Beschluss vom Verwaltungsgericht Aachen - 7 L 259/20
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gleichen Rubrums 7 K 776/20 gegen die in dem Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 31. März 2020 im Verfahren 7 L 247/20 enthaltene Schließungsanordnung betreffend den Weinhandel „K“, E-Straße 00 in F., wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e
2I.
3Der (sinngemäße) Antrag der Antragstellerin,
4die aufschiebende Wirkung der Klage gleichen Rubrums 7 K 776/20 gegen die in dem Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 31. März 2020 in dem Verfahren 7 L 247/20 enthaltene Schließungsanordnung betreffend den Weinhandel „K“, E-Straße 00 in F., anzuordnen,
5ist zulässig. Er ist insbesondere nach § 80 Abs. 5 Var. 1 VwGO statthaft, da die aufschiebende Wirkung der Klage gegen das auf das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) gestützte Verbot kraft bundesgesetzlicher Regelung gemäß § 28 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG entfällt (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO).
6II.
7Der Antrag ist auch begründet. Die in materieller Hinsicht vorzunehmende Interessenabwägung fällt zugunsten der Antragstellerin aus. Maßgebliches Kriterium innerhalb der Interessenabwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Erweist sich der angefochtene Verwaltungsakt bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, überwiegt das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse. Stellt der Verwaltungsakt sich als offensichtlich rechtmäßig dar, überwiegt in der Regel das Vollzugsinteresse. Lässt sich hingegen bei summarischer Überprüfung eine Offensichtlichkeitsbeurteilung nicht treffen, kommt es entscheidend auf eine Abwägung zwischen den für eine sofortige Vollziehung sprechenden Interessen einerseits und dem Interesse des Betroffenen an einer Aussetzung der Vollziehung bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren andererseits an. Die Erfolgsaussichten sind dabei auch unabhängig von einer fehlenden Offensichtlichkeit einzubeziehen. Je höher diese sind, umso größer ist das Interesse an der aufschiebenden Wirkung. Sind die Erfolgsaussichten demgegenüber gering, fällt das Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts stärker ins Gewicht.
8Gemessen daran überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin das öffentliche Vollziehungsinteresse der Antragsgegnerin.
91.) Als offensichtlich rechtswidrig erweist sich die Schließungsanordnung nicht in Bezug auf die Ermächtigungsgrundlage.
10a) Es bedarf einer Ermächtigungsgrundlage. Bei der Schließungsanordnung handelt es sich um einen belastenden Verwaltungsakt. Der Verwaltungsakt-Charakter kann ihr nicht mit dem Argument abgesprochen werden, dass es an einer Regelung fehlt. Das wäre nur dann zu bejahen, wenn der Betrieb des Einzelhandelsgeschäfts der Antragstellerin bereits durch die Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin vom 16. März 2020 in der Fassung vom 18. März 2020 bzw. durch die Verordnung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzverordnung – CoronaSchVO) vom 22. März 2020 (GV. NRW. S. 178a) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 30. März 2020 (GV. NRW. S. 201) untersagt wäre. Es spricht vieles dafür, dass dies nicht der Fall ist. Die auf den Erlassen des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales vom 15 und 17. März 2020 beruhende Allgemeinverfügung erlaubt unter Ziffer II.3. explizit die Fortführung des Einzelhandels für Lebensmittel. § 2 Abs. 2 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuchs (Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch – LFGB) verweist zur Definition des Begriffs Lebensmittel auf Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Danach sind alle Stoffe oder Erzeugnisse erfasst, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unvorbereitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden. Dazu zählen gemäß Art. 2 (Abs. 2) VO (EG) Nr. 178/2002 auch Getränke. Es ist demgemäß nicht zweifelhaft, dass Wein – das Hauptprodukt des Einzelhandels der Antragstellerin – als Lebensmittel einzustufen ist. Da die Allgemeinverfügung den Begriff „Lebensmittel“ übernimmt, ohne ihn näher einzugrenzen, indem etwa auf die für die Grundversorgung notwendigen Lebensmittel abgestellt wird, liegt es nahe, ihn auch in diesem nicht eingeschränkten Sinne zu verstehen. Nichts anderes gälte dann für die Coronaschutzverordnung. Für diese Lesart spricht auch, dass das Ministerium selbst als Urheber der Erlasse bzw. der Verordnung gegenüber der Bezirksregierung Köln klargestellt hat, dass Einzelhandelsgeschäfte für Genussmittel durch § 5 Abs. 1 Nr. 1 CoronaSchVO gedeckt seien, da diese Regelung keine Einschränkungen auf z.B. „dringend erforderliche Lebensmittel des täglichen Bedarfs“ oder nach der Größe des Geschäfts beinhalte (vgl. E-Mail der Bezirksregierung Köln an das Ordnungsamt der Antragsgegnerin vom 23. März 2020). Eine telefonische Nachfrage der Kammer bei dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat ergeben, dass es diese Sichtweise tatsächlich vertritt (Telefonat am 31. März 2020 mit dem für das Gesundheitsrecht zuständigen Referatsleiter LMR Dr. P). Dass diese Auslegung auch mit dem Sinn und Zweck der Erlasse bzw. der CoronaSchVO in Einklang zu bringen ist, folgt für das Ministerium daraus, dass § 5 CoronaSchVO explizite Hygieneanforderungen für geöffnete Läden aufgestellt hat (vgl. o.a. E-Mail). Die Antragsgegnerin hat sich in der Allgemeinverfügung an den seinerzeit geltenden Erlassen orientiert und auch den Begriff des Lebensmittels ohne Modifizierung übernommen. Dass es ihn, wie sie nunmehr dargelegt hat, enger versteht, wird an keiner Stelle der Allgemeinverfügung deutlich. Daran muss sie sich nun festhalten lassen.
11Vor dem Hintergrund der nunmehr bekannten Auslegung des Begriffs „Lebensmittel“ durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen hält die Kammer auch an ihrem ursprünglichen Verständnis in dem Beschluss vom 21. März 2020 in dem Verfahren 7 L 235/20 nicht mehr fest.
12b) Die danach erforderliche Ermächtigungsgrundlage ist in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG zu sehen. Nach dieser Vorschrift trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Diese Norm verpflichtet die zuständige Behörde bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen zum Einschreiten (gebundene Entscheidung). Sie ist dabei, wohl entgegen der Ansicht der Antragstellerin, nicht auf ein Vorgehen gegen den Kranken, Krankheits- oder Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheider beschränkt, wie die zweite Tatbestandsalternative des Satzes 1, aber auch die Gesetzesbegründung zum Bundesseuchengesetz als Vorgänger des IfSG klar belegt.
13Vgl. Begründung des Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drucks. 8/2468 vom 15. Januar 1979, S. 27 zu §§ 34 und 35: Die Maßnahmen könnten vor allem nicht nur gegen die in Satz 1 (neu) Genannten, also gegen Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige usw. in Betracht kommen, sondern auch gegenüber „Nichtstörern“.
14Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen – „Wie“ des Eingreifens – ist der Behörde Ermessen eingeräumt. Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um "notwendige Schutzmaßnahmen" handeln muss, nämlich Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-) Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt.
15Vgl. BVerwG, Urteil vom 22.03.2012 – 3 C 16.11 –, juris Rn. 23.
16Soweit die Antragstellerin geltend macht, die Anordnung könne nicht auf § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG gestützt werden, ist zu konstatieren, dass die Antragsgegnerin sich nicht auf den Satz 2 berufen, sondern allgemein den Abs. 1 angeführt hat. Bei § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG handelt es sich um eine Generalklausel –
17vgl. BVerwG, Urteil vom 22.03.2012 – 3 C 16/11 –, juris Rn. 24; VG Hannover, Beschluss vom 27.03.2020 – 15 B 1968/20 –, juris Rn. 10 –
18die auch hier Platz greift. Der Begriff der „Schutzmaßnahmen“ ist umfassend und eröffnet der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum an geeigneten Schutzmaßnahmen.
19Vgl. BayVGH, Beschluss vom 30.03.2020 – 20 CS 20.611 –, juris Rn. 11 ff. m.w.N.
202.) Auch in Bezug auf die formelle Rechtmäßigkeit bestehen keine durchgreifenden Bedenken, die eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach sich zögen. Zwar ist die Antragstellerin vor Erlass der Schließungsanordnung nicht gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG NRW angehört worden. Eine Anhörung war auch nicht nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG entbehrlich. Insbesondere greift vorliegend nicht § 28 Abs. 2 Nr. 1 Var. 1 VwVfG NRW Platz. Danach kann von der Anhörung abgesehen werden, wenn eine Entscheidung wegen Gefahr im Verzug notwendig erscheint. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt. Eine Anhörung kann auch fernmündlich erfolgen.
21Vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Auflage 2019, § 28 Rn. 39 m.w.N.
