Urteil vom Verwaltungsgericht Aachen - 7 K 174/21
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
T a t b e s t a n d
2Der Kläger begehrt mit der Klage die Ungültigkeitserklärung der Wahl zur Vertretung der Beklagten und zur Wahl eines Bürgermeisters sowie die Anordnung einer Wiederholungswahl betreffend die Kommunalwahlen 2020.
3Den konkreten Wahltermin für die Kommunalwahlen 2020 bestimmte das Ministerium des Innern mit Bekanntmachung vom 04. September 2019 (MBl. NRW. 2019 S. 494) auf den 13. September 2020 (vgl. § 14 Abs. 1 Satz 2 KWahlG NRW). Mit elektronischer Rundunterrichtung vom 19. März 2020 – B. 00-00-00 – unterrichtete das Ministerium des Innern die Kreise und Bezirksregierungen darüber, dass am Termin der Kommunalwahl vorläufig festgehalten werde. Diese Entscheidung wurde mit weiterem Erlass vom 20. Mai 2020 – B. 00-00.0000 – bestätigt. In dem Erlass waren ferner Hinweise u. a. zur Durchführung der Aufstellungsversammlungen und zur Sammlung ggf. notwendiger Unterstützungsunterschriften enthalten.
4Am 3. Juni 2020 trat das Gesetz zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020 (GV. NRW. S. 379) in Kraft. Mit diesem reagierte der Landesgesetzgeber auf mögliche Auswirkungen der Corona-Krise auf die im Herbst 2020 anstehenden Kommunalwahlen. Die Wahlvorschlagsträger - Parteien, Wählergruppen und Einzelbewerber - würden bei der Vorbereitung ihrer Wahlteilnahme durch die seit März 2020 geltenden Kontaktbeschränkungen tangiert. Obwohl Versammlungen zur Aufstellung von Bewerbern zu keiner Zeit rechtlich untersagt gewesen seien, ließen sich in der Praxis Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen auf die Durchführung der Aufstellungsversammlungen und die daran anknüpfende Sammlung von Unterstützungsunterschriften nicht ausschließen (vgl. LT-Drs. 17/9365, S. 1). Anknüpfend daran wurde durch § 6 des Gesetzes zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020 bestimmt, dass abweichend von § 15 Abs. 1 Satz 1 KWahlG NRW Wahlvorschläge bis zum 48. Tag vor der Wahl (hier: 27. Juli 2020), 18 Uhr, beim Wahlleiter eingereicht werden können. Ferner wurde die Anzahl der notwendigen Unterstützungsunterschriften u. a. für Wahlvorschläge für das Bürgermeisteramt gesenkt. Diese mussten danach von dreimal, für die Wahl in Gemeinden mit bis zu 10.000 Einwohnern von mindestens zweimal so vielen Wahlberechtigten persönlich und handschriftlich unterzeichnet sein, wie die Vertretung Mitglieder hat (vgl. § 13 des Gesetzes zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020).
5Mit der - inzwischen mehrfach geänderten und neugefassten - Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzver- Ordnung - CoronaSchVO) vom 22. März 2020 (GV. NRW. 2020 S. 178a) traten umfangreiche Beschränkungen des öffentlichen Lebens in Kraft. Insbesondere waren - mit gewissen Ausnahmen - Zusammenkünfte und Ansammlungen im öffentlichen Raum von mehr als zwei Personen, ab dem 11. Mai 2020 von Angehörigen von mehr als zwei Haushalten untersagt. Seit dem 30. Mai 2020 durften sich wieder maximal zehn Personen treffen. Ferner bestand zunächst ein grundsätzliches Verbot von Veranstaltungen und Versammlungen. In der Fassung der Coronaschutzverordnung vom 22. März 2020 waren gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 davon lediglich Veranstaltungen ausgenommen, die der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der Daseinsfür- und -vorsorge (insbesondere Blutspendetermine) zu dienen bestimmt waren. Die Fassung der Coronaschutzverordnung vom 16. April 2020 (GV. NRW. 2020 S. 222a) nannte als weiteres Beispiel dieser Art von Veranstaltungen („insbesondere") die Aufstellungsversammlungen zur Kommunalwahl. Nach § 11 Abs. 5 Satz 1 CoronaSchVO in der ab dem 4. Mai 2020 (GV. NRW. 2020 S. 333b) geltenden Fassung waren Veranstaltungen und Versammlungen zulässig, die der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der