Urteil vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (4. Senat) - 4 L 97/15

Tatbestand

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Die Klägerin, ein Lackierfachbetrieb, verfolgt den Erlass der auf einen Sanierungsgewinn entfallenden Gewerbesteuer.

2

Mit Schreiben vom 29. November 2011 beantragte die Klägerin bei der Beklagten den Erlass der nach Verrechnung der gewerbesteuerlichen Verlustvorträge verbleibenden Gewerbesteuer für das Jahr 2010. Nach ihren Berechnungen handele es bei erklärungsgemäßer Veranlagung um einen Betrag in Höhe von 11.199,- €. Zur Begründung verwies sie auf die analoge Anwendung eines BMF-Schreibens vom 27. März 2003 i.V.m. § 163 AO. Auf Grund der verschlechterten Ertragslage sei 2010 eine umfassende Sanierung des Unternehmens notwendig gewesen, um einen finanziellen Zusammenbruch zu vermeiden. Kernpunkt der Sanierung sei ein teilweiser Schuldenerlass der finanzierenden Banken sowie die vollständige Umschuldung gewesen.

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Mit Bescheid vom 1. Juni 2012 „über Körperschaftssteuer und Solidaritätszuschlag für das Jahr 2010" berücksichtigte das Finanzamt A-Stadt einen Sanierungsgewinn in Höhe von 1.323.863,- €; dieser wurde in Höhe von 1.273.575,- € mit vorhandenen Verlusten verrechnet. Das Finanzamt setzte danach für das Jahr 2010 Körperschaftssteuer und Solidaritätszuschlag mit Null Euro fest. In einem Gewerbesteuermessbescheid für 2010 vom 1. Juni 2012 verrechnete das Finanzamt einen Verlustvortrag der Klägerin nach § 10a Satz 2 GewStG in Höhe von 1.219.448,- € mit einem Sanierungsgewinn. Nach einer „Mitteilung für die Gemeinde“ sei ein Sanierungsgewinn in Höhe von 1.323.863,- € festgestellt worden, der bei der Berechnung des Gewerbesteuermessbetrages berücksichtigt worden sei. Der verbleibende Sanierungsgewinn sei auf Antrag nach § 163 AO abweichend festzusetzen und nach § 222 AO mit dem Ziel des späteren Erlasses (§ 227 AO) zunächst unter Widerrufsvorbehalt ab Fälligkeit zu stunden.

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Mit Bescheiden vom 14. März 2013 zog die Beklagte die Klägerin auf der Grundlage eines Gewerbesteuermessbetrages von 2.061,- € zu einer Gewerbesteuer für das Jahr 2010 in Höhe von 9.274,50 € sowie Nachzahlungszinsen in Höhe von 508,- € heran. Im Rahmen der Anhörung zu dem Erlassantrag teilte die Beklagte mit, es lägen keine sachlichen Billigkeitsgründe vor, nachdem § 3 Nr. 66 EStG weggefallen und vom Gesetzgeber bisher keine generelle Ersatzregelung geschaffen worden sei.

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Mit Bescheid vom 28. Juni 2013 lehnte die Beklagte den Erlass der Gewerbesteuer zuzüglich Nachzahlungszinsen ab. Der Umstand, dass das Betriebsfinanzamt einen Gewinn als begünstigten Sanierungsgewinn eingestuft habe, binde die Gemeinden nicht hinsichtlich ihrer eigenen Entscheidung über die Billigkeit. Nach Wegfall des § 3 Nr. 66 EStG unterliege ein durch Schuldenerlass entstandener Sanierungsgewinn grundsätzlich der Besteuerung. Aus dem BMF-Schreiben vom 27. März 2003 könne sich bei der Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrages grundsätzlich keine Zuständigkeit des Finanzamtes für eine abweichende Festsetzung aus sachlichen Billigkeitsgründen nach § 163 Satz 1 AO ergeben. Es sei bereits ihr Standpunkt zum Erlass dargelegt und begründet worden, warum aus ihrer Sicht keine sachlichen Unbilligkeitsgründe vorlägen. Auch der Bundesfinanzhof habe in einer Entscheidung vom 28. Februar 2012 erhebliche Zweifel geäußert, ob die Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen allein wegen sachlicher Unbilligkeit auf Grund des BMF-Schreibens beansprucht werden könne. Der Hinweis auf das Urteil des BFH vom 17. Juli 2010 führe zu keinem anderen Ergebnis, denn dieser Entscheidung sei nicht zu entnehmen, dass bei Vorliegen von sanierungsbedingten Gewinnen die daraus resultierende Steuer regelmäßig zu erlassen wäre. § 227 AO stelle keine Ermächtigung zur Korrektur des Gesetzes dar, denn der Gesetzgeber habe die Besteuerung auch von Sanierungsgewinnen bewusst in Kauf genommen.

