericht führt aus, dass die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis nicht deshalb an einem Ermessensfehler leide, weil der Antragsgegner die grundsätzlich bestehende Möglichkeit einer Rücknahme erst mit Wirkung für die Zukunft nicht gesehen und erwogen haben könnte. Begründet wird dies mit einer entsprechenden Auslegung des Bescheides. Zu ergänzen bleibt, dass jedenfalls im Widerspruchsbescheid vom 14. März 2022 die Möglichkeit einer „ex nunc“-Entscheidung ausdrücklich behandelt worden ist.
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bb. Zutreffend macht die Beschwerde allerdings geltend, dass als Folge der Entscheidung für eine „ex tunc“-Rücknahme auch hätte berücksichtigt werden müssen, ob bzw. wie sich diese auf die Anrechnung notwendiger Voraufenthaltszeiten im Rahmen einer noch in Betracht kommenden Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG wegen nachhaltiger Integration auswirkt. Dies folge aus dem Gebot, das öffentliche Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Zustände gegen das Bleibeinteresse des Antragstellers nach 23 Jahren Aufenthalts im Bundesgebiet und entsprechender Integration gegeneinander abzuwägen. Da die Niederlassungserlaubnis auch bei einer Rücknahme „ex nunc“ als Titel verloren sei, würde das Ziel der Verhinderung eines Nachahmungseffektes dadurch nicht gefährdet.
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Das Verwaltungsgericht führt insoweit zwar aus, dass eine begangene arglistige Täuschung bei Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht nur den Vertrauensschutz entfallen lasse, sondern in der Regel auch die Rücknahme des Verwaltungsaktes für die Vergangenheit nahelege, befasst sich aber weder an dieser Stelle noch sonst mit den privaten Bleibeinteressen des Antragstellers, die ihren Ausdruck in der Möglichkeit des Erhalts einer Aufenthaltserlaubnis wegen nachhaltiger Integration finden könnten. An anderer Stelle deutet es zwar an, dass eine solche Aufenthaltserlaubnis in Frage kommen könne, sieht sich – und den Antragsgegner – aber zu einer weitergehenden Betrachtung nicht veranlasst, weil die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis etwa zum Zwecke der Beschäftigung oder aus sonstigen humanitären Gründen wegen des in § 7 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zum Ausdruck kommenden Trennungsprinzips im Verfahren der Rücknahme einer Niederlassungserlaubnis, die ihrerseits dem Zweck der Schutzgewährung diene, nicht zu klären und in die Ermessenserwägungen nicht einzustellen sei.
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Dessen ungeachtet vermögen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts etwaige Mängel in der behördlichen Ermessensausübung ohnehin nicht zu beheben. Maßgeblich ist vielmehr auf die Ordnungsverfügung vom 12. Oktober 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. März 2022 abzustellen. Insoweit ergibt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt, dass die behördliche Entscheidung ermessensfehlerhaft ergangen ist. Der Antragsgegner hat von dem ihm eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung widersprechenden Weise Gebrauch gemacht (§ 114 Satz 1 VwGO). Ein zweckwidriger Ermessensgebrauch (Ermessensfehlgebrauch) liegt vor, wenn die Wahl einer der Möglichkeiten, die innerhalb des Ermessensraums liegen, angreifbar ist, weil die behördliche Entscheidungsfindung auf nicht tragfähigen (unzureichenden oder sachwidrigen) Erwägungen beruht (Wolff in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2018, § 114 VwGO Rn. 81, 162-163). So liegt es hier.
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(1) Rechtlich nicht tragfähig sind die im Widerspruchsbescheid zur Anwendung gebrachten Regelungen des § 116 Abs. 2 Satz 3 und 4 LVwG und die darauf gestützte Auffassung des Antragsgegners, dass im vorliegenden Fall bei Erwirken eines Verwaltungsaktes durch arglistige Täuschung regelmäßig eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit erfolge und dass es sich dabei um eine „Ermessensreduzierung im Wege eines vom Gesetzgeber intendierten Ermessens“ handele, sodass eine ausschließliche Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft nur in atypischen Fällen in Frage komme, ein solcher hier aber nicht vorliege. Entsprechend gehe auch der Vortrag, wonach eine Rücknahme nur mit Wirkung für die Zukunft angemessen wäre, fehl. Der Gesetzgeber habe für einen auf arglistiger Täuschung basierenden Verwaltungsakt eine klare Rechtsfolge definiert, nämlich die Regelrücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit als vollständige Beseitigung des rechtswidrigen Verwaltungsaktes.
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Die eingangs vom Verwaltungsgericht beschriebene Notwendigkeit der Abwägung zwischen den in Rede stehenden öffentlichen Interessen je nach Art und Intensität des mit der Rücknahme zu korrigierenden Rechtsverstoßes einerseits und den Auswirkungen für den Betroffenen je nach persönlicher Bedeutung andererseits bezieht auch die Auswahl und Abwägung zwischen den Alternativen einer Rücknahme für die Zukunft oder die Vergangenheit mit ein. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners gilt dies alles auch für den Fall, dass eine Aufenthaltserlaubnis durch falsche Angaben und die Vorlage unrichtiger Papiere erlangt worden ist. Dies schließt zwar eine Berufung auf Vertrauensschutz aus (§ 48 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 und 2 VwVfG [bzw. § 116 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 und 2 LVwG]), ändert aber nichts an dem Erfordernis einer derartigen Abwägung. Ermessenslenkende Vorgaben, die für den hier gegebenen Fall der Rücknahme einer Aufenthaltserlaubnis auf ein sogenanntes intendiertes Ermessen hinweisen, bestehen nicht (BVerwG, Urt. v. 05.09.2006 - 1 C 20.05 -, juris Rn. 18 m.w.N.; VGH München, Urt. v. 11.06.2013 - 10 B 12.1493 -, juris Rn. 33; OVG Münster, Urt. v. 03.12.2009 - 18 A 1787/06 - juris Rn. 155; Stelkens/Bonk/Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 48 Rn. 79, 88).
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Der vom Antragsgegner gewählte Weg von § 116 Abs. 1 zu § 116 Abs. 2 Satz 3 und 4 LVwG kommt damit aus zwei Gründen nicht in Betracht: Zum einen gilt § 116 Abs. 2 LVwG ausdrücklich nur für Verwaltungsakte, die eine Geld- oder Sachleistung gewähren, nicht aber für Statusentscheidungen wie die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Die Anwendung seiner Sätze 3 und 4 kann auch nicht über § 116 Abs. 3 Satz 2 LVwG vermittelt werden. Dieser verweist zwar auf den vorangehenden Absatz 2 Satz 3, nicht aber auf Absatz 2 Satz 4. Zum anderen statuiert § 116 Abs. 3 LVwG insgesamt nur einen Sekundäranspruch auf Ausgleich eines Vermögensnachteils nach wirksamer Rücknahme, während sich die Voraussetzungen, das „Ob“ und das „Wie“ der Rücknahme von Verwaltungsakten, die nicht unter Absatz 2 fallen, allein nach Absatz 1 richten. Eine Präferenz für einen der möglichen Zeitpunkte lässt sich § 116 Abs. 1 Satz 1 LVwG im Gegensatz zu § 116 Abs. 2 Satz 4 LVwG nicht entnehmen (Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, August 2021, § 48 VwVfG Rn. 194 f., 289). Ebenso wenig sieht das Gesetz für einen Fall der vorliegenden Art eine „klare Rechtsfolge“ in Form einer „Regelrücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit als vollständige Beseitigung des rechtswidrigen Verwaltungsaktes“ oder ein entsprechend intendiertes Ermessen vor.
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Ausgespart werden damit der langjährige Aufenthalt und die erreichte Integration und die sich daraus ergebende Frage, ob eine Aufenthaltserlaubnis insbesondere nach § 25b AufenthG bei einer Rücknahme „ex tunc“ für den Antragsteller überhaupt noch zu erlangen wäre. Der insoweit in Frage kommende § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG verlangt hierfür regelmäßig einen ununterbrochenen, geduldeten, gestatteten oder erlaubten Voraufenthalt. Der geforderte Mindestaufenthalt kann zwar durch alle drei Alternativen gleichermaßen erfüllt werden, da die Vorschrift vorrangig nachhaltige Integrationsleistungen honorieren soll. Allerdings gilt dies nur für Voraufenthaltszeiten, die von einem aufenthaltsregelnden Verwaltungsakt gedeckt sind oder in denen eine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unzulässig ist (BVerwG, Urt. v. 18.12.2019 - 1 C 34.18 -, BVerwGE 167, 211 ff., juris Rn. 41; Göbel-Zimmermann/Hupke in: Huber/Mantel, AufenthG, 3. Aufl. 2021, § 25b Rn. 3). Ein solcher von einem Verwaltungsakt gedeckter Voraufenthalt entfiele durch die rechtsgestaltende Wirkung der Rücknahme einer Aufenthaltserlaubnis „ex tunc“. Es wäre davon auszugehen, dass diese weder erteilt noch verlängert worden ist und dass ein rechtmäßiger, von einer solchen Erlaubnis abgedeckter Voraufenthalt (de jure) nicht gegeben war (OVG Münster, Urt. v. 03.12.2009 - 18 A 1787/06 - juris Rn. 172 ff.; Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, August 2021, § 48 VwVfG Rn. 342). Rechtmäßige Aufenthaltszeiten können infolge einer in die Vergangenheit wirkenden Rücknahme der Erlaubnis deshalb nicht zurückgelegt worden sein (VG München, Urt. v. 07.09.2017 - M 12 K 16.5689 -, juris Rn. 82). Ebenso wenig käme ein von einer Aufenthaltsgestattung getragener rechtmäßiger oder ein zwar unrechtmäßiger, aber von einer Duldung getragener Voraufenthalt in Betracht.
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Ob weitergehend auch Zeiten angerechnet werden könnten, in denen der Antragsteller in fingierter Weise zwar keine Niederlassungserlaubnis besessen hat, er aber einen Rechtsanspruch auf einen anderen Aufenthaltstitel gehabt hätte, die den Zeiten des Titelbesitzes gleichstünden (so etwa BVerwG, Urt. v. 10.11.2009 - 1 C 24.08 -, BVerwGE 135, 225 ff., juris Rn. 15) oder in denen er zumindest einen Anspruch auf eine Duldung gehabt hätte (dazu BVerwG, Urt. v. 18.12.2019 - 1 C 34.18 -, BVerwGE 167, 211 ff., juris Rn. 24), bedarf hier keiner Entscheidung. Ebenso wenig ist zu entscheiden, ob eine nachhaltige Integration i.S.d. § 25 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bei einer Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls auch ohne Erfüllung aller in § 25 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG konkreten Voraussetzungen angenommen werden kann, weil der Antragsteller besondere Integrationsleistungen von vergleichbarem Gewicht erbracht hat oder einzelne benannte Integrationsvoraussetzungen "übererfüllt" und dadurch ein nicht vollständig erfülltes "Regel-Merkmal" kompensiert (dazu BVerwG, Urt. v. 18.12.2019 - 1 C 34/18 -, BVerwGE 167, 211 ff., juris Rn. 32; OVG Münster Beschl. v. 21.07.2015 - 18 B 486/14 -, juris Rn. 9).
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(2) Die Aussagen des Antragsgegners erscheinen darüber hinaus auch deshalb nicht tragfähig, weil sie sich in Bezug auf die Frage, ob dem Antragsteller noch Bleibeperspektiven eröffnet werden sollen, widersprechen. Im streitgegenständlichen Bescheid finden sich zu den Folgen für eine denkbare Aufenthaltserlaubnis wegen nachhaltiger Integration, insbesondere zu den dafür notwendigen Voraufenthaltszeiten, keine Überlegungen. An anderer Stelle kristallisiert sich heraus, dass der Antragsgegner mit der Rücknahme „ex tunc“ gerade auch den Zweck verfolgt, die zu Unrecht erhaltenen Anrechnungszeiten zu „beseitigen“. So führt es der Antragsgegner in seiner Beschwerdeerwiderung – wiederum unter Verweis auf § 116 Abs. 2 Satz 4 LVwG – aus und begründet dies damit, dass es sich ansonsten auszahlen würde, die Täuschung möglichst lange aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite wird im Widerspruchsbescheid weitergehend ausgeführt, dass eine (vom Antragsteller bestrittene) Ermessensausübung auch daran zu erkennen sei, dass von einer denkbaren Ausweisung Abstand genommen und lediglich die (gesetzlich vorgesehene) Mindestfolge der Rücknahme nach § 116 Abs. 1 LVwG zur Schaffung rechtmäßiger Zustände gewählt worden sei, weil dem Antragsteller „auch in der Zukunft gerade deshalb eine (anderweitige) legale Bleibeperspektive offenstehen sollte“ (Seite 4). Dabei wird im Übrigen nicht nur übersehen, dass nicht eine Rücknahme „ex tunc“, sondern diejenige „ex nunc“ die „(gesetzlich vorgesehene) Mindestfolge der Rücknahme“ wäre, sondern auch, dass die Rücknahme „ex tunc“ einer legalen Bleibeperspektive gerade entgegenstünde.
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(3) Ob unter den gegebenen Umständen allein eine Rücknahme „ex nunc“ angemessen wäre, hat der Senat nicht zu entscheiden. Dies muss gegebenenfalls einer erneuten Ermessensbetätigung durch den Antragsgegner unter Meidung der aufgezeigten Fehler vorbehalten bleiben.
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III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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