Daseinsfür- und -vorsorge (insbesondere Aufstellungsversammlungen zur Kommunalwahl und Vorbereitungsversammlungen dazu sowie Blutspendetermine) zu dienen bestimmt waren, sowie Sitzungen von rechtlich vorgesehenen Gremien öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Institutionen, Gesellschaften, Parteien und Vereine. In der seit dem 11. Mai 2020 (GV. NRW. 2020 S. 340a) geltenden Fassung sah die Coronaschutz-Verordnung ferner als zulässige Veranstaltungen und Versammlungen, die der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der Daseinsfür- und -vorsorge zu dienen bestimmt sind, auch politische Veranstaltungen von Parteien vor (vgl. § 13 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 CoronaSchVO). Mit Änderungsverordnung vom 15. Mai 2020 (GV. NRW. 2020 S. 340d) wurde § 13 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 CoronaSchVO dahingehend ergänzt, dass „politische Veranstaltungen von Parteien einschließlich Wahlkampfständen" ausdrücklich als zulässig deklariert waren. Seit dem 15. Juni 2020 waren lediglich noch große Festveranstaltungen verboten (§ 13 Abs. 4 Satz 1 CoronaSchVO in der Fassung vom 10. Juni 2020, GV. NRW. 2020 S. 382). Bei Veranstaltungen und Versammlungen mit bis zu 100 Teilnehmern waren - vorbehaltlich spezieller Regelungen in der Verordnung - geeignete Vorkehrungen zur Hygiene, zur Steuerung des Zutritts und zur Gewährleistung eines Mindestabstands von 1,5 m sicherzustellen (§ 13 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO), Veranstaltungen und Versammlungen mit mehr als 100 Teilnehmern bedurften demgegenüber eines besonderen Hygiene- und Infektionsschutzkonzepts (§ 13 Abs. 2 CoronaSchVO).
6Am 27. Juli 2020 schlug sich der Kläger als Selbstbewerber für die Wahl des Bürgermeisters vor. Dem Vorschlag waren 20 Unterstützungsunterschriften beigefügt.
7In seiner Sitzung vom 28. Juli 2020 zur Prüfung und Entscheidung über die Zulassung der eingereichten Wahlvorschläge beschloss der Wahlausschuss, den Kläger als Einzelbewerber nicht zur Wahl des Bürgermeisters zuzulassen. Zur Begründung hieß es in der diesbezüglichen Niederschrift, es seien nicht die geforderten 114 Unterstützungsunterschriften gesammelt worden.
8Nach Durchführung der Wahl am 13. September 2020 stellte der Wahlausschuss in seiner Sitzung vom 17. September 2020 das Ergebnis zur Wahl der Vertretung der Beklagten und die Zuteilung der Sitze fest. Er stellte ferner fest, dass die Kandidatin E. S. zur Bürgermeisterin gewählt worden ist.
9Am 25. September 2020 legte der Kläger beim Wahlleiter der Beklagten Einspruch gegen die Kommunalwahlen am 13. September 2020 ein. Er bemängelte eine deutliche Benachteiligung durch den Erlass des Ministeriums der Innern vom 21. Mai 2020 in Gestalt der Quorums-Regelung und dessen willkürliche und ganz realitätsferne Festlegung. Auch die reduzierte Quorums-Vorgabe habe einen der Situation völlig unangebrachten Kompromiss dargestellt. Ein gutes weiteres Dutzend an Wahlbewerbern sei ausgeschlossen worden, weil das Quorum nicht habe erfüllt werden können. Ferner beanstandete er Unregelmäßigkeiten bei der Wahlhandlung. Vor mehreren Wahllokalen hätten sich bei übermäßig warmem Wetter Schlangen gebildet. Dies habe dazu geführt, dass in der Schlange wartende Wähler die Geduld verloren hätten und gegangen und damit der Wahl ferngeblieben seien. Coronabedingt sei überdies die Möglichkeit zur Kontrolle bei der Auszählung von Wahlbezirken eingeschränkt gewesen.
10In seiner Sitzung vom 24. November 2020 beschloss der Wahlprüfungsausschuss der Beklagten, dem Rat zu empfehlen, die Wahl zur Vertretung der Stadt H. vom 13. September 2020 und die Wahl zum Bürgermeister der Stadt H. für gültig zu erklären.
11Am 17. Dezember 2020 erklärte der Rat der Beklagten daraufhin die Wahl zur Vertretung der Beklagten vom 13. September 2020 und die Wahl zum Bürgermeister für gültig.