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Die Klägerin erhob gegen die Ablehnung ihres Erlassantrages fristgerecht Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. März 2014 - zugestellt am 9. April 2014 - aus den Gründen des Ausgangsbescheids zurückwies. Dabei bezog sie sich auch auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 25. Februar 2014 (- 2 A 193/12 MD -).

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Am 5. Mai 2014 hat die Klägerin bei dem Verwaltungsgericht Halle Klage erhoben und beantragt, die Beklagte zu verpflichten, die auf den Sanierungsgewinn 2010 entfallene Gewerbesteuer zu erlassen, hilfsweise, sie zu verpflichten, ihren Erlassantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

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Mit Urteil vom 28. Mai 2015 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die auf den Sanierungsgewinn 2010 entfallene Gewerbesteuer zu erlassen. Der Gesetzgeber habe durch die Abschaffung des vormals in den § 3 Nr. 66 EStG geregelten Steuerprivilegs für Sanierungsgewinne nicht zum Ausdruck gebracht, dass für den Erlass von Sanierungsgewinnen grundsätzlich kein Raum mehr sei. Vielmehr könne nach der Gesetzesbegründung auch nach Streichung dieser Regelung einzelnen persönlichen oder sachlichen Härtefällen im Stundungs- oder Erlasswege begegnet werden. Zu berücksichtigen sei dabei, dass sich aus der Ausweisung eines Sanierungsgewinns als einem rein finanziellen Gewinn keine besteuerungswürdige Steigerung der Leistungsfähigkeit ergebe. Jede Verminderung von Verbindlichkeiten bedeute insoweit einen Vermögenszuwachs. Diese Umstände habe die Gemeinde bei ihren Ermessenerwägungen einzustellen. Die konkreten Umstände des Einzelfalls und die Eigenart des Sanierungsgewinns hätten aber keinen Eingang in die Ermessenserwägungen der Beklagten gefunden. Die Ablehnung des sachlichen Billigkeitserlasses sei danach ermessensfehlerhaft, und der Ermessensspielraum der Beklagten habe sich zudem insoweit verdichtet, als die Klägerin einen Anspruch auf einen Erlass nach § 227 AO habe. Da das Finanzamt nach den von der Klägerin vorgelegten Unterlagen einen Sanierungsgewinn angenommen habe und weitere Umstände, die hier gegen eine andere Wertung sprächen, weder vorgetragen noch offensichtlich seien, sei von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen. Über den Hilfsantrag sei danach nicht zu entscheiden.

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Auf Antrag der Beklagten hat der erkennende Senat mit Beschluss vom 23. Februar 2015 die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zugelassen.

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Die Beklagte vertieft zur Begründung der fristgerecht erhobenen Berufung ihr Vorbringen, es hätten keine ausreichenden sachlichen Erlassgründe vorgelegen. Sie habe sich bei der Prüfung nach § 227 AO davon leiten lassen, dass allein eine Besteuerung eines Sanierungsgewinnes mit Blick auf die vom Gesetzgeber vorgenommene Streichung des § 3 Nr. 66 EStG keine sachliche Unbilligkeit darstelle, da eben der Gesetzgeber selbst eine Steuerbefreiung nicht mehr vorgesehen habe. Andere Umstände, die zur Bejahung einer sachlichen Unbilligkeit führen könnten, habe die Klägerin nicht vorgetragen; sie seien auch nicht ersichtlich. Einen Erlass aus persönlichen Gründen habe sie abgelehnt, da seitens der Klägerin trotz entsprechender Aufforderung schon keine nachvollziehbaren Unterlagen eingereicht worden seien. Solche Gründe seien auch nicht ersichtlich.

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Die Beklagte beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts Halle - 2. Kammer - vom 28. Mai 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Sie bezieht sich auf ihr Vorbringen im Klageverfahren und den Inhalt der erstinstanzlichen Entscheidung.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der Beratung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO), ist nur teilweise begründet, soweit dem Hauptantrag der Klägerin stattgegeben wurde; hinsichtlich des Hilfsantrages ist die Berufung unbegründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf eine erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung gem. § 227 AO über den Erlass der auf einen Sanierungsgewinn 2010 entfallenden Gewerbesteuer unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 28. Juni 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. März 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (1.). Ein Anspruch der Klägerin auf den Erlass der Gewerbesteuer besteht dagegen nicht (2).

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Nach den §§ 1 Abs. 2 Nr. 5, 3 Abs. 2 i.V.m. § 227 AO können Gemeinden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis - wie hier den streitbefangenen Gewerbesteueranspruch - ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet werden. Die Entscheidung der Gemeinde über einen Erlass aus Billigkeitsgründen ist eine Ermessensentscheidung, wobei Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens durch den Maßstab der Billigkeit bestimmt werden (vgl. GmS-OGB, Beschl. v. 19. Oktober 1971 - GmS-OGB 3/70 -; BVerwG, Urt. v. 23. August 1990 - 8 C 42.88 -, jeweils zit. nach JURIS). Maßgebender Zeitpunkt für die gerichtliche Prüfung einer Entscheidung über einen Antrag auf Steuererlass aus Billigkeitsgründen ist der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung. Dies beruht auf der Erwägung, dass die Entscheidung über einen Billigkeitserlass eine Ermessensentscheidung ist und die Rechtmäßigkeit einer Ermessensentscheidung nur von Tatsachen und Verhältnissen abhängen kann, die im Zeitpunkt der Behördenentscheidung vorgelegen haben (OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 18. Juni 2009 - 4 L 36/07 -; VGH Bayern, Urt. v. 18. Februar 2013 - 10 B 10.1028 -, jeweils zit. nach JURIS, m.w.N.). Stellt das Gericht fest, dass die Behörde ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat, wird es im Regelfall nur die Verpflichtung aussprechen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Nur in Fällen, in denen der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeschränkt ist, dass ausschließlich eine Entscheidung ganz bestimmten Inhalts als ermessensgerecht in Betracht kommt (sog. Ermessensreduzierung auf Null) kann das Gericht eine Verpflichtung der Behörde zum Erlass aussprechen.

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1. Die von der Beklagten vorgenommene Ablehnung des Erlasses der auf den Sanierungsgewinn entfallenden Gewerbesteuer für das Jahr 2010 aus sachlichen Billigkeitsgründen ist ermessensfehlerhaft.

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Die Festsetzung einer Steuer ist aus sachlichen Gründen unbillig, wenn sie zwar dem Wortlaut des Gesetzes entspricht, aber den Wertungen des Gesetzes zuwiderläuft. Das setzt voraus, dass der Gesetzgeber die Grundlagen für die Steuerfestsetzung anders als tatsächlich geschehen geregelt hätte, wenn er die zu beurteilende Frage als regelungsbedürftig erkannt hätte. Auch wenn demnach Härten, die der Gesetzgeber bei der Regelung des gesetzlichen Tatbestands bedacht und in Kauf genommen hat, grundsätzlich keine Billigkeitsmaßnahme rechtfertigen, so ist eine derartige Maßnahme gleichwohl geboten, wenn ohne die begehrte Billigkeitsmaßnahme das Verhalten des Gesetzgebers aus verfassungsrechtlichen Gründen zu beanstanden wäre. Dies ist der Fall, wenn ein Gesetz, das in seinen generalisierenden Wirkungen verfassungsgemäß ist, bei der Steuerfestsetzung im Einzelfall zu Grundrechtsverstößen führt. Allgemeine Folgen eines verfassungsgemäßen Gesetzes, die den gesetzgeberischen Planvorstellungen entsprechen und die der Gesetzgeber ersichtlich in Kauf genommen hat, vermögen einen Billigkeitserlass allerdings nicht zu rechtfertigen. Denn Billigkeitsmaßnahmen dürfen nicht die einem gesetzlichen Steuertatbestand innewohnende Wertung des Gesetzgebers generell durchbrechen oder korrigieren, sondern nur einem ungewollten Überhang des gesetzlichen Steuertatbestandes abhelfen. Mit verfassungsrechtlich gebotenen Billigkeitsmaßnahmen darf also nicht die Geltung des ganzen Gesetzes unterlaufen werden. Wenn solche Maßnahmen ein derartiges Ausmaß erreichen müssten, dass sie die allgemeine Geltung des Gesetzes aufhöben, wäre das Gesetz als solches verfassungswidrig (so BVerwG, Urt. v. 19. Februar 2015 - 9 C 10.14 -, zit. nach JURIS, m.w.N.).