22Es ist nicht ersichtlich, dass das nicht möglich gewesen wäre und der Antragstellerin auch eine kurze Frist zur Stellungnahme hätte eingeräumt werden können. Allerdings hatte die Antragstellerin im Rahmen des gerichtlichen (Eil-)Verfahrens Gelegenheit, sich zu der Schließungsanordnung zu äußern, wie auch mit Schriftsatz vom 01. April 2020 geschehen. Selbst wenn man das nicht als ausreichend erachten wollte -
23vgl. in diesem Zusammenhang BVerwG, Urteil vom 17.12.2015 – 7 C 5/14 –, juris Rn. 17: Heilung trete nur ein, wenn die Anhörung ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht werde. Diese Funktion bestehe nicht allein darin, dass der Betroffene seine Einwendungen vorbringen kann und diese von der Behörde zur Kenntnis genommen werden, sondern schließe vielmehr ein, dass die Behörde ein etwaiges Vorbringen bei ihrer Entscheidung in Erwägung ziehe –
24ist die Regelung des § 45 Abs.1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG NRW in den Blick zu nehmen. Danach kann die erforderliche Anhörung eines Beteiligten bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden.
253.) Allerdings ist die Schließungsanordnung vom 31. März 2020 in materieller Hinsicht offensichtlich rechtswidrig.
26a) Dass bereits zuvor eine Schließungsanordnung ergangen war und dieser Umstand nunmehr dem Erlass einer erneuten Schließungsanordnung entgegensteht, bezweifelt die Kammer. Die Antragsgegnerin hat in ihrer Erwiderung vom 31. März 2020 in dem Eilverfahren 7 L 247/20 klargestellt, dass die Mitarbeiter des Ordnungsamtes lediglich den Auftrag hatten, die betroffenen Einzelhändler auf den Inhalt der seinerzeit geltenden Allgemeinverfügung hinzuweisen, nicht aber mündlich Schließungsanordnungen zu erlassen. Soweit die Antragstellerin auf den Vermerk der Antragsgegnerin vom 27. März 2020 verweist, wonach auch die Antragstellerin zur Schließung der Filiale E-Straße 00 „aufgefordert“ worden sei, lässt sich dies zwanglos als Aufforderung verstehen, der Allgemeinverfügung Folge zu leisten. Das gilt auch für die telefonische Aussage gegenüber einer Mitarbeiterin der Antragstellerin, sie müsse sofort schließen. Wie diese Aussagen in der Laiensphäre eingestuft worden sind, ist demgegenüber nicht von Belang.
27b) Es bedarf keiner eingehenden Prüfung, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG für eine über die Restriktionen der seinerzeit geltenden Allgemeinverfügung bzw. der CoronaSchVO hinausgehende Regelung gegeben sind.
28Im Ausgangspunkt bestehen keine Zweifel daran, dass es sich bei der Erkrankung SARS-CoV-2 um eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG handelt, so dass der Anwendungsbereich des 5. Abschnitts des IfSG, der sich mit der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten befasst, eröffnet ist.
29Vgl. zu der Erkrankung die Angaben des Robert-Koch-Instituts https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/nCoV.html (Abruf am 02. April 2020).
30Wenn für bestimmte Krankheiten wie Masern oder Lungenpest spezielle Vorschriften in das IfSG aufgenommen wurden, so bedeutet das keineswegs, dass eine neuartige bzw. neuerdings auf den Menschen übergegangene Infektionskrankheit von dem bereits im Wortlaut notwendigerweise weit weitgefassten Anwendungsbereich des Gesetzes ausgeschlossen wäre.
31Vgl. VG Hannover, Beschluss vom 27.03.2020 – 15 B 1968/20 –, juris Rn. 12; VG Bayreuth, Beschluss vom 11.03.2020 – B 7 S 20.223 –, juris Rn. 48; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 22.03.2020 – 1 B 17/20 –, juris Rn. 7 f.
32Ferner ist im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin eine Vielzahl an unter SARS-CoV-2 erkrankten Personen festgestellt. Am 02. April 2020 waren 1.081 bestätigte Coronafälle in der StädteRegion Aachen und davon 555 Fälle in der Stadt Aachen registriert.
33Vgl. https://www.staedteregion-aachen.de/de/navigation/aemter/oeffent-lichkeitsarbeit-s-13/aktuelles/pressemitteilungen/aktuelle-pressemitteilungen/coronavirus/ (Aufruf am 02. April 2020).