12Hierüber wurde der Kläger mit Schreiben vom 18. Dezember 2020 informiert; seinem Einspruch sei der Rat der Beklagten nicht gefolgt. Das Schreiben wurde ihm ausweislich der Postzustellungsurkunde am 23. Dezember 2020 zugestellt (Niederlegung).
13Der Kläger hat am 23. Januar 2021 Klage erhoben. Er macht geltend: Die Beklagte habe im Rahmen der coronabedingten Erlasse und Folgeerlasse bewusst eine Verzögerung zum Nachteil von Einzelbewerbern und kleineren Parteien betrieben, um mögliche Bewerber seiner Kategorie auszuschließen. Sie habe es versäumt, die Wahlbewerber umgehend und umfassend zu informieren, was zur Folge gehabt habe, dass seine – des Klägers – Anfragen etwa bei dem kommunalen Wahlamt negativ oder aufschiebend beantwortet worden seien. So wären Versammlungen unter Einhaltung der Hygienevorgaben und weiterer coronabedingter Anforderungen durchaus zulässig gewesen. Er sei auch gesundheitlich massiv eingeschränkt gewesen und habe aufgrund einer bereits im November 2019 zugezogenen Sprunggelenkentzündung und einer älteren Herzmuskelerkrankung in der vom Gesetzgeber als ausreichend empfundenen Verlängerungszeit unmöglich die erforderlichen Kontakte mit Gehhilfen erlaufen können. Er sei auch nicht in Altenheime und ähnliche Einrichtungen eingelassen worden. Es sei zudem grundsätzlich klärungsbedürftig, ob durch Erlass die gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich des zu erfüllenden Quorums geändert werden dürften.
14Zu seinem weiteren Vorbringen weist die Kammer auf die Ausführungen in der Klageschrift vom 20. Januar 2021 und in dem Schriftsatz vom 14. Februar 2021 Bezug genommen.
15Der Kläger beantragt,
16die Beklagte unter Aufhebung des Beschlusses des Rates der Beklagten vom 17. Dezember 2020 zu verpflichten, die Wahl zur Vertretung der Beklagten und die Wahl zum Bürgermeister der Beklagten für ungültig zu erklären sowie eine Wiederholungswahl anzuordnen.
17Die Beklagte beantragt,
18die Klage abzuweisen.
19Sie trägt vor, der Vorwurf entbehre jeglicher Grundlage, sie habe bewusst eine Verzögerung zum Nachteil von Einzelbewerbern betrieben, um Bewerber dieser Kategorie auszuschließen. Es liege in der Eigenverantwortung jedes potentiellen Wahlbewerbers, sich über die aktuelle Gesetzeslage und die Voraussetzungen für eine zulässige Wahlbewerbung zu informieren. Die Kommunen seien hier nach bestem Wissen und Gewissen bei Rückfragen behilflich. Dies sei auch hier so gewesen. Entgegen der Darstellung des Klägers seien zu keiner Zeit „zusätzliche weitere und schwere Hürden“ über die gesetzlich normierten Anforderungen hinaus aufgebaut worden. Die grundsätzlichen Bedenken gegen das Erfordernis zur Vorlage von Unterstützungsunterschriften habe bereits der Verfassungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 25. August 2020 gewürdigt.
20Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
21E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
22Die Kammer kann ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (§§ 101 Abs. 2, 87 Abs. 2 und 3 VwGO).
23Die Klage keinen Erfolg.
24I.
25Sie ist zwar zulässig.
26Die auf Ungültigkeitserklärung der Wahl zur Vertretung der Beklagten und zur Wahl eines Bürgermeisters sowie die Anordnung einer Wiederholungswahl gerichtete Klage ist als Verpflichtungsklage statthaft, weil sie auf die Verpflichtung zum Erlass eines rechtsgestaltenden Verwaltungsakts in Form der Wahlprüfungsentscheidung gerichtet ist.
27Vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Juni 2016 – 15 A 816/15 –, juris Rn. 30, und Urteil vom 22. Februar 1991 – 15 A 1518/90 –, Rn. 3 f. m.w.N.; VG Aachen, Urteil vom 27. Mai 2010 – 4 K 90/10 –, juris Rn. 29 f. m.w.N.
28Der Kläger ist auch gemäß § 42 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 41 Abs. 1 Satz 1 KWahlG NRW klagebefugt, da er als Wahlberechtigter einspruchsberechtigt ist (vgl. § 39 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. KWahlG NRW). Insbesondere hat er zuvor gegen die Gültigkeit der Wahlen am 13. September 2020 form- und fristgerecht binnen eines Monats nach der öffentlichen Bekanntmachung des Wahlergebnisses am 25. September 2020 beim Wahlleiter (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 1 KWahlG NRW) Einspruch erhoben (vgl. § 39 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. und S. 2, Abs. 2 KWahlG NRW i.V.m. §§ 63, 83 Abs. 3 bis 5 KWahlO NRW). Gemäß § 40 Abs. 1 lit. d KWahlG NRW hat der Rat der Beklagten die Wahl zur Vertretung der Beklagten und die Wahl zum Bürgermeister mit Beschluss vom 17. Dezember 2020 für gültig erklärt. Ein Vorverfahren hat nach § 41 Abs. 1 Satz 3 KWahlG zutreffend nicht stattgefunden; die Klagefrist des § 41 Abs. 1 Satz 1 KWahlG i.V.m. § 65 Satz 1 Nr. 1 KWahlO NRW von einem Monat nach der förmlichen Bekanntgabe des Wahlprüfungsbeschlusses an den Kläger am 23. Dezember 2020 ist eingehalten.
29Die Klage ist zutreffend gegen den Beklagten und nicht gegen den Rat der Beklagten gerichtet (vgl. § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO, nach Wegfall des Behördenprinzips mit Inkrafttreten des Justizgesetzes NRW zum 1. Januar 2011). Denn es handelt sich hier nicht um ein sog. Organstreitverfahren, bei dem der Rat als entscheidendes Organ der richtige Beklagte wäre. Ein solches läge nur dann vor, wenn die Beteiligten über die sich aus dem kommunalen Verfassungsrecht ergebenden Rechte und Pflichten im Bereich kommunaler Organe streiten würden. Um einen solchen Rechtsstreit geht es hier jedoch nicht. Die Wahlprüfungsklage stellt sich vielmehr als Fortsetzung des Wahlprüfungsverfahrens dar, das dazu bestimmt ist, im öffentlichen Interesse die gesetzmäßige Zusammensetzung der Volksvertretung zu gewährleisten.
30Vgl. OVG NRW, Urteil vom 15. Dezember 2011 – 15 A 876/11 –, juris Rn. 48 ff. m.w.N.
31II.
32Die Klage ist aber unbegründet.
33Der angegriffene Beschluss des Rates der Beklagten vom 17. Dezember 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten; ihm steht kein Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zu, die Wahlen zum Rat und zum Bürgermeister insgesamt für ungültig zu erklären und eine Wiederholungswahl für das ganze Wahlgebiet anzuordnen (vgl. § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
341. Wahl zum Bürgermeister der Beklagten
35Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Wahlprüfungsanspruch ist § 46b KWahlG NRW i.V.m. § 40 Abs. 1 lit. b) KWahlG NRW. Die erstgenannte Norm erklärt die Vorschriften des Kommunalwahlgesetzes auf die Wahl des Bürgermeisters vorbehaltlich besonderer Regelungen in den §§ 46c – e für entsprechend anwendbar. Gemäß § 40 Abs. 1 lit. b) KWahlG NRW ist eine Wahl für ungültig zu erklären und eine Wiederholungswahl anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass bei der Vorbereitung der Wahl oder bei der Wahlhandlung Unregelmäßigkeiten vorgekommen sind, die im jeweils vorliegenden Einzelfall auf das Wahlergebnis im Wahlbezirk oder auf die Zuteilung der Sitze aus der Reserveliste von entscheidendem Einfluss gewesen sein können. Dabei ist der Begriff der Unregelmäßigkeit (Wahlfehler) unter Berücksichtigung des Zwecks des Wahlprüfungsverfahrens, im öffentlichen Interesse die gesetzmäßige Zusammensetzung der Volksvertretung zu gewährleisten, weit zu verstehen. Er erfasst alle Umstände, die dem Schutzzweck der wahlrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze zuwiderlaufen, insbesondere Verstöße gegen das KWahlG NRW, die KWahlO NRW oder die allgemeinen Wahlrechtsgrundsätze des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG.
36Vgl. OVG NRW, Urteil vom 15. Dezember 2011 - 15 A 876/11 -, juris Rn. 65 f. m.N.
