Beschluss vom Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken (1. Strafsenat) - 1 Ws 167/20, 1 Ws 174/20, 1 Ws 167/20 - 2 Ws GStA 108/20, 1 Ws 174/20 - 2 Ws GStA 111/20

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der Großen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 11. Mai 2020 aufgehoben, soweit dadurch die mit Beschluss des Landgerichts vom 26. Oktober 2016 gewährte Bewährungsaussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und der Vollstreckung des Rests der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten aus dem Urteil des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 20. Januar 1993 in Verbindung mit dem nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 26. Juli 1996 (1 AR 24/96) widerrufen worden ist.

Die Bewährungsaussetzung der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und der restlichen Freiheitsstrafe wird nicht widerrufen.

2. Der Sicherungsunterbringungsbefehl der Großen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 14. Mai 2020 wird aufgehoben.

Der Verurteilte ist mit sofortiger Wirkung aus der vorläufigen Unterbringung zu entlassen.

Die Beschwerde des Verurteilten gegen den vorbezeichneten Sicherungsunterbringungsbefehl ist dadurch erledigt.

3. Die Kosten der Beschwerdeverfahren trägt die Landeskasse, die dem Verurteilten auch seine dadurch veranlassten notwendigen Auslagen zu erstatten hat.

Gründe

I.

1.

1

Das Landgericht Frankenthal hat den Verurteilten am 20. Januar 1993 wegen gemeinschaftlichen Raubes sowie wegen Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und ihn aufgrund Schuldunfähigkeit i.S.d. § 20 StGB von weiteren Tatvorwürfen freigesprochen. Ferner hat es die Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Der Verurteilung lagen neben einem Betäubungsmitteldelikt und Diebstahlsdelikten mehrere Körperverletzungshandlungen zugrunde, welche der Angeklagte in alkoholisiertem Zustand in Gaststätten begangen hatte. Unter anderem hatte er einen anderen Gast mit der Faust zu Boden geschlagen und diesem mit einem Stiefel ins Gesicht getreten. Zudem hatte er gemeinsam mit einem Mittäter Schmuck aus einem Juweliergeschäft entwendet, wobei der Mittäter der Verkäuferin mit der flachen Hand einen Stoß gegen die Stirn versetzt hatte. Nach den Feststellungen der Strafkammer handelte der Verurteilte dabei jeweils unter dem Einfluss einer schizoaffektiven Psychose, die sein Hemmungsvermögen erheblich beeinträchtigt bzw. völlig aufgehoben hatte. Dem Urteil des Landgerichts ist ferner zu entnehmen, dass der Verurteilte ab seinem Jugendalter immer wieder mit Eigentums- und Vermögensdelikten und Straßenverkehrsdelikten in Erscheinung getreten war. Im Jahr 1989 hatte er zusammen mit seinem Bruder und zwei weiteren Mittätern eine Frau mittels Schlägen und Tritten zur Vornahme sexueller Handlungen genötigt, wofür ihn das Amtsgericht Neustadt an der Weinstraße zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt hatte. Die sachverständig beratene Strafkammer hat ferner festgestellt, dass der Verurteilte an einer erstmals im Jahr 1989 maniform gewordenen bipolaren affektiven Psychose mit maniformen wie auch depressiven Zustandsbildern litt, die zu wiederholten, teils mehrere Monate andauernden Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken führten. Diese Erkrankung überlagerte die bei dem Verurteilten bereits in seiner Kindheit beginnende dissoziale Entwicklung.

2

Mit Beschluss vom 26. Juli 1996 hat das Landgericht Frankenthal (Pfalz) die durch das vorgenannte Urteil verhängten Einzelstrafen sowie die Strafe aus dem (weiteren) Urteil des Landgerichts vom 3. November 1992 (Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten wegen Diebstahls) nachträglich zu einer neuen Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten zurückgeführt. Ferner hat es die Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufrechterhalten.

2.

3

Die Maßregel wurde ab dem 27. August 1993 vollzogen. Mit Beschluss vom 8. Mai 2008 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Landau in der Pfalz die weitere Vollstreckung der Maßregel sowie die Vollstreckung des Restes der Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt, worauf der Verurteilte am 14. Mai 2008 aus der Unterbringung entlassen wurde. Mit am 28. April 2010 rechtskräftig gewordenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer die Bewährungsaussetzung u.a. wegen Weisungsverstößen widerrufen; seit dem 19. Februar 2010 befand sich der Verurteilte – zunächst auf der Grundlage eines Sicherungsunterbringungsbefehls – erneut im Vollzug der Maßregel. Mit Beschluss vom 26. Oktober 2016 – rechtskräftig seit 11. November 2016 – hat die Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung der Maßregel und des Restes der Gesamtfreiheitsstrafe erneut zur Bewährung ausgesetzt. Der Verurteilte wurde einem Bewährungshelfer unterstellt und u.a. angewiesen, absolute Alkohol- und Drogenabstinenz einzuhalten und sich (im Einzelnen näher bestimmte) Abstinenzkontrollen zu unterziehen. Daneben wurde er angewiesen, seine psychiatrische Medikation fortzuführen und seinen Wohnsitz in einer Wohneinrichtung der Pfalzklinik ... zu nehmen und an der dortigen Tagesstruktur teilzunehmen. In den Gründen der Bewährungsentscheidung hat das Landgericht ausgeführt, dass zwar aufgrund des bisherigen Verlaufs der Dauerprobung mit zwei Suchtmittelrückfällen und Missbrauch von Vollzugslockerungen weiterhin davon auszugehen sei, dass der Verurteilte bei einer bedingten Entlassung erneut suchtmittelrückfällig werden und es damit zu einer Verschlechterung des psychischen Zustandsbildes kommen werde, in dessen Folge das Risiko für Straftaten signifikant erhöht sei. Insbesondere sei dann mit Delikten aus dem Bereich der „Beschaffungskriminalität“, insbesondere Eigentums- und Nötigungsdelikten zu rechnen. Im Hinblick auf die Dauer des bisherigen Freiheitsentzuges sei aufgrund der Rechtslage und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Pfälzischen Oberlandesgerichts eine Bewährungsaussetzung zwingend geboten.

4

Nach bis dahin unauffälligen Bewährungsverlauf räumte der Verurteilte im Januar 2019 gegenüber der Heimeinrichtung ein, dass er wieder an Automaten spiele, sich dadurch verschuldet habe und alkoholrückfällig geworden sei. Darüber hinaus wurde der Verurteilte positiv auf Cannabis getestet. Zu diesem Zeitpunkt war der Verurteilte in Abstimmung mit der Heimeinrichtung und dem Bewährungshelfer in ein extern gelegenes Teilhabezentrum umgezogen. Auch in der Folgezeit konsumierte der Verurteilte immer wieder Alkohol und Drogen, wobei er sich im Anschluss auch einmal freiwillig zur Entgiftung auf eine offene Station der Klinik begab. In dem am 14. Oktober 2019 durch die Strafvollstreckungskammer durchgeführten Anhörungstermin gab der Verurteilte an, er habe mittlerweile etwa 5.000 bis 6.000 Euro an Automaten verspielt bzw. für Drogen eingesetzt. Das Geld habe er von Verwandten erhalten. Da diesen bekannt geworden sei, wofür er die Zuwendungen verwendet habe, erhalte er nunmehr weniger. Der Vertreter der Forensischen Institutsambulanz wies auf die unregelmäßige Medikamenteneinnahme des Verurteilten, die häufige Abwesenheit im Teilhabezentrum und die fehlende Tagesstruktur hin, sah jedoch keine Anhaltspunkte für eine über Beschaffungskriminalität hinausreichende Gefährlichkeit des Verurteilten. Am 31. Oktober 2019 berichtete die Forensisch-Psychiatrische Ambulanz über ein erneut positives Drogenscreening. Zudem habe der Verurteilte den Heimvertrag zum nächstmöglichen Termin gekündigt und halte sich zumeist an unbekannten Orten auf. Weiterhin habe er bedrohlich wirkende Andeutungen gegenüber Mitarbeitern des Heimes geäußert und Mitbewohner ohne ersichtlichen Grund bedroht. Am 6. November 2019 wurde der Verurteilte aufgrund eines von der Strafvollstreckungskammer erlassenen Sicherungsunterbringungsbefehls festgenommen. Er befindet sich seither ununterbrochen in der Maßregeleinrichtung. Am 19. November 2019 hat die Strafvollstreckungskammer gem. § 67h StGB die Unterbringung für die Dauer von höchstens drei Monaten wieder in Vollzug gesetzt; mit Beschluss vom 20. Januar 2020 hat sie die Maßnahme um weitere drei Monate verlängert. Die Strafvollstreckungskammer hat den Verurteilten am 11. Mai 2020 zur Frage des Bewährungswiderrufs angehört und mit Beschluss vom selben Tage die Kriseninterventionsmaßnahme für beendet erklärt und die durch Beschluss vom 26. Oktober 2016 bewilligte Vollstreckungsaussetzung der Maßregel und der restlichen Gesamtfreiheitsstrafe widerrufen. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen darauf abgestellt, dass aufgrund des Drogenkonsums des Verurteilten und des Fehlens eines sozialen Empfangsraums mit Diebstählen, auch unter Anwendung von Gewalt, sowie mit Betäubungsmitteldelikten zu rechnen sei. Am 14. Mai 2020 hat die Strafvollstreckungskammer mit Blick auf den Ablauf der Kriseninterventionsmaßnahme einen erneuten Sicherungsunterbringungsbefehl erlassen.