34Mit großer Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass sich unerkannt eine hohe Dunkelziffer an weiteren Personen infiziert hat.
35Im landesweiten Vergleich anhand der Anzahl laborbestätigter SARS-CoV-2-Fälle zeigt sich überdies, dass die Antragsgegnerin mit 974 laborbestätigten Fällen gemäß § 11 IfSG überdurchschnittlich stark belastet ist.
36Vgl. https://www.lzg.nrw.de/_php/login/dl.php?u=/_media/pdf/inf_schutz/ laborbest_faelle_sars-cov-2.pdf (Aufruf am 02. April 2020).
37Ob auf dieser Grundlage in Bezug auf das Ladengeschäft der Antragstellerin eine konkrete Gefahr i.S.d. § 13 Satz 2 CoronaSchVO anzunehmen ist und nicht lediglich eine abstrakte Gefahr, wie die Antragstellerin meint, kann hier offenbleiben.
38c) Die Schließungsanordnung erweist sich allerdings offensichtlich als unbestimmt. Die hinreichende Bestimmtheit eines Verwaltungsaktes i.S.d. § 37 Abs. 1 VwVfG NRW erfordert, dass für den Adressaten der Inhalt der Regelung so vollständig, klar und unzweideutig erkennbar sein muss, dass er sein Verhalten danach richten kann.
39Vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 20. Auflage 2019, § 37 Rn. 5 m.w.N.
40Daran fehlt es hier. Mit der Schließungsanordnung wird der Antragstellerin aufgegeben, ihren Weinhandel in der E-Straße 00 in F. für Kunden zu schließen. Im Wege der Auslegung, insbesondere aufgrund der Ortsangabe, ergibt sich zwar unschwer, dass damit die Schließung des Ladenlokals gemeint ist. Allerdings erlaubt § 5 Abs. 4 Satz 2 CoronaSchVO bei untersagten Verkaufsstellen des Einzelhandels ausdrücklich die Abholung bestellter Waren durch Kunden, wenn sie unter Beachtung von Schutzmaßnahmen vor Infektionen kontaktfrei erfolgen kann. Die streitgegenständliche Schließungsanordnung lässt nicht erkennen, ob im Falle der Antragstellerin auch das untersagt sein soll. Zweifel daran, dass das tatsächlich gewollt ist, ergeben sich aus dem Umstand, dass der Kammer kein einziger weiterer Fall bekannt ist, in dem die Abholung bestellter Waren durch die Antragsgegnerin untersagt worden ist. Zudem ist in dem Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 31. März von „Abholungsmöglichkeiten“ die Rede. Das ändert freilich nichts daran, dass der Tenor der Schließungsanordnung diese Möglichkeit gerade nicht einräumt. Die daraus resultierende Unsicherheit ist insbesondere mit Blick auf die (erhebliche) Bußgeldbewehrung durch § 16 CoronaSchVO nicht hinnehmbar.
41d) Der wesentliche Fehler der Schließungsanordnung besteht in der fehlenden Befristung. Das ist offensichtlich unverhältnismäßig: § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG erteilt die Befugnis, Schutzmaßnahmen zu treffen, ausdrücklich „soweit und solange“ es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. In Bezug auf die seinerzeit geltende Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin vom 16. März 2020 in der Fassung vom 18. März 2020 ergab sich denn auch zumindest aus dem Gesamtkontext, dass die Schließung von Geschäften zeitlich befristet bis zum 19. April 2020 galt. Die zeitliche Begrenzung der Maßnahmen aufgrund der CoronaSchVO ergibt sich aus § 17 CoronaSchVO, wonach diese mit Ablauf des 19. April 2020 außer Kraft tritt. An einer vergleichbaren Regelung fehlt es hier. Sie kann auch nicht im Wege der Auslegung ermittelt werden: Soweit zur Begründung der Schließungsanordnung ausgeführt wird, eine Lockerung könne erst bei einem „nachhaltigen Rückgang der Infektionssteigerungsrate“ erfolgen, ist derzeit völlig unklar, wann nach Einschätzung der Antragsgegnerin ein „nachhaltiges“ Sinken der Infektionssteigerungsrate anzunehmen sein wird. Denn welchen Rückgang die Antragsgegnerin für nachhaltig hält, ist völlig offen. Auch die Einleitung auf Seite 4 des Schriftsatzes der Antragsgegnerin vom 31. März 2020 in dem Verfahren 7 L 247/20, die Anordnung werde „rein vorsorglich“ erlassen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Diese Formulierung ließe sich zwar möglicherweise so verstehen, dass die Schließungsanordnung an die Stelle der Allgemeinverfügung treten soll. Das hilft aber nicht weiter, was die Frage der Befristung angeht. Denn die Schließungsanordnung ist erlassen worden, um inhaltlich über das Verbot der Allgemeinverfügung bzw. der Rechtsverordnung hinauszugehen. Demgemäß lässt sich nicht sicher sagen, ob die Antragsgegnerin nicht auch zeitlich strengere Vorgaben für geboten erachtet. Darauf deutet jedenfalls der Verweis auf das Erfordernis eines „nachhaltigen Rückgangs“ der Infektionssteigerungsraten hin. So aber hat die Antragstellerin keine klare Perspektive, wann es zur Aufhebung der Schließungsanordnung kommen könnte. Es mag sein, dass die derzeit geltenden generellen Beschränkungen über den 19. April 2020 hinaus verlängert werden, weil das aus Gründen des Gesundheitsschutzes für erforderlich erachtet wird. Die Schließung eines Lebensmitteleinzelhandels auf unbestimmte Zeit und damit in letzter Konsequenz dauerhaft rechtfertigt das aber sicher nicht.
42In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die Behörden bei der Verlängerung oder bei weiteren Anordnungen von Geschäftsschließungen mit fortschreitender Zeitdauer eine vertiefte Prüf- und Rechtfertigungsverpflichtung unter dem Gesichtspunkt, ob die angeordneten Maßnahmen weiterhin „notwendig“ i.S.d. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG und damit (noch) verhältnismäßig sind.
43Vgl. BayVGH, Beschluss vom 30.03.2020 – 20 CS 20.611 –, juris Rn. 25.
44Die diesbezüglichen Rechtsschutzmöglichkeiten dürfen nicht dadurch verkürzt werden, dass ein zeitlich unbefristeter Verwaltungsakt erlassen wird, der nach Eintritt der Bestandskraft – hier mangels Rechtsbehelfsbelehrung gemäß § 58 Abs. 2 VwGO allerdings erst nach einem Jahr – nur noch ganz eingeschränkt zur Überprüfung gestellt werden könnte.
45Lediglich ergänzend ist anzumerken, dass es im Rahmen der Verhältnismäßigkeit unter dem Aspekt der Erforderlichkeit auch an einer Auseinandersetzung mit dem oben bereits dargelegten Standpunkt des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales fehlt, dass das Ziel, die weitere Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, bei Lebensmittelläden auch durch Einhaltung der Hygieneanforderungen des § 5 CoronaSchVO erreicht werden könnte.
46Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Von einer Reduzierung des Betrags im Eilverfahren (vgl. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs der Verwaltungsgerichtsbarkeit) hat die Kammer abgesehen, weil die Entscheidung im Eilverfahren in ihrer Bedeutung dem Hauptsacheverfahren entspricht.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- 7 L 235/20 1x (nicht zugeordnet)
- § 5 CoronaSchVO 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 80 2x
- VwVfG § 28 Anhörung Beteiligter 3x
- 15 B 1968/20 2x (nicht zugeordnet)
- 7 K 776/20 2x (nicht zugeordnet)
- 3 C 16/11 1x (nicht zugeordnet)
- IfSG § 2 Begriffsbestimmungen 1x
- 1 B 17/20 1x (nicht zugeordnet)
- § 13 Satz 2 CoronaSchVO 1x (nicht zugeordnet)
- IfSG § 28 Schutzmaßnahmen 6x
- § 17 CoronaSchVO 1x (nicht zugeordnet)
- 7 L 247/20 4x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 58 1x
- § 5 Abs. 1 Nr. 1 CoronaSchVO 1x (nicht zugeordnet)
- § 5 Abs. 4 Satz 2 CoronaSchVO 1x (nicht zugeordnet)
- VwVfG § 37 Bestimmtheit und Form des Verwaltungsaktes; Rechtsbehelfsbelehrung 1x
- IfSG § 16 Allgemeine Maßnahmen der zuständigen Behörde 1x
- IfSG § 11 Übermittlung an die zuständige Landesbehörde und an das Robert Koch-Institut 1x
- §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG 2x (nicht zugeordnet)
- VwVfG § 45 Heilung von Verfahrens- und Formfehlern 1x
- § 16 CoronaSchVO 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- 7 C 5/14 1x (nicht zugeordnet)