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Bei ihrer Ermessensentscheidung war die Beklagte - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - zwar weder an das BMF-Schreiben vom 27. März 2003 (IV A 6 - S. 2140 - 8/03, BStBl I 2003, 240), ergänzt durch Schreiben vom 22. Dezember 2009 (IV C 6-S 2140/07/10001-01, BStBl I 2010, 18; im folgenden: Sanierungserlass) noch an die finanzgerichtliche Rechtsprechung oder an das Verhalten der Finanzverwaltung gebunden, sondern hatte eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen (vgl. OVG Sachsen, Urt. v. 10. September 2015 - 5 A 317/13 -; VGH Hessen, Beschl. v. 18. Juli 2012 - 5 A 293/12.Z -; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 11. Februar 2008 - 9 S 38/07 -, jeweils zit. nach JURIS).

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Es reicht im Rahmen der Ermessensausübung jedoch nicht aus, wenn die Gemeinde bei der Ablehnung des Erlasses von Gewerbesteuern auf einen Sanierungsgewinn ohne weitere Abwägung allein auf den Wegfall des in § 3 Nr. 66 EStG a.F. enthaltenen Steuerprivilegs abstellt (so aber VG Münster, Urt. v. 21. Mai 2014 - 9 K 1251/11 -; VG Magdeburg, Urt. v. 25. Februar 2014 - 2 A 193/12 -, jeweils zit. nach JURIS; vgl. auch Nachweise zur damit übereinstimmenden Rechtsprechung einzelner Finanzgerichte in einem Vorlagebeschluss des BFH vom 25. März 2015 - X R 23/13 -, zit. nach JURIS). Dem stehen Sinn und Zweck der Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. und auch die Erwägungen des Gesetzgebers entgegen. Der Bundesfinanzhof hat in einem Urteil vom 14. Juli 2010 (- X R 34/08 -, zit. nach JURIS; vgl. auch VG Köln, Urt. v. 27. August 2014 - 24 K 2780/13 - zit. nach JURIS) dazu dargelegt: "Zwar hat der Gesetzgeber § 3 Nr. 66 EStG a.F. aufgehoben, in dem die Steuerfreiheit von (unternehmens- wie unternehmerbezogenen) Sanierungsgewinnen bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 1997 spezialgesetzlich geregelt war. Damit hat er jedoch nicht zum Ausdruck gebracht, für Sanierungsgewinne gebe es keine Erlassmöglichkeit. Vielmehr zeigt die Gesetzesbegründung, dass die Steuerbefreiung einen Ausgleich für nicht abziehbare Verluste habe bewirken sollen und dieser Ausgleich seit Einführung eines unbegrenzten Verlustvortrags nicht mehr gerechtfertigt sei. Einzelnen persönlichen oder sachlichen Härtefällen könne - so die Gesetzesbegründung - im Stundungs- und Erlasswege begegnet werden (BTDrucks 13/7480, S. 192). Auch in der Begründung des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 vom 14. August 2007 (BGBl I 2007, 1912) ging der Gesetzgeber davon aus, dass von der Besteuerung von Sanierungsgewinnen, die nicht mit Verlustvorträgen verrechnet werden können, ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung im Billigkeitswege nach dem BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 240 abgesehen werden könne (BTDrucks 16/4841, S. 76). In seiner Stellungnahme zum Gesetz zur verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen (Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung) vom 3. April 2009 (BRDrucks 168/09, S. 30) hat der Bundesrat seinen Änderungsantrag zu § 34 Abs. 7b Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes damit begründet, die Steuerbefreiung von Sanierungsgewinnen durch Verwaltungsanweisung (Sanierungserlass) sei nicht ausreichend, negative Effekte zu verhindern. Hinzu kommt, dass nach dem Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz vom 22. Dezember 2003 (BGBl I 2003, 2840) Verluste, die weder im Veranlagungszeitraum ihrer Entstehung noch im Wege des Verlustrücktrags ausgeglichen werden können, ab dem Veranlagungszeitraum 2004 (vgl. § 52 Abs. 25 EStG 2004) im Rahmen des Verlustvortrags nur noch begrenzt verrechnungsfähig sind. Angesichts der Verknüpfung der Aufhebung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. mit einem unbeschränkten Verlustabzug kommt möglichen Billigkeitsmaßnahmen nach dem BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 240 eine besondere Bedeutung zu (vgl. auch Seer, FR 2010, 306). Im Übrigen hat die Rechtsprechung bereits vor Einführung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. durch das Körperschaftsteuerreformgesetz vom 31. August 1976 (BGBl I 1976, 2597, BStBl I 1976, 445) erkannt, dass der durch eine Sanierung herbeigeführte Gewinn unter bestimmten Voraussetzungen einkommensteuerrechtlich außer Betracht zu bleiben habe (Urteil des Reichsfinanzhofs vom 21. Oktober 1931 VI A 968/31, RFHE 29, 315, RStBl 1932, 160) bzw. die Besteuerung eines Sanierungsgewinns sachlich unbillig sein könne (Senatsurteil in BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297). Der Auffassung des FG München im Urteil in EFG 2008, 615, die Finanzverwaltung habe mit dem BMF-Schreiben in BStBl I 2003, 240 eine Verwaltungspraxis contra legem eingeführt, kann daher in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden."

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Diesen Ausführungen (bestätigt durch BFH, Vorlagebeschluss vom 25. März 2015, a.a.O.) ist nach Auffassung des beschließenden Senats im Grundsatz auch für das Gewerbesteuerrecht zu folgen. Danach kommt ein Erlass von auf Sanierungsgewinnen beruhenden Gewerbesteuern durchaus weiterhin in Betracht (so i.E. auch OVG Niedersachsen, Beschl. v. 1. April 2011 - 9 ME 216/10 -, zit. nach JURIS; Gehm, KStZ 2014, 6, 7; offen gelassen von OVG Sachsen, Urt. v. 10. September 2015 - 5 A 317/13 -, zit. nach JURIS). Der Wegfall des Steuerprivilegs ist im Rahmen der Ermessensentscheidung dahingehend zu berücksichtigen, dass das Vorliegen eines Sanierungsgewinnes allein nicht zwingend zu einem Erlassanspruch führt, sondern stets eine Abwägung der widerstreitenden Interessen im Einzelfall vorzunehmen ist (vgl. VGH Hessen, Beschl. v. 18. Juli 2012 - 5 A 293/12.Z -, zit. nach JURIS; VG Köln, Urt. v. 27. August 2014, a.a.O.; wohl auch VGH Hessen, Beschl. v. 13. Juli 2010 - 5 A 1043/10 -; zit. nach JURIS). Soweit der Bundesfinanzhof in einem Kostenbeschluss vom 28. Februar 2012 (- VIII R 2/08 -, zit. nach JURIS) deshalb Zweifel an einem Erlass von Einkommenssteuer auf einen Sanierungsgewinn geäußert hat, weil der Sanierungserlass den Gewinn aus der Sanierung von Unternehmen im Ergebnis weiterhin unter den materiellen Voraussetzungen des § 3 Nr. 66 EStG a.F. nach Maßgabe der dazu ergangenen Rechtsprechung steuerfrei stelle, also außer der Tatsache des sanierungsbedingten Verzichts eines Gläubigers keine weiteren besonderen sachlichen Billigkeitsgründe erforderlich seien, wird diesem Einwand für den Bereich des Gewerbesteuerrechts dadurch Rechnung getragen, dass unabhängig von den Vorgaben des Sanierungserlasses eine einzelfallbezogene Abwägungsentscheidung vorzunehmen ist.