5

Mit am 12. Mai 2020 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz hat der Verteidiger des Verurteilten sofortige Beschwerde gegen den Bewährungswiderruf eingelegt, die darauf zielt, die Erledigung der Maßregel aus Verhältnismäßigkeitsgründen auszusprechen und den Widerruf der Bewährungsaussetzung bezüglich der restlichen Gesamtfreiheitsstrafe aufzuheben. Gegen den ihm am 18. Mai 2020 eröffneten Sicherungsunterbringungsbefehl hat der Verurteilte persönlich im Anhörungstermin Beschwerde eingelegt.

II.

6

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Widerruf der Vollstreckungsaussetzung der Maßregel und der restlichen Gesamtfreiheitsstrafe ist zulässig und begründet. Die Voraussetzungen für einen Bewährungswiderruf liegen (derzeit) nicht vor.

1.

7

Nach § 67g Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB setzt der Widerruf der Vollstreckungsaussetzung einer Unterbringung voraus, dass die verurteilte Person gröblich und beharrlich gegen Weisungen verstößt und sich daraus ergibt, dass der Zweck der Maßregel ihre Unterbringung erfordert. Darüber hinaus widerruft das Gericht die Aussetzung einer Maßregel nach § 63 StGB auch dann, wenn sich während der Dauer der Führungsaufsicht ergibt, dass von der verurteilten Person infolge ihres Zustands rechtswidrige Taten zu erwarten sind und deshalb der Zweck der Maßregel ihre Unterbringung erfordert.

8

Dass aufgrund der beharrlichen Verstöße gegen die ihm erteilte Abstinenz- und Medikationsweisung sowie die mit einer sozialen Desintegration verbundene Kündigung des Heimvertrages die Gefahr besteht, dass der Verurteilte (erneute) Beschaffungstaten begehen wird und dass sein Zustand eine weitere Behandlung erfordern, hat die Strafvollstreckungskammer zutreffend bejaht. Das Erfordernis einer weiteren Behandlung wird letztlich auch vom Verurteilten nicht in Abrede gestellt, nachdem dieser eine stationäre Drogenentwöhnungstherapie anstrebt.

2.

9

Die Entscheidung über den Widerruf der Aussetzung der Unterbringung wird jedoch ebenso wie die Entscheidung über die Fortdauer einer angeordneten und vollzogenen Unterbringung durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bestimmt; es ist daher auch im Rahmen der Widerrufsentscheidung nach § 67g Abs. 1 und 2 StGB eine Abwägung zwischen dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutsverletzungen einerseits und dem Freiheitsanspruch des Verurteilten vorzunehmen. Wie im Rahmen von Fortdauerentscheidungen gilt auch hier, dass, je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bereits vollzogen wurde und der Freiheitsentzug bereits gedauert hat, umso stärkeres Gewicht das Freiheitsgrundrecht im Rahmen der Wertungsentscheidung des Gerichts gewinnt (Hans. OLG Bremen, Beschluss vom 10.12.2019 – 1 Ws 124/19, juris Rn. 14 mit zahlreichen Nachweisen). Der Widerruf der Vollstreckungsaussetzung scheidet aus, wenn aufgrund des in § 67d Abs. 6 S. 1 – 3 StGB kodifizierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Fortdauer der Vollstreckung nicht möglich wäre, weil die vom Verurteilten drohenden Taten zwar die ursprüngliche Maßregelanordnung, angesichts der Dauer der bisherigen Freiheitsentziehung aber nicht deren (erneute) Fortdauer rechtfertigen können (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18.04.2018 – 2 Ws 104/18, juris Rn. 6; zust.: Peglau, jurisPR-StrafR 15/2018 Anm. 2).

3.

10

Nach diesen Grundsätzen steht hier die bisherige Dauer des Freiheitsentzuges von insgesamt mehr als 21 Jahren dem Widerruf der Vollstreckungsaussetzung entgegen.

11

a) Auf der Grundlage der Stellungnahmen der Maßregelvollzugseinrichtung vom 14. April 2020 fehlt es bereits an der sicheren Feststellung einer Gefahr, dass der Verurteilte erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden (§ 67d Abs. 6 S. 3, Abs. 3 S. 1 StGB).

12

aa) Nach der schriftlichen Stellungnahme der Maßregelvollzugseinrichtung vom 14. April 2020 leidet der Verurteilte nach wie vor an einer schizoaffektiven Störung mit Negativ-Symptomen (Antrieb, Affekt, Interessensteigerung, Mangel an zwischenmenschlichem Interesse) sowie einer psychologischen Verhaltensstörung durch multiplen Substanzmissbrauch und Konsum andere psychotroper Substanzen und pathologischem Spielen. Es ist daher zumindest mittelfristig und außerhalb eines hochstrukturierten Systems in Folge der finanziellen Situation des Verurteilten und seines Drogenkonsums mit Diebstählen auch unter Anwendung von Gewalt sowie mit Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu rechnen. Bei (erneutem) Absetzen bzw. Vermindern der antipsychotischen Medikation und/oder unter dem Einfluss von Drogen sind zudem Beleidigungen, Drohungen und körperlichen Auseinandersetzungen zu erwarten. Im Rahmen der Anhörung durch die Strafvollstreckungskammer am 11. Mai 2020 hat der den Verurteilten behandelnde Stationsarzt dies allerding dahingehend konkretisiert, dass der Verurteilte zum Zweck der Finanzierung von Drogenkonsum bzw. Spielsucht erneut Delikte „der bekannten Art“ begehen werde, „also Eigentumsdelikte, auch mit Drohung bzw. Ausübung von Gewalt, allerdings nicht in gravierendem Umfang“.

bb)

13

Soweit weitere Betäubungsmitteldelikte von dem Verurteilten zu erwarten sind, handelt es sich hierbei nicht um Taten, durch die andere Personen körperlich oder seelische schwer geschädigt werden; die bloße Gefahr einer solchen Schädigung reicht bei einem über zehn Jahre andauernden Vollzug nicht aus (Ziegler in BeckOK-StGB, 46. Ed. 01.05.2020, § 67d Rn. 17). Dies gilt umso mehr, als keine Anhaltspunkte für die Annahme ersichtlich sind, dass der Verurteilte über den Erwerb und Besitz zum Eigenkonsum hinaus in größerem Umfang Betäubungsmittelgeschäfte ausführen wird.

14

Die Fortdauer und den Wiederruf ebenfalls nicht rechtfertigen können die vom Verurteilten zu besorgenden Beleidigungs- und Bedrohungsdelikte. Auch insoweit reicht die bloße Möglichkeit, dass das Opfer seelischen Schaden erleidet, nicht aus. Soweit der Verurteilte im Jahr 1989 ein, in seiner Art und seinen Auswirkungen erhebliches, Sexualdelikt begangen hat, wird auch von Seiten der Maßregelvollzugseinrichtung eine Wiederholungsgefahr nicht benannt.

cc)

15

Damit verbleibt es bei der auch aus Sicht des Senats bestehenden Gefahr, dass der Verurteilte im Rahmen von Eigentumsdelikten (Raub, räuberischer Diebstahl) oder zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen erneut Körperverletzungsdelikte begehen wird. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass der der Anlassverurteilung zugrundeliegende Raub mittels einfachster körperlicher Gewalt (Wegstoßen) begangen wurde und körperliche Folgen beim Tatopfer nicht eintraten. Auch im Rahmen der im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen Körperverletzungsdelikten, bei denen es sich hauptsächlich um Kneipenschlägereien gehandelt hat, hat der Verurteilte zumeist mit bloßen Händen zugeschlagen und Hämatome und Prellungen bei den Tatopfern bewirkt, die folgenlos ausheilten. Zwar hat er in einem Fall (Fall II.3 der Gründe des Urteils vom 20. Januar 1993) einem zu Boden geschlagenen Mann mindestens drei Mal mit spitzen Stiefeln ins Gesicht getreten. Auch die hierbei bewirkten Platzwunden und Blutergüsse waren in der Folge bis auf eine kaum sichtbare Narbe folgenlos verheilt. Die Tat war rechtlich als (einfache) Körperverletzung nach § 223 StGB gewertet worden.

16

Einfache Körperverletzungen gem. § 223 StGB, die hinsichtlich der Verletzungsfolgen nicht aus der Masse der in der täglichen Strafverfolgungspraxis nicht herausragen, wie Schürfwunden, Platzwunden, Verstauchungen und kleinere Blutergüsse, reichen zur Annahme einer erheblichen Tat i.S.d. § 67d Abs. 6 S. 3, Abs. 3 S. 1 StGB regelmäßig nicht aus (BT-Drs. 539/15, S. 35). Dass von dem Verurteilten Taten zu erwarten sind, deren Folgen über dieses Ausmaß hinausgehen, steht auf der Grundlage der Anlasstaten einerseits und der Äußerungen der Maßregelvollzugseinrichtung, wonach mit der Ausübung von Gewalt „allerdings nicht in gravierendem Umfang“ zu rechnen sei, andererseits, nicht fest. Letztlich hat sich die im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung bestehende Prognose nicht erheblich verschlechtert. Bereits damals war die Strafvollstreckungskammer davon ausgegangen, dass der Verurteilte bei einer bedingten Entlassung betäubungsmittelrückfällig werden wird und es dadurch zu einer signifikanten Risikoerhöhung im Hinblick insbesondere auf Beschaffungstaten kommen wird. Davon, dass sich aufgrund der Kündigung des Heimvertrages durch den Verurteilten und des dadurch bewirkten Wegfalls eines geeigneten Empfangsraums die schon bei Aussetzung bestehende negative Prognose weiter im Sinne der Begehung gravierenderer (Körperverletzungs-)Delikte verschlechtert hätte, gehen weder die Strafvollstreckungskammer aus, noch wird dies durch die bisherigen Stellungnahmen der Klinik belegt.

17

b) Jedenfalls aber wäre der Widerruf und die damit verbundene Fortdauer des Vollzugs der Maßregel (derzeit) unverhältnismäßig i.S.d. § 67d Abs. 6 S. 1 StGB.

18

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in die Entscheidung über die Aussetzungsreife der Maßregel einzubeziehen (integrative Betrachtung); entsprechendes muss auch bei der Entscheidung über den Widerruf einer bereits ausgesetzten Maßregel gelten, deren Vollzug bereits lang angedauert hat. Das sich daraus ergebende Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsverletzungen verlangt nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Dieser lässt sich für Entscheidungen über die Aussetzung bzw. den Widerruf der Maßregelvollstreckung nur dadurch bewirken, dass Sicherungsbelange und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten als wechselseitiges Korrektiv gesehen und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden. Hält das Vollstreckungsgericht ein Risiko der Begehung weiterer Straftaten bei einem nach § 63 StGB Untergebrachten für gegeben, hat es deshalb die mögliche Gefährdung der Allgemeinheit zu der Dauer des erlittenen Freiheitsentzugs in Beziehung zu setzen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 07.02.2019 – 2 BvR 2406/16, juris Rn. 19 m.w.N.). Diese Abwägung ergibt, dass das Sicherungsinteresse der Allgemeinheit hier nicht gegenüber dem Freiheitsanspruch des Verurteilten überwiegt.

19

Die Maßregel wurde vor der erneuten Aussetzung bereits ca. 21 Jahre, mithin extrem lange vollzogen. Die nach dem Gesetz mögliche Höchststrafe für die dem Anlassurteil zugrundeliegenden Taten (§ 54 Abs. 2 S. 2 StGB: Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren) wäre damit bereits um ca. 1/3, die im Gesamtstrafenbeschluss bestimmte Freiheitsstrafe (3 Jahre und 3 Monate) um mehr als das 6-fache überschritten. Die von dem Verurteilten aufgrund seines Zustandes zu erwartenden Taten liegen im unteren bzw. mittleren Kriminalitätsbereich. Körperverletzungshandlungen erheblichen Ausmaßes mit gravierenden Folgen für das Tatopfer sind nach der Stellungnahme der Maßregelvollzugseinrichtung zwar nicht völlig auszuschließen, jedoch wenig wahrscheinlich. Die Maßregelfortdauer rechtfertigende Straftaten des Verurteilten sind in der Zeit, in der sich der Verurteilte aufgrund der Aussetzung der Vollstreckung in Freiheit befunden hat (Oktober 2016 bis November 2019), trotz des spätestens ab Anfang des Jahre 2019 betriebenen weisungswidrigen Alkohol- und Drogenkonsums, nicht offenbar geworden. Der Verurteilte verfügt aufgrund der Kündigung seines Heimvertrages zwar derzeit nicht über einen hinreichend gesicherten sozialen Empfangsraum. Insoweit ist es aber Aufgabe des ihm bestellten rechtlichen Betreuers, eine für den Verurteilten geeignete Unterkunft zu finden. Den Widerruf und die Fortsetzung eines bereits (extrem) lang andauernden Freiheitsentzugs kann dieser Umstand nicht rechtfertigen.

20

c) Die Voraussetzungen für eine Erledigung der Maßregel liegen derzeit nicht vor. Insoweit besteht kein Vorrang vor der Bewährungsaussetzung der Maßregel (Veh in MünchKomm-StGB, 3. Aufl. 2016, § 67d Rn. 31). Zwar können die derzeit von dem Verurteilten zu erwartenden Straftaten den Widerruf und den erneuten Vollzug der Maßregel nicht rechtfertigen. Der zukünftige soziale Empfangsraum des Verurteilten ist jedoch noch ungeklärt. Die Anlasserkrankung entwickelt sich dynamisch; die Beurteilung ihrer strafrechtlichen Relevanz und der daraus resultierenden Gefährlichkeit des Verurteilten im Hinblick auf erhebliche Straftaten kann sich zukünftig ändern. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Verurteilte erneut in relevantem Umfang psychogene Substanzen konsumiert und/oder die ihm verordneten Medikamente nicht einnimmt. Da somit nicht auszuschließen ist, dass sich während des weiteren Bewährungsverlaufs die Sozialprognose relevant verschlechtert und deutlich erheblichere Taten von dem Verurteilten drohen, ist nicht auszuschließen, dass dann der Widerruf und ein erneuter Vollzug der Maßregel verhältnismäßig sein können.

III.

21

Für den Widerruf der Aussetzung einer neben der Maßregel verhängten restlichen Freiheitsstrafe gelten die vorbeschriebenen Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit entsprechend. Bereits bei der im Rahmen der Aussetzungsentscheidung nach § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB gebotenen Berücksichtigung der individuellen Lebensumstände des Verurteilten kann die Dauer einer Freiheitsentziehung als notwendige Bedingung des Maßregelvollzugs nicht außer Betracht bleiben, auch wenn sie gem. § 67 Abs. 4 StGB auf zwei Drittel der Strafe angerechnet wird (OLG Braunschweig, Beschluss vom 16.05.2017 – 1 Ws 68/17, juris Rn. 36). Nichts anderes kann für die Entscheidung über den Widerruf einer aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ausgesetzten restlichen Freiheitsstrafe gelten.

IV.

22

Weil die Voraussetzungen für einen Widerruf der Aussetzung von Maßregel und restlicher Freiheitsstrafe nicht vorliegen, war der Sicherungsunterbringungsbefehl des Landgerichts aufzuheben. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Verurteilten ist dadurch hinfällig geworden.

V.

23

Die Entscheidung über die Kosten und Auslagen der Beschwerdeverfahren folgt aus entsprechender Anwendung von § 467 StPO.

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