37Prüfungsmaßstab für die gerichtliche Überprüfung der hier streitigen Wahlprüfungsentscheidung bilden dabei allein die vom Kläger zuvor im kommunalen Wahlprüfungsverfahren fristgerecht und hinreichend substantiiert vorgebrachten Einspruchsgründe. Dies beruht darauf, dass eine gerichtliche Wahlanfechtung nur auf Beanstandungen gestützt werden kann, die schon Gegenstand des vorangegangenen Einspruchsverfahrens gewesen sind (sog. Anfechtungsprinzip). Ebenso wie der Kläger danach gehindert ist, im gerichtlichen Verfahren neue, im Einspruchsverfahren nicht vorgebrachte Gründe geltend zu machen, darf das Wahlprüfungsgericht nicht von Amts wegen neue Wahlanfechtungsgründe, die nicht Gegenstand des Einspruchs gewesen sind, seiner Entscheidung zugrunde legen.
38Vgl. OVG NRW, Urteile vom 15. Dezember 2011 - 15 A 876/11 -, juris, Rn. 79, und vom 15. Dezember 1971 - III A 35/71, OVGE 27, 209 ff.; VG Aachen, Urteil vom 06. Mai 2015 – 4 K 2085/14 –, juris Rn. 41 ff.
39Nur so lässt sich der Zweck des Wahlprüfungsrechts erreichen, in kurzer Zeit Klarheit über die Tatsachen zu schaffen, die gegen die Gültigkeit der Wahl eingewandt werden. Aus dieser Beschränkung der gerichtlichen Prüfung folgt, dass entweder bereits im vorgerichtlichen Wahlprüfungsverfahren - im Einspruchsverfahren durch den Einspruchsführer oder bei einer Erklärung für ungültig von Amts wegen durch den Rat selbst - substantiiert dargelegt werden muss, welche Sachverhalte als erhebliche Unregelmäßigkeiten im Sinne von § 40 Absatz 1 lit. b) KWahlG NRW dem Einspruch oder der Ungültigkeitsfeststellung zu Grunde gelegt werden. Dasselbe gilt für die Aufsichtsbehörde, die innerhalb der Klagefrist des § 41 Absatz 1 Satz 1 KWahlG die von ihr erachteten Unregelmäßigkeiten im Einzelnen bezeichnen und dartun muss.
40Bei der hier in Rede stehenden Wahl zum Bürgermeister sind keine Unregelmäßigkeiten bei der Vorbereitung der Wahl im Sinne von § 40 Abs. 1 Buchst. b KWahlG NRW vorgekommen. Der Kläger kann nicht mit Erfolg geltend machen, er sei durch die weitflächigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens durch die vom Land Nordrhein-Westfalen ergriffenen Corona-Schutzmaßnahmen benachteiligt worden. Zwar liegt auf der Hand, dass sie (auch) eine Beeinträchtigung des Wahlkampfs zur Folge hatten, zumal wenn man bedenkt, dass gerade ein Kandidat für das Amt des Bürgermeisters darauf angewiesen ist, mit den Wahlberechtigten ins Gespräch zu kommen.
41Vgl. zu den coronabedingten Erschwernissen ausführlich VerfGH NRW, Beschluss vom 30. Juni 2020 – 63/20.VB-2 –, juris Rn. 55 ff.
42Jedoch waren von diesen Maßnahmen alle Bewerber um das Bürgermeisteramt betroffen. Entscheidend kommt hinzu, dass weder ersichtlich noch dargetan ist, dass die Maßnahmen auf eine Beeinträchtigung parteiloser Kandidaten abgezielt oder sie auch nur in Kauf genommen hätten.
43Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang geltend macht, er sei von der Beklagten über wahlrelevante Umstände aufgrund der weitflächigen Schutzmaßnahmen nicht rechtzeitig oder nicht hinreichend informiert worden, vermag er auch damit nicht durchzudringen. Denn er hat nicht substantiiert dargetan, dass die Beklagte es mehrfach versäumt haben soll, Erlasse und Folgeerlasse und andere Regelungen zeitnah zu kommunizieren. Er hat nicht konkret vorgetragen und belegt, welche Erlasse, welche Folgeerlasse oder welche übrigen Regelungen die Beklagte nicht bzw. nicht rechtzeitig mitgeteilt haben soll. Selbst wenn das im Einzelfall festzustellen wäre, würde das nicht die Annahme einer Unregelmäßigkeit rechtfertigen. Es würde nämlich an Anhaltspunkten dafür fehlen, gerade dieser Umstand hätte dazu geführt, dass es ihm gelungen wäre, statt der 20 die geforderten 114 Unterstützungsunterschriften zu erhalten. Überdies fällt es erkennbar in den Bereich seiner Eigenverantwortung, sich über die Rahmenbedingungen für einen Corona-Wahlkampf zu informieren. Dies wäre ihm auch ohne weiteres möglich gewesen, da das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales die Coronaschutzverordnung und die übrigen im Zuge der Coronakrise erlassenen Verordnungen in der jeweils aktuellen Fassung laufend auf seiner Internetseite veröffentlicht hat. Hier waren und sind auch die Begründungen der Verordnungen sowie Erläuterungen hierzu erhältlich. Darüber hinaus steht das Ministerium auch – wie gerichtsbekannt ist – für Einzelauskünfte zur Verfügung. Als Urheber der Verordnungen wäre es erster Ansprechpartner gewesen, nicht dagegen Landes- oder Bundeswahlleiter oder andere.
44Der Beklagten kann auch nicht angelastet werden, die Zulassung des Klägers wegen Nichterreichens des vorgeschriebenen Quorums abgelehnt zu haben. Bei einer Einwohnerzahl von über 10.000 – wie im Fall der Beklagten – und 38 Sitzen im Rat und demgemäß nach § 13 des Gesetzes zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020 erforderlichen 114 Unterstützungsunterschriften musste der Zulassungsantrag des Klägers zwingend abgelehnt werden, weil er diesem nur 20 Unterschriften und damit offensichtlich zu wenige beigefügt hatte.
45Die gesetzlichen Vorgaben für die Erfüllung des Quorums durch das Gesetz zur Durchführung der Kommunalwahren 2020 sind nicht zu beanstanden. Dies hat der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in mehreren Entscheidungen ausgeführt.
46Vgl. VerfGH, Beschluss vom 25. August 2020 – VerfGH 126/20.VB-3 –, juris Rn. 14; Beschluss vom 22. Juli 2020 – 102/20.VB-2 –, juris Rn. 11; Beschluss vom 7. Juli 2020 – VerfGH 88/20.VB-2, juris Rn. 71 ff.); Beschluss vom 30. Juni 2020 – 63/20.VB-2 –, juris Rn. 47 ff.
47Der zugrunde liegenden Einschätzung des Verfassungsgerichtshofs, dass der Gesetzgeber auf die coronabedingten Erschwernisse bei der Kontaktaufnahme mit den Wahlberechtigten und deren ggf. verminderte Bereitschaft zu persönlichen Gesprächen durch die deutliche Senkung sämtlicher Quoren auf 60 % in geeigneter Weise angemessen reagiert hat, schließt sich das erkennende Gericht an. Soweit der Kläger weiter bezweifelt, dass die Vorgaben zu dem zu erfüllenden Quorum durch einen Erlass hätten abgeändert werden dürfen, trifft die Argumentation nicht den Punkt. Die Absenkung des Quorums ist gesetzlich geregelt, und zwar durch § 13 des Gesetzes zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020.
48Auf etwaige gesundheitliche Einschränkungen kann sich nach den oben dargelegten Kriterien zum Anfechtungsprinzip der Kläger im Klageverfahren nicht berufen. Denn er hat sie nicht bereits im Einspruchsverfahren vorgebracht. Im Übrigen ist sein Vortrag insoweit unsubstantiiert geblieben.
492. Wahl zur Vertretung der Beklagten
50Soweit sich der Kläger auch gegen die Gültigkeit der Wahl zur Vertretung der Beklagten gewandt hat, sind relevante Unregelmäßigkeiten i.S.d. § 40 Abs. 1 Buchst. b KWahlG NRW weder ersichtlich noch dargetan. Zwar hat er seinen Einspruch noch darauf gestützt, es habe vor manchen Wahllokalen Schlangen gebildet, die einige Wähler dazu veranlasst hätten, der Wahl fernzubleiben; coronabedingt sei überdies die Möglichkeit zur Kontrolle bei der Auszählung von Wahlbezirken eingeschränkt gewesen. Darauf hat der Kläger aber im Klagverfahren nicht mehr abgestellt. Ungeachtet dessen könnten die genannten Umstände nicht als Unregelmäßigkeiten eingestuft werden. Das Vorbringen wäre in beiden Punkten als zu unsubstantiiert anzusehen, zumal wenn man bedenkt, dass es jedem Wahlberechtigten als Ausdruck seiner Wahlfreiheit zusteht, sich gegen die Teilnahme an einer Wahl zu entscheiden.
51Die Kostenentscheidung folgt auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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