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Im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung ist danach - sofern nicht schon etwaige Erlassentscheidungen der Finanzbehörden einen hinreichenden Ausgleich herbeigeführt haben - auch der Umstand zu berücksichtigen, dass der der Gewerbesteuerbemessung unterliegende Sanierungsgewinn lediglich einen „bilanzierten“ Gewinn darstellt (vgl. VGH Hessen, Beschl. v. 18. Juli 2012, a.a.O.) und die Besteuerung möglicherweise deshalb sachlich unbillig ist, weil es abweichend vom Regelfall an der Möglichkeit (vollständiger oder zeitnaher) ertragsteuerlicher Verrechnung fehlt, etwa durch Untergang von Verlustvorträgen oder steuerlich nicht abzugsfähige Verluste, oder wenn durch anhaltend geringe Einkünfte keinerlei steuerlicher Vorteil durch die Verlustverrechnungsmöglichkeiten eintritt (vgl. VG Köln, Urt. v. 27. August 2014, a.a.O.). In einem solchen Fall dürfte nur ein Erlass der auf den Sanierungsgewinn entfallenden Gewerbesteuer ermessensfehlerfrei sein (vgl. VG Greifswald, Urt. v. 19. März 2013 - 2 A 788/11 -, zit. nach JURIS). Dem entgegenstehen kann zum einen die ausreichende wirtschaftliche Gesundung des betroffenen Unternehmens zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Erlass (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 28. Juli 2014, a.a.O.; Gehm, KStZ 2014, 6, 10). Denn im Grundsatz bleibt nach der gesetzgeberischen Entscheidung trotz einer Einstufung von Sanierungsgewinnen als „bilanzierter“ oder „finanzieller“ Gewinn die Steuerpflicht bestehen (vgl. auch Blümich, EStG, 133. A., § 3 Nr. 66 EStG a.F., Rdnr. 3), und eine zu weitgehende Ermöglichung eines Erlasses würde diese Wertung des Gesetzgebers durchbrechen. Durch die Einbeziehung dieses Gesichtspunktes wird gerade verhindert, dass die Gemeinden eine der gesetzgeberischen Intention zuwiderlaufende Erlassentscheidung treffen. Zum anderen darf die Gemeinde grundsätzlich im Rahmen der Ermessensausübung ihre Haushaltslage berücksichtigen (vgl. VG Köln, Urt. v. 27. August 2014, a.a.O.; a.M.: Krumm, DB 2016, 2714, 2719). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist bei Entscheidungen über einen Billigkeitserlass auch die Haushaltslage des Steuergläubigers angemessen zu berücksichtigen, was dazu führen kann, dass bei dem Erlass von Gemeindesteuern im Einzelfall strengere Anforderungen gestellt werden als bei dem Erlass von Bundes- oder Landessteuern (so BVerwG, Urt. v. 23. August 1990 - 8 C 42.88 -, zit. nach JURIS). Allerdings wird der Haushaltslage nur in Ausnahmefällen eine entscheidende Bedeutung zukommen, wenn nach der zugrunde liegenden Konstellation eigentlich eine sachliche Unbilligkeit gegeben ist.

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In Anbetracht dieser Maßgaben hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, das die konkreten Umstände des Einzelfalles und die Eigenart des Sanierungsgewinns keinen Eingang in die Ermessenserwägungen der Beklagten gefunden hätten. Die Klägerin hat mit ihrem Erlassantrag substanziiert geltend gemacht, dass im Jahr 2010 ein unternehmensbezogener Sanierungsgewinn vorliege. Im Widerspruchsschreiben vom 11. April 2013 hat die Klägerin darüber hinaus erklärt, die wirtschaftliche Situation und die sachlichen Billigkeitsgründe könnten durch ein Sanierungsgutachten weiter untermauert werden. Ungeachtet dessen hat die Beklagte die Ablehnung eines Erlasses ausweislich ihrer auf das Anhörungsschreiben abstellenden Begründung in dem Ausgangsbescheid und der Begründung ihres Widerspruchsbescheides im Ergebnis allein auf die Erwägung gestützt, der Gesetzgeber habe die Steuerbefreiung für Sanierungsgewinne in § 3 Nr. 66 EStG a.F. abgeschafft und damit zum Ausdruck gebracht, die hier in Rede stehenden Sanierungsgewinne seien nicht mehr steuerlich zu begünstigen. Eine hinreichende Sachverhaltsaufklärung und die umfassende Abwägung der verschiedenen Interessen im Einzelfall hat gerade nicht stattgefunden. Eine Ergänzung der Ermessenserwägungen erfolgte weder im Klageverfahren noch im Berufungs(zulassungs)verfahren. Der bloße Hinweis im Klageverfahren, „darüberhinausgehende sachliche Gründe“ habe die Klägerin nicht vorgetragen und diese seien auch nicht ersichtlich, weil insbesondere die Klägerin einen Verlustvortrag zu ihren Gunsten habe berücksichtigen können, stellt schon keine Ergänzung von Ermessenserwägungen dar. Im Übrigen wäre auch eine derartige Ergänzung nicht ausreichend, weil der Verlustvortrag nicht den gesamten Sanierungsgewinn erfasst hat. Entsprechendes gilt für das dahingehende Vorbringen der Beklagten in ihrer Berufungsbegründung.

26

Das Ermessen der Beklagten war auch nicht dahingehend auf Null reduziert, dass nur die Ablehnung des Erlassantrages ermessensgerecht gewesen wäre. Schon auf Grund der Mitteilung des Finanzamtes, wonach nach Verrechnung der bilanzierten Gewinne der Klägerin mit vorhandenen Verlustvorträgen noch überschießende Beträge verblieben und ein Billigkeitserlass der Gewerbesteuer vorzunehmen sei, kann es nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin Anspruch auf Gewährung eines Erlasses wegen sachlicher Unbilligkeit hat.

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2. Eine Ermessensreduzierung auf Null für einen Erlass liegt nicht vor.

28

a) Das Fehlen einer Entscheidungsalternative ist bei Abschluss des gerichtlichen Verfahrens nicht offensichtlich. Das Gericht ist im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO, den Sachverhalt unter Heranziehung der Beteiligten von Amts wegen zu ermitteln, nicht gehalten, auch hinsichtlich der Frage einer Ermessensreduktion auf Null durch eigene Ermittlungen Spruchreife herbeizuführen. Dies gilt in den Fällen eines Billigkeitserlasses, in denen sich eine Ermessensreduktion gerade aus der Billigkeit oder Unbilligkeit der Festsetzung bzw. Einziehung von Steuern ergeben kann, jedenfalls dann, wenn die Behörde nicht die maßgebliche Tatsachengrundlage für die zu treffende Ermessensentscheidung ermittelt hat (vgl. VGH Bayern, Urt. v. 18. Februar 2013 - 10 B 10/1028 -, zit. nach JURIS).

29

Auf Grund der infolge fehlerhafter rechtlicher bzw. tatsächlicher Grundannahmen unvollständig ermittelten Tatsachengrundlage kann nicht hinreichend sicher festgestellt werden, dass die Klägerin Anspruch auf Gewährung eines Erlasses wegen sachlicher Unbilligkeit hat. Das Bestehen eines Sanierungsgewinnes führt allein infolge der Streichung des § 3 Nr. 66 EStG a.F. und des darin - wenn auch unmittelbar nur für Ertragssteuern - zum Ausdruck gekommenen Willens des Gesetzgebers noch nicht zu einer Ermessensreduzierung. Selbst wenn man auf Grund der Mitteilung des Finanzamtes davon ausgeht, dass nach Verrechnung der bilanzierten Gewinne der Klägerin mit vorhandenen Verlustvorträgen noch überschießende Beträge verblieben waren, könnte auf Grund der oben dargelegten zusätzlichen Abwägungsfaktoren, u.a. eine inzwischen eingetretene wirtschaftlichen Gesundung, eine andere Ermessensentscheidung zulässig sein. Dem steht angesichts des Fehlens einer gesetzlichen Regelung zur Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen auch das vom Verwaltungsgericht genannte Prinzip der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit nicht entgegen (vgl. VGH Hessen, Urt. v. 18. Juli 2012, a.a.O.; VG Köln, Urt. v. 27. August 2014, a.a.O.; Gehm, KStZ 2014, 6, 12; a.M.: Buschendorf/Vogel, DB 2016, 676, 680f.; Krumm, a.a.O., S. 2719; Kamps/Weil, FR 2014, 913, 918f.; wohl auch BFH, Vorlagebeschluss v. 25. März 2015, a.a.O.).

30

Auch sind keine Anhaltspunkte für eine abweichende Verwaltungspraxis der Beklagten zur Behandlung von Sanierungsgewinnen (vgl. VG Köln, Urt. v. 27. August 2014, a.a.O.; Kamps/Weil, a.a.O., S. 919) vorgetragen oder ersichtlich, die eine Bindungswirkung für sie entfalten könnte.

31

b) Für eine Erlassbedürftigkeit aus persönlichen Billigkeitsgründen, die vorliegt, wenn die Steuererhebung ihre wirtschaftliche oder persönliche Existenz vernichten oder ernstlich gefährden würde, hat die Klägerin schon nichts geltend gemacht.

32

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

33

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

34

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe vorliegt.


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