Urteil vom Verwaltungsgericht Aachen - 5 K 5443/17.A
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Oktober 2017 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
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T a t b e s t a n d:
2Die Kläger wenden sich gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig und die Abschiebungsandrohung nach Ungarn (sog. Drittstaatenbescheid Ungarn).
3Der am 00.00.0000 geborene Kläger zu 1., seine Ehefrau, die am 00.00.0000 geborene Klägerin zu 2. sowie die gemeinsamen Kinder, der am 00.00.0000 geborene Kläger zu 3. und die am 00.00.0000 geborene Klägerin zu 4. sind irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit und muslimischer Religionszugehörigkeit. Die Kläger zu 1. bis 3. sind in G. /Irak geboren, die Klägerin zu 4. ist in Mönchengladbach geboren. Weiter gehört zur Familie noch ein am 00.00.0000 in Gütersloh geborener Sohn. Dessen Asylverfahren wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) unter dem Az. 0000000-000 geführt (s.u.).
4Nach ihren Angaben im Verwaltungsverfahren verließen die Kläger zu 1. bis 3. ihr Heimatland Ende August (Kläger zu 1.) bzw. Anfang September 2016 (Klägerin zu 2. und Kläger zu 3.). Sie reisten über die Türkei, Bulgarien, Serbien und Ungarn am 9. September 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und meldeten sich zunächst auf einer Polizeiwache in Mönchengladbach. Die Polizisten hielten u.a. fest, dass die Namen (der Familienmitglieder) mündlich vom Kläger zu 1. angegeben wurden, weil er nicht in der Lage sei zu schreiben. Von der Polizeiwache aus wurde die Klägerin zu 2. mit dem Rettungswagen in eine Klinik verbracht, wo sie einen Tag später, am 10. September 2017 die Klägerin zu 4. zur Welt brachte. Die Kläger äußerten am 18. September 2017 ein Asylgesuch und stellten am 25. September 2017 den förmlichen Asylantrag.
5Das Bundesamt ermittelte für die Kläger zu 1. und zu 2. einen EURODAC-Treffer der Kategorie 1 für Ungarn mit einer registrierten Antragstellung am 19. Juni 2017.
6Ausweislich des in den - von der Kammer beigezogenen - Akten der Staatsanwaltschaft Bielefeld befindlichen Sonderhefts, das die Unterlagen der Kläger zu 1. und 2. zu ihrem ungarischen Asylverfahren sowie eine - allerdings nur inhaltlich zusammenfassende - Übersetzung (Bl. 20ff P5) beinhaltet, stellten die Kläger zu 1. bis 3. am 19. Juni 2017 in Ungarn einen Asylantrag. Die Unterbringung der Familie erfolgte in der Transitzone Röszke. Die ungarischen Behörden lehnten den Asylantrag am 30. Juni 2017 mit der Begründung ab, die Antragsteller würden die nationale Sicherheit des Landes Ungarn gefährden. Auf den Berufungsantrag der Kläger zu 1. bis 3. vom 3. Juli 2017 erfolgte aufgrund des Urteils des Verwaltungsgerichts Szeged vom 10. August 2017 die Neuaufnahme des Asylverfahrens. Am 28. August 2017 beantragte der Kläger zu 1. in Ungarn auch für sein ungeborenes Kind die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Am 1. September 2018 erhielt die Familie den subsidiären Schutzstatus zuerkannt. Mit Schreiben vom 5. September 2017 wurde die Familie aufgefordert ihre Unterkunft binnen eines Monats zu verlassen.
7Im Rahmen der in der Sprache Sorani (Kurdisch-Zentral) durchgeführten Anhörung beim Bundesamt am 27. September 2017 erklärten die Kläger zu 1. und zu 2. im Wesentlichen:
8Sie seien gezwungen worden, in Ungarn einen Asylantrag zu stellen. Nach Durchführung eines Gerichtsverfahrens hätten sie in Ungarn einen Schutzstatus erhalten. Die Klägerin zu 2. sei damals schwanger gewesen. Die Ärzte in Ungarn hätten erklärt, dass das Kind zwar durch eine Operation zur Welt kommen könne, dass sie aber wegen der Kosten, die dadurch entstünden, Ungarn verlassen müssten. Sie seien dann nach Deutschland gereist. Alle Originalunterlagen über das Asylverfahren in Ungarn hätten sie bei der Polizei in Mönchengladbach abgegeben.
9Ihr Heimatland hätten sie aus politischen Gründen verlassen. Der Kläger zu 1. habe in Kurdistan als Taxifahrer gearbeitet und einen der Redakteure des Fernsehsenders NRT (Nalia Radio and Television, kurdischer Nachrichtensender) gefahren. Der staatliche Sicherheitsdienst habe versucht, den Kläger zu 1. als Spitzel anzuwerben. Er habe versucht dies abzulehnen, sei aber vom Sicherheitsdienst abgeholt und mit Schlägen und Bedrohungen mit einer Pistole zur Zusammenarbeit gezwungen worden. Er habe die ganze Geschichte dem NRT-Redakteur D. L. erzählt und dieser habe dann von dem Vorfall im Fernsehsender berichtet. Der Redakteur habe zwar nur erklärt, dass sein Fahrer misshandelt und bedroht worden sei; die Zuschauer hätten erfahren sollen, wie die demokratische Partei Kurdistans sich verhalte. Ein Freund habe ihm dann aber mitgeteilt, dass der Sicherheitsdienst ihn suche und verhaften wolle und dass ein Haftbefehl am 28. August 2016 veröffentlicht werde. Deshalb sei er am 27. August 2016 geflohen. Seine Frau, die Klägerin zu 2. sei am 8. September 2016 ausgereist. Sie sei von ihrem Bruder zusammen mit dem gemeinsamen Sohn, dem Kläger zu 3. illegal über die türkische Grenze gebracht worden. Nachdem sie ihren Mann, den Kläger zu 1. getroffen habe, sei der Bruder wieder in den Irak zurückgekehrt. Der Kläger zu 1. habe nie eine Schule besucht und sei Analphabet. Die Klägerin zu 2. habe ebenfalls keine Schule besucht. Sie könne weder lesen noch schreiben; sie habe keinen Beruf erlernt und sei immer Hausfrau gewesen. Als einzige Sprache gaben die Kläger Kurdisch-Zentral an.
10Auf das vom Bundesamt unter dem 2. Oktober 2017 für den Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. gestellte Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 lit. b) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 teilte die Dublin Coordination Unit des ungarischen Immigration and Asylum Office am 10. Oktober 2017 in zwei getrennten Erklärungen (eine betreffend die Klägerin zu 2. und eine weitere betreffend die Kläger zu 1., 3. und 4.) mit, dass sich Ungarn nicht als zuständig für die Prüfung des Asylantrags der Kläger zu 1. bis 4. sehe. Da den Antragstellern am 31. August 2017 subsidiärer Schutz in Ungarn gewährt worden sei, könnten sie gemäß der Rückführungsrichtlinie oder dem Rückübernahmeabkommen zwischen der ungarischen Regierung und der Bundesregierung jederzeit nach Ungarn überstellt werden. Um die Rückübernahme durchzuführen, müsse sich das Bundesamt an die zuständige Behörde, die Abteilung für Fremdenpolizei der Abteilung für Grenzpolizei des nationalen Polizeipräsidiums, Ungarn wenden.
11Mit Bescheid vom 12. Oktober 2017, den Klägern zugestellt am 18. Oktober 2017, lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2.), und forderte die Kläger unter Androhung der Abschiebung nach Ungarn oder in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürften oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen (Ziffer 3.); in den Irak dürften die Kläger nicht abgeschoben werden (Ziffer 3. letzter Satz). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4.). Die Asylanträge seien gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, weil den Klägern in Ungarn bereits Schutz gewährt worden sei. Abschiebungsverbote hinsichtlich Ungarns lägen nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Ungarn führten nicht zu der Annahme, dass die Abschiebung der Kläger eine Verletzung des Art. 3 EMRK zur Folge habe. Die hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Dies gelte auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Kläger. Ein Anspruch auf die Feststellung von nationalem Abschiebungsschutz in Bezug auf das Herkunftsland bestehe nicht, weil ein Mitgliedstaat bereits internationalen Schutz zuerkannt habe.
12Die Kläger haben am 24. Oktober 2017 Klage erhoben. Sie tragen vor: Sie hätten in Ungarn keine Rechte, auch nicht nach Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. Bereits während des Asylverfahrens seien sie unmenschlichen Bedingungen in Form von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt gewesen. Sie seien gemeinsam mit dem damals zweieinhalbjährigen Kläger zu 3. in einem kleinen Raum, dessen Wände aus Metall bestanden hätten und in dem es unerträglich heiß gewesen sei, untergebracht worden. Das Lager sei mit Stacheldraht gesichert gewesen. Die Klägerin zu 2. habe das bereits in Serbien von einem Arzt wegen der Schwangerschaft verordnete Medikament in Ungarn nicht erhalten. Das Papier des serbischen Arztes sei zerrissen worden. Nachdem sie sich zuerst geweigert hätten einen Asylantrag zu stellen, hätten sie weder zu essen noch zu trinken bekommen. Die Klägerin zu 2. habe mehrfach das Bewusstsein verloren. Schließlich hätten sie Fingerabdrücke abgegeben und um Schaden von ihrem Sohn, dem Kläger zu 3. abzuwenden, einen Asylantrag gestellt. Trotz erheblicher Beschwerden sei die Klägerin zu 2. nur einmal in einem Krankenhaus vorgestellt worden. Es habe erhebliche Verständigungsprobleme gegeben, da nur zeitweise ein Dolmetscher anwesend gewesen sei, der zudem nur sehr eingeschränkt Sorani verstanden habe. Nach Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus hätten sie das Lager verlassen dürfen. Sie hätten ein Krankenhaus aufgesucht, wo ihnen mitgeteilt worden sei, dass das Kind mit einem Kaiserschnitt geholt werden müsse, die Kosten aber von ihnen selbst zu tragen seien. Deshalb seien sie nach Deutschland geflohen.
13Die Kläger beantragen sinngemäß,
14den Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 2017 aufzuheben,
15hilfsweise,
16die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 2., 3. und 4. des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Oktober 2017 zu verpflichten festzustellen, dass in der jeweiligen Person der Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Ungarns vorliegt.
17Die Beklagte beantragt,
18die Klage abzuweisen.
19Sie nimmt Bezug auf die Begründung des angegriffenen Bescheids.
20Die Kammer hat mit Beschluss vom 5. März 2018, abgeändert durch Beschluss vom 30. August 2018 Prozesskostenhilfe bewilligt und mit Beschluss vom 25. November 2021 das Verfahren auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
21Für ihren am 00.00.0000 in Gütersloh geborenen Sohn stellten die Kläger zu 1. und zu 2. am 3. April 2020 einen Asylantrag (Az. 0000000-000). Dieser wurde zunächst mit Bundesamtsbescheid vom 24. Juni 2020 als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Ungarn angedroht. Nach Aufhebung des Bescheids durch Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 3. November 2020 (0 X 0000/00) lehnte das Bundesamt den Asylantrag mit Bescheid vom 27. April 2021 vollumfänglich ab und drohte die Abschiebung nach Ungarn oder in den Irak an. Dieser Bescheid ist Gegenstand eines weiteren Verfahrens beim Verwaltungsgericht Minden, anhängig unter dem Az. 0 X 0000/00.
22Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (E1 bis E 4), der Ausländerbehörde (P1 bis P4) und der Staatsanwaltschaft Bielefeld (P5) mit dem Sonderheft "Dokumente" (P6), betreffend die Asylverfahrensunterlagen der ungarischen Behörden.
23E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
24Die Einzelrichterin kann im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, vgl. § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
25Die Klage hat bereits mit dem Hauptantrag Erfolg.
26A. Die Klage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. ist als Anfechtungsklage statthaft. Denn im Fall eines Bescheids, mit dem das Bundesamt einen Asylantrag - wie hier - nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 Asylgesetz (AsylG) als unzulässig abgelehnt hat, ist allein die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO die statthafte Klageart. Eine gerichtliche Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung hat zur Folge, dass das Bundesamt das Verfahren fortführen und eine Sachentscheidung treffen muss.
27Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 21. November 2017 - 1 C 39.16 -, juris, Rn. 16.
28B. Die Klage ist auch begründet.
29Der Bescheid des Bundesamts vom 12. Oktober 2017 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat den Asylantrag der Kläger zu Unrecht als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt (Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids). Damit sind auch die in den Ziffern 2 bis 4 getroffenen Nebenentscheidungen zu Unrecht, da verfrüht ergangen.
30I. Rechtsgrundlage für die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. des Bundesamtsbescheids ist § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, der Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Asylverfahrensrichtlinie, RL 2013/32/EU) in nationales Recht umsetzt. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union (hier: Ungarn) dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat.
311. Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser nationalen Vorschrift liegen zwar vor. Aus den beiden im Verwaltungsvorgang des Bundesamts befindlichen Schreiben der ungarischen Dublin-Einheit vom 10. Oktober 2017 ergibt sich, dass den Klägern in Ungarn mit Entscheidung vom 31. August 2017 subsidiärer Schutz zuerkannt wurde; dabei haben die ungarischen Behörden in ihren Schreiben ausdrücklich auch auf die erst in Deutschland geborene Klägerin zu 4. Bezug genommen. Das Gericht kann im Ergebnis offen lassen, ob die Erklärung der ungarischen Dublin-Einheit tatsächlich so zu verstehen ist, dass auch der Klägerin zu 4. Schutz gewährt wurde oder ob nur das Einverständnis zur gemeinsamen Rückführung der Kläger als Familie im Rahmen des deutsch-ungarischen Rückübernahmeabkommens (Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Ungarn über die Rückübergabe/Rückübernahme von Personen an der Grenze - Rückübernahmeabkommen, BGBl II 1999, S. 90) erklärt werden sollte. Offen bleiben kann auch die Frage, welche Rechtsfolge eintritt, wenn ein Mitgliedstaat einem noch nicht geborenen Kind internationalen Schutz gewährt und dieses Kind - wie die Klägerin zu 4. - später in einem anderen Mitgliedstaat geboren wird und dort einen Asylantrag stellt. Soweit der Klägerin zu 4. kein (wirksamer) internationaler Schutz in Ungarn gewährt wurde, kann ihr Antrag bereits deshalb nicht als unzulässig abgelehnt werden, weil die Beklagte dann mangels fristgerechter Stellung eines Aufnahmegesuchs für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin zu 4. gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO zuständig geworden ist.
32Vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 23. Juni 2020 - 1 C 37/19 -, juris, Rn.16; Verwaltungsgericht (VG) Stuttgart, Urteil vom 29. Januar 2021 - A 7 K 11804/18 -, juris.
33Soweit der Klägerin zu 4. wirksam internationaler Schutz in Ungarn gewährt worden ist, ist die Unzulässigkeitsentscheidung aus den unter 2. genannten Gründen rechtswidrig und aufzuheben.
342. Eine Unzulässigkeitsentscheidung ist trotz Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG aus unionsrechtlichen Gründen im vorliegenden Einzelfall ausgeschlossen.
35a) Liegen die geschriebenen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, kann eine Unzulässigkeitsentscheidung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) aus Gründen vorrangigen Unionsrechts gleichwohl ausnahmsweise ausgeschlossen sein.
36Der EuGH hat insoweit zu Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Asylverfahrensrichtlinie entschieden, dass es den Mitgliedstaaten untersagt ist, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen, wenn die Lebensverhältnisse, die den Betroffenen als anerkannt Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta (GRC) zu erfahren.
37Vgl. ausdrücklich Europäischer Gerichtshof (EuGH), Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a, Hamed u.a. - Rn. 35; s.a. Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. - Rn. 101, jeweils juris.
38Verstöße gegen Art. 4 GRC im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung sind folglich nicht erst bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen, sondern führen bereits als ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung.
39Vgl. BVerwG, Urteile vom 7. September 2021 - 1 C 3/21 -, juris Rn. 16, vom 21. April 2020 - 1 C 4.19 -, juris, Rn. 36, vom 4. Mai 2020 - 1 C 5.19 -, juris, Rn. 36, vom 20. Mai 2020 - 1 C 34.19 -, juris, Rn. 15 und vom 17. Juni 2020 - 1 C 35.19 -, juris, Rn. 23.
40Die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC liegt allerdings nicht bereits dann vor, wenn die Lebensverhältnisse in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt hat, nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der RL 2011/95/EU (Anerkennungsrichtlinie) gerecht werden oder wenn der Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden. Auch systemische Mängel des Asylverfahrens, die zwar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den betreffenden Mitgliedstaat rechtfertigen, schränken die Befugnis der übrigen Mitgliedstaaten nicht ein, einen neuen Antrag als unzulässig abzulehnen.
41Vgl. BVerwG, Urteile vom 21. April 2020 - 1 C 4.19 -, juris, Rn. 38, vom 4. Mai 2020 - 1 C 5.19 -, juris, Rn. 36, vom 20. Mai 2020 - 1 C 34.19 -, juris, Rn. 16 und vom 17. Juni 2020 - 1 C 35.19 -, juris, Rn. 24.
42Vielmehr verletzen die widrigen Lebensbedingungen im Mitgliedstaat, der Schutz gewährt hat, Art. 4 GRC nur dann, wenn die drohenden Gefahren eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt und die dann erreicht wäre, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann,
43vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. - Rn. 89 - 91 und - C-163/17, Jawo - Rn. 91 - 93 und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a., Hamed u.a. - Rn. 39, juris,
44wobei in der Abwägung die besondere Situation des jeweils Betroffenen zu berücksichtigen ist.
45Vgl. BVerwG, Urteile vom 11. April 2020 - 1 C 4.19 -, juris, Rn. 40 und vom 4. Mai 2020 - 1 C 5.19 -, juris, Rn. 40.
46Bei der Gefahrenprognose stellt der EuGH auf das Bestehen einer ernsthaften Gefahr ("serious risk") ab.
47Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. - Rn. 86 sowie - C-163/17, Jawo - Rn. 83, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a., Hamed u.a. - Rn. 36.
48Dies entspricht dem Maßstab der tatsächlichen Gefahr ("real risk") in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK bzw. der beachtlichen Wahrscheinlichkeit im nationalen Recht.
49Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2020 - 1 C 35.19 -, juris, Rn. 27 unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff. bzw. BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 58 Rn. 20 zu § 60 Abs. 2 AufenthG und Art. 2 Buchst. e und Art. 15 Buchst. b RL 2004/83/EG.
50Aus dieser Rechtsprechung folgt auch die Berücksichtigung existenzsichernder Unterstützungsleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen bei der Bewertung, ob bei der Rückführung oder Abschiebung die Gefahr einer Verletzung des Art. 4 GRC droht. Denn wenn durch die Inanspruchnahme der Hilfs- oder Unterstützungsleistungen nichtstaatlicher Organisationen einer extremen individuellen Notlage hinreichend begegnet werden kann, dann droht keine Situation extremer materieller Not.
51Vgl. BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 - 1 C 3/21 -, juris, Rn. 22ff, wobei der Senat keinen Anlass zur weiteren Klärung hatte, in welchem Umfang Leistungen durch nichtstaatliche Hilfs- und Unterstützungsorganisationen auch im Zeitverlauf gesichert sein müssen, um bei der Gefahrenprognose staatliche Existenzsicherungsleistungen ergänzen oder ersetzen zu können, und unter welchen Voraussetzungen solche Leistungen unbeachtlich sind, etwa wenn sie sich auf Nothilfe in Ausnahmefällen für einen begrenzten Personenkreis beschränken, sie real nicht oder nur schwer erreichbar sind oder gezielte staatliche Maßnahmen, welche die Tätigkeit solcher Hilfsorganisationen zu behindern oder zu untersagen bestimmt sind, zu beachtlichen Einschränkungen der Unterstützungstätigkeit führen, Rn 29.
52Bei der Gefahrenprognose muss grundsätzlich unterschieden werden zwischen einerseits der Gruppe der gesunden und arbeitsfähigen anerkannt Schutzberechtigten sowie andererseits Antragstellern mit besonderer Verletzbarkeit, also vulnerablen Personen, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie unabhängig vom eigenen Willen und von persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten, wesentlich größer ist. Denn der Bedarf, den vulnerable Personen haben, um den Eintritt eines Verstoßes gegen Art. 4 GRC zu vermeiden, ist gegenüber gesunden und arbeitsfähigen anerkannt Schutzberechtigten regelmäßig ein anderer bzw. höherer.
53Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. - Rn. 93 in Übereinstimmung mit EGMR (Große Kammer), Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarakhel /Schweiz) -, NVwZ 2015, 127; vgl. weiter Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 41; Oberverwaltungsgericht (OVG) Schleswig-Holstein, Urteil vom 25. Juli 2019 - 4 LB 12/17 -, juris, Rn. 67; OVG Sachsen, Urteil vom 13. November 2019 - 4 A 947/17.A -, juris, Rn. 28; VG Saarland, Urteil vom 20. September 2019 - 3 K 1222/18 -, juris, Rn. 21; ähnlich VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. November 2019 - 17a K 2746/18.A -, juris, 27 f.
54Bei vulnerablen Personen kann vor einer Rückführung ggf. auch eine hinreichend belastbare Versorgungszusicherung der Zielstaatsbehörden einzuholen sein.
55Vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Juli 2018 - 2 BvR 714/18 -, juris, Rn. 19 m.w.N.
56Für die Beurteilung der Frage, ob ein Antragsteller der Gruppe der vulnerablen Personen zuzuordnen ist, kann Art. 20 Abs. 3 der RL 2011/95/EU (Anerkennungsrichtlinie) als Orientierungshilfe herangezogen werden. Danach sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, zu berücksichtigen. Dabei kommt es stets auch auf die Umstände des Einzelfalls an.
57Ist der Antragsteller Mitglied einer Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder), ist für die anzustellende Gefahrenprognose bei möglichst realitätsnaher Beurteilung der - wenn auch notwendig hypothetischen - Rückkehrsituation bei tatsächlich gelebter Lebensgemeinschaft der Kernfamilie im Regelfall davon auszugehen, dass diese entweder insgesamt nicht oder nur gemeinsam im Familienverband zurückkehrt. Der Gefahrenprognose ist danach eine typisierende Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr im Familienverband zugrunde zu legen. Dies gilt auch dann, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie nationaler Abschiebungsschutz festgestellt worden ist.
58Vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris, Rn. 15.
59Diese zu einem nationalen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Bezug auf das Herkunftsland des Ausländers ergangene Rechtsprechung ist auf die vorliegende Konstellation übertragbar. Das Bundesverwaltungsgericht hat die der Gefahrenprognose zugrunde zu legende Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr damit begründet, dass der grund- und konventionsrechtliche Schutz des bestehenden Kernfamilienverbandes bereits auf die Rückkehrkonstellation einwirke und auch bei bestehender Bleibeberechtigung einzelner Mitglieder eine getrennte Betrachtung einzelner Familienmitglieder für den Rückkehrfall in der Regel nicht zulasse. Bereits das Bundesamt habe das im Regelfall aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK folgende Trennungsverbot bei der von ihm zu treffenden Prognoseentscheidung über die den einzelnen Familienmitgliedern im Herkunftsland drohenden Gefahren zu berücksichtigen. Diese Betrachtungsweise mindere zugleich Friktionen, die sich daraus ergeben könnten, dass über die Schutzanträge der einzelnen Mitglieder der Kernfamilie nicht gleichzeitig, sondern zeitversetzt entschieden werde. Diese Erwägungen greifen in gleicher Weise bei der Prüfung, ob eine Unzulässigkeitsentscheidung wegen der ernstlichen Gefahr einer gegen Art. 4 GRC verstoßenden Behandlung des Antragstellers aufgrund der Lebensverhältnisse im schutzgewährenden Mitgliedstaat ausscheidet. Auch hier ist in Bezug auf den schutzgewährenden Mitgliedstaat eine Gefahrenprognose vorzunehmen, bei der die Schutzwirkungen der Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art 7 GRC zu beachten sind und nicht durch Zufälligkeiten des Verfahrensablaufs unterlaufen werden dürfen. Dies gilt - von Missbrauchsfällen abgesehen - unabhängig davon, ob die familiäre Lebensgemeinschaft der Kernfamilie bereits im Rückkehrstaat bestanden hat oder nicht.
60Vgl. ebenso Bay VGH, Beschluss vom 3. Februar 2020 - 13a ZB 19.33975 -, juris, Rn. 4.
61Die Darlegungs- und (materielle) Beweislast für die Sicherung des Existenzminimums im Falle der Rückkehr nach Ungarn liegt bei der Beklagten. Es ist Aufgabe des Bundesamtes die zielstaatsbezogene Tatsache der Lebensbedingungen im Abschiebezielstaat - hier Ungarn - aufzuklären. Zwar ist der Schutzsuchende grundsätzlich darlegungs- und beweisbelastet für seine individuellen Umstände, die im Fall seiner Rücküberstellung in den Mitgliedstaat für eine Verletzung des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC sprechen; die im Mitgliedstaat zu erwartenden Aufnahme- und Lebensbedingungen müssen jedoch positiv festgestellt werden können, um eine Verletzung des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC auszuschließen.
62Vgl. BayVGH, Beschluss vom 25. Juni 2019 - 20 ZB 19.31553 -, juris Rn 14, 18; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 - 1 C 4.20 -, juris Rn 46, 49 und VGH Ba-Wü, Urteil vom 29. November 2019 - A 11 S 2376/19 -, beck-online Rn. 50 jeweils für die Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung am Ort des internen Schutzes.
63b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe durfte der Asylantrag nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden. Denn den Klägern droht als Familie mit vulnerablen Personen bei einer Rückkehr nach Ungarn im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die ernsthafte Gefahr einer gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK verstoßenden erniedrigenden Behandlung. Nach Auswertung der zur Verfügung stehenden aktuellen Erkenntnismittel zu den generellen Lebensbedingungen anerkannt Schutzberechtigter in Ungarn (aa) sowie unter Berücksichtigung der individuellen Lage und persönlichen Umstände der Kläger bei einer hier zu vermutenden Rückkehr im Familienverband (bb) ist die Kammer davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass die Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten würden und ihre elementarsten Bedürfnisse für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen könnten.
64aa) Auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden aktuellen Erkenntnismittel zur Situation (zurückgeführter) anerkannter Schutzberechtigter in Ungarn im Allgemeinen (1.), zu deren Unterbringungs- und Wohnsituation (2.), zu deren Zugang zu Sozialleistungen (3.), zum ungarischen Arbeitsmarkt (4.) und zu medizinischer Versorgung (5.) sowie zu der in Ungarn durch Nichtregierungsorganisationen geleisteten Arbeit (6.) geht die Kammer zusammenfassend davon aus, dass die Schaffung von adäquaten, menschenwürdigen Lebensbedingungen in Ungarn nahezu ausschließlich von der Eigenverantwortlichkeit und Eigeninitiative des anerkannt Schutzberechtigten abhängig ist. Entscheidend ist dabei, ob es dem Schutzberechtigten nach einer kurzen Anlaufzeit gelingen wird, trotz mangelnder Sprachkenntnisse und des ihm fremden Lebensumfelds Arbeit zu finden und aus den daraus erzielten Einkünften seinen Lebensunterhalt auf zumindest niedrigem Niveau und damit auch seine elementarsten Grundbedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) zu sichern. Diese Chance hat sich in den vergangenen Jahren, insbesondere seit 2015 als Folge der Politik der ungarischen Regierung sowie infolge der Auswirkungen der Corona-Pandemie stetig verschlechtert. Im Einzelnen:
65(1.) Zur Bewertung der Erkenntnislage stützt sich das Gericht insbesondere auf die im Rahmen des Projekts National Integration Evaluation Mechanism (im Folgenden NIEM) erstellten "NIEM Policy Briefs", die von den Experten der Menedék Association (Nichtregierungsorganisation, Ungarischer Verband für Migranten) und ihren Partnern verfasst wurden und die neben Vorschlägen zur Verbesserung der ungarischen Integrationspolitik eine detaillierte Analyse der sozialen Integration und anderer Lebensbereiche von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn bieten.
66Vgl. NIEM Policy Briefs 1 - 10, 09.09.2021, abrufbar unter https://menedek.hu/en.
67Die allgemeine Auskunftslage zur Lebenssituation von Schutzberechtigten ist davon gekennzeichnet, dass es aufgrund der seit Jahren faktisch kaum stattfindenden Rückführungen nach Ungarn und der gegen Null gehenden Anerkennungsquote für Flüchtlinge in Ungarn wenig belastbares Zahlenmaterial zur Situation (zurückgeführter) anerkannt Schutzberechtigter gibt. Die Auskünfte beruhen überwiegend auf Interviews mit einzelnen Betroffenen oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs).
68Vgl. zur Datenlage insb. NIEM Policy Briefs 1: Interpretation von Datenlücken in der Studie über die soziale Integration von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn; S. 12, wonach die Zahl der Personen, die internationalen Schutz genießen und die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Ungarn haben, nicht bekannt ist.
69Grundsätzlich haben schutzberechtigte Personen in Ungarn die gleichen Rechte wie ungarische Staatsbürger (siehe im Einzelnen unten).
70Zum Inhalt des internationalen Schutzes ist festzustellen, dass der ungarische Staat seit Juni 2016 jegliche Integrationsleistungen für Personen mit internationalem Schutz vollständig eingestellt hat, so dass diese in sämtlichen Bereichen ausschließlich auf die Unterstützung durch nichtstaatliche und kirchliche Organisationen angewiesen sind.
71Vgl. USDOS, 2020 Country Report on Human Rights Practices: Hungary, 30.03.2021; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Ungarn, Gesamtaktualisierung 26.02.2020, Stand: 09.03.2020, S. 19.
72Die bis Ende Mai 2016 für Personen mit anerkanntem Flüchtlingsstatus bestehende Möglichkeit, Integrationshilfe im Rahmen des Abschlusses von Integrationsverträgen zu erhalten, ist ersatzlos abgeschafft.
73Vgl. NIEM Policy Briefs 4, Politische Analyse und Vorschlag zur Verbesserung der Wohnsituation von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 11.
74Nach einem vergleichenden Bericht über die Rahmenbedingungen für die Integration von Flüchtlingen in 14 EU-Mitgliedstaaten aus dem Jahr 2019 bietet Ungarn unter den ostmitteleuropäischen Ländern aufgrund bewusster politischer Entscheidungen die ungünstigsten integrationspolitischen Rahmenbedingungen.
75Vgl. AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 112 ff.
76Seit 1. Juni 2016 beträgt die Dauer des Schutzstatus unabhängig davon, ob die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, einheitlich drei Jahre (früher: Flüchtlingsschutz zehn Jahre, subsidiärer Schutz fünf Jahre). Nach dem ungarischen Asylgesetz wird der Schutzstatus mindestens alle drei Jahre, gerechnet ab dem Tag, an dem der Status zuerkannt wurde, überprüft.
77Vgl. AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 112 ff.
78Seit Januar 2019 erhalten Personen mit Schutzstatus in Ungarn zwar einen ungarischen Personalausweis bzw. einen Flüchtlingsausweis, aber keine Aufenthaltserlaubnis, weil die Behörde nur einen "Grund für das Wohnen" anerkennt. Entscheiden sich Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte, eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen, müssen sie auf ihren Schutzstatus verzichten.
79Vgl. NIEM Policy Briefs 1: Interpretation von Datenlücken in der Studie über die soziale Integration von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn; S. 12; AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 112.
80Nach der Erkenntnislage ist nicht eindeutig, ob anerkannte Schutzberechtigte, die Ungarn zwischenzeitlich verlassen haben, dort auch nach ihrer Rückkehr weiterhin als solche behandelt werden oder der Schutzstatus automatisch verloren geht. So führt das Auswärtige Amt in einer Auskunft vom 29. Mai 2018 aus, bei den Überprüfungsfällen des Status der anerkannt subsidiär Schutzberechtigten liege die Schwierigkeit eher darin, den Aufenthalt der zu Überprüfenden zu ermitteln, da sich inzwischen viele nicht mehr in Ungarn aufhielten; in Fällen, in denen der Aufenthalt nicht ermittelt werden könne, werde der Status beendet; nur selten werde aber ein Widerruf oder eine Rücknahme ausgesprochen.
81Vgl. AA, Auskunft Verwaltungsgericht Trier zur Überstellung von anerkannt Schutzberechtigten aufgrund des Rückübernahmeabkommens, 29.05.2018.
82Ob unter diese Praxis - auch - Schutzberechtigte fallen, die in einem anderen EU-Staat einen weiteren Asylantrag gestellt haben und - Jahre später, insbesondere nach Ablauf der Überprüfungsfrist - nach Ungarn zurückgeführt werden sollen, ist nicht bekannt. Aus einem Urteil des VG Ansbach ergibt sich, dass die ungarischen Behörden dem Bundesamt im Falle eines Antragstellers, dem im Februar 2013 die Flüchtlingseigenschaft in Ungarn zuerkannt worden war, im Rahmen eines im Oktober 2019 gestellten Informationsersuchens nach Art. 34 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO) mitteilten, der Flüchtlingsstatus des Antragstellers in Ungarn sei unverändert und bestehe fort.
83Vgl. VG Ansbach, Urteil vom 22. Oktober 2020 - An 17 K 19.51160 -, beck-online, Rn. 6.
84Es gibt auch Berichte, wonach Syrer mit subsidiärem Schutzstatus keine Verlängerung ihres Schutzstatus erhalten, weil auf Damaskus als innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen werde, ohne dass sich Hinweise darauf finden, wie verfahren wird, wenn sich der subsidiär Schutzberechtigte im Überprüfungszeitpunkt in einem anderen EU-Staat aufhält.
85Vgl. AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 119.
86Unklar ist auch, wie viel Zeit im Falle einer Rückführung anerkannt Schutzberechtigter die Registrierung und Zuteilung einer Sozialversicherungsnummer und -karte in Anspruch nimmt, die wiederum Voraussetzung für jegliche Teilhabe am ungarischen Sozialsystem sind. So wird darauf hingewiesen, dass die Ausstellung der Ausweise vor allem in jenen Fällen länger dauere, die Ungarn verlassen hätten, ohne auf ihre persönlichen Dokumente zu warten und dann später rücküberstellt würden.
87Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Ungarn, Gesamtaktualisierung 26.02.2020, Stand: 09.03.2020 , S. 19; BAMF, Bericht zur Integration in Ungarn, Stand: Juli 2020, S. 7.
88Das Auswärtige Amt berichtete bereits unter dem 20. April 2020, dass für zurückgeführte Schutzberechtigte das Registrierungsverfahren nachgeholt werden müsse, was erfahrungsgemäß mehr Zeit in Anspruch nehme; nach Auskunft von NGOs könne das Verfahren 8 bis 10 Wochen dauern.
89Vgl. AA, Auskunft Verwaltungsgericht Greifswald, 20.04.2020.
90Allgemein wird eine langsame, verzögerte, teilweise von einer fremdenfeindlichen Haltung geprägte Arbeit der Verwaltung, verstärkt durch die Sprachbarrieren aufgrund des Mangels an Dolmetschern für ausländische Antragsteller beklagt oder von einem gewissen Maß an institutionellem Rassismus im öffentlichen Sektor berichtet.
91Vgl. AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 131; RESPOND, Paper 2020/43, Reception Policies, Practices and Responses, 01.02.2020, S. 24f.
92Das Hungarian Helsinki Committee (HHC) geht davon aus, dass die ungarische Regierung mit mehr als 100 Millionen US-Dollar fremdenfeindliche Hasskampagnen finanzierte und die öffentliche Bedrohung von Personen und Organisationen, die sich für die Rechte von Migranten einsetzten, beispielsweise durch die Verabschiedung des LEXNGO, zu einer drastischen Verschlechterung der Situation von Asylsuchenden und Personen, die internationalen Schutz genießen, geführt habe.
93Vgl. HHC, Shadow Report to the Ganhri Sub-Committee on Accreditation, 18.02.2021, S. 15f.
94Mehreren Studien zufolge kam es in der Regierungsperiode 2014 bis 2018 zu einem signifikanten Anstieg der Fremdenfeindlichkeit auf bis zu 67 % in Ungarn und insbesondere der Ablehnung von Menschen, die aus ärmeren außereuropäischen Ländern kommen; gleichzeitig entwickelte sich infolge der seitens der Regierung vorgenommenen Verknüpfung der Begriffe Islam und Terrorismus eine deutliche Islamophobie.
95Vgl. NIEM Policy Briefs 6: Ressourcen und Strategien für die erfolgreiche soziale Integration von muslimischen Frauen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 9.
96(2.) Obwohl anerkannt Schutzberechtigte nach ihrer Registrierung grundsätzlich die gleichen Rechte auf Zugang zu einer Wohnung haben wie ungarische Staatsangehörige, gestaltete sich ihre Unterbringung bereits in der Vergangenheit in Ungarn äußerst schwierig und wird mittlerweile als größtes Hindernis für ein Leben und die Integration in Ungarn gesehen. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie haben die extremen Schwierigkeiten für Personen mit internationalem Schutz aus den Aufnahmezentren auszuziehen und sich in die örtlichen Gemeinschaften zu integrieren, weiter verschärft. Für zurückkehrende Schutzberechtigte dürfte es nahezu unmöglich sein, das existenzielle Grundbedürfnis des Wohnens
97vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 - 1 C 4.20 -, juris, Rn. 37,
98zu sichern.
99Vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 125ff.
100Im Einzelnen:
101Gemäß der ungarischen Asylgesetzgebung können Personen, die internationalen Schutz genießen, nach ihrer Anerkennung 30 Tage in den offenen Aufnahmezentren verbringen, innerhalb derer sie - neben der Erledigung anderer Aufgaben, d.h. Beschaffung des Personalausweises, Krankenversicherung, Steuerunterlagen, Arbeitssuche usw. - eine Unterkunft finden müssen. Aufgrund eigener Bemühungen ist es den Anerkannten kaum möglich in dieser Zeit offizielle Dokumente zu erhalten und die Beschaffung einer privaten Mietwohnung ist fast unmöglich, soweit das involvierte Aufnahmezentrum nicht Kontakte zu einer NGO hat, die über eigene Unterbringungsmöglichkeiten oder über entsprechende Beziehungen verfügt.
102Vgl. NIEM Policy Briefs 4, Politische Analyse und Vorschlag zur Verbesserung der Wohnsituation von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 11, 12.
1032018 hat sich die Gesetzgebung insoweit verschlechtert, als nun ausdrücklich Schutzberechtigte von staatlicher finanzieller Unterstützung für Familien beim Kauf oder Bau von Häusern und Wohnungen ausgeschlossen sind. Der - ursprünglich von einer Genehmigung abhängige - Erwerb von Grundeigentum ist international Schutzberechtigten in Ungarn zwischenzeitlich wieder genauso möglich wie ungarischen Staatsangehörigen.
104Vgl. NIEM, National Report on the Integration of Beneficiaries of International Protection in Hungary, 2017-19, S. 25, 26.
105Staatliche wohnungspolitische Maßnahmen und Unterstützung für Personen, die internationalen Schutz genießen, existieren nicht. Grundsätzlich wird in Ungarn, genau wie in vielen anderen osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, die Wohnungspolitik von der dominierenden Stellung des Eigenheimsektors als Folge der Massenprivatisierung vor dem EU-Beitritt bestimmt. Weder die nationalen noch die regionalen/lokalen Regierungen haben Projekte des sozialen Wohnungsbaus gestartet. Der Handlungsspielraum des sozialen Wohnungsbaus ist eng begrenzt auf den geringen Anteil der Wohnungen, die (noch) im Besitz der Gemeinden sind, oder auf die projektbezogenen Wohnprojekte, die von lokalen Behörden, NGOs und kirchlichen Organisationen durchgeführt werden. Darüber hinaus war Ungarn zwischen 2015 und 2019 der EU-Mitgliedstaat mit dem größten Anstieg des Hauspreisindex. Zwischen 2011 und 2019 stiegen die Mietpreise in Ungarn um 90 %; in Budapest, wo die meisten Personen mit internationalem Schutzstatus leben, stiegen die Mietpreise in diesem Zeitraum um 130 %. Es gab keine positiven legislativen Entwicklungen in diesem Bereich.
106Vgl. NIEM, National Report on the Integration of Beneficiaries of International Protection in Hungary, 2017-19, S. 24, 25.
107Rechtlich sind - abgesehen von einer jüngsten Ausnahme - Personen mit internationalem Schutz auch im Bereich des Wohnungswesens ungarischen Staatsangehörigen gleichgestellt. In Übereinstimmung mit den EU-Rechtsvorschriften schränkt die ungarische Gesetzgebung weder ihre Freizügigkeit innerhalb Ungarns noch die Wahl der Wohnung ein. Sie haben damit zwar den gleichen Zugriff auf eine Wohnung wie ungarische Staatsangehörige, das Fehlen jeglicher Wohnbeihilfen für Personen mit internationalem Schutzstatus hat allerdings zur Folge, dass sie die allgemeinen Bedingungen für die Anmietung oder den Erwerb einer Wohnung als Neuankömmlinge faktisch nicht erfüllen können. Die Mietpreise auf dem privaten Wohnungsmarkt können sie sich regelmäßig nicht leisten. Überdies bestehen große Vorbehalte unter den ungarischen Vermietern an schutzberechtigte Ausländer zu vermieten. Fremdenfeindliche Äußerungen führender Persönlichkeiten der Regierungsmehrheit und der Regierung sowie von der Regierung initiierte Werbekampagnen gegen Migranten zeigen hier ihre Wirkung.
108Vgl. NIEM, National Report on the Integration of Beneficiaries of International Protection in Hungary, 2017-19, S. 24f; HHC, Menedék, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25.03.2021, S. 2ff; BAMF, Bericht zur Integration in Ungarn, Stand: Juli 2020, 15.07.2020, S. 6.
109Die Knappheit an Sozialwohnungen und die Tatsache, dass viele Kommunalverwaltungen eine registrierte Adresse in ihrem Zuständigkeitsbereich verlangen, um Zugang zu diesen knappen Angeboten zu erhalten, führen dazu, das Schutzberechtigte de facto nur Zugang zu Obdachlosenunterkünften haben.
110Vgl. NIEM, Policy Briefs 4: Politische Analyse und Vorschlag zur Verbesserung der Wohnsituation von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 11f.
111Anfang 2018 zog das ungarische Innenministerium alle vom AMIF (Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds, der die EU-Mitgliedstaaten bei der Umsetzung ihrer Asyl- und Migrationspolitik unterstützt, errichtet vom Europäischen Parlament und Rat der Europäischen Union) finanzierten Ausschreibungen zurück, was bedeutete, dass bis zum 30. Juni 2018 alle Programme, deren Integrationsförderung auf diese Finanzierung angewiesen waren, eingestellt wurden. Dies wirkte sich dramatisch auf die - wie oben beschrieben ohnehin wenigen - Wohnmöglichkeiten für Schutzberechtigte aus, da die meisten Aktivitäten der zivilgesellschaftlichen Organisationen (NGOs, kirchliche Organisationen) zuvor auf AMIF-Projekten basierten. Allein für die Kalunba Non-Profit GmbH in Budapest sind AMIF-Fördermittel in Millionenhöhe weggebrochen.
112Vgl. Wir ermutigen die Menschen zu bleiben, Reformierte Kirche in Ungarn: Flüchtlingsprojekt "Kalunba" kämpft um Fördermittel, 2018, abgerufen am 18.01.2022 unter https://www.reformiert-info.de.
113Derzeit gibt es nur sehr wenige Möglichkeiten der Wohnungshilfe in Form von Sachleistungen und zwar praktisch ausschließlich von kirchlichen Organisationen (Kalunba einbezogen, es handelt sich zwar um eine selbständige NGO, die aber sehr stark von der Reformierten Kirche in Ungarn gestützt und finanziert wird). Einige NGOs können Rechtsberatung anbieten (Entwurf oder Erläuterung von Mietverträgen), oder Unterstützung bei Verhandlungen mit den Vermietern usw. auf Ad-hoc-Basis. Personen mit internationalem Schutz benötigen tatsächlich erhebliche Unterstützung bei der Wohnungssuche. Da es keine systematische, vorhersehbare und auf lange Sicht angelegte Unterstützung gibt, kommt es allenfalls zu kurzfristigen, vorübergehenden Unterbringungen. Aufgrund der Knappheit an erschwinglichem Wohnraum müssen sich viele Personen mit internationalem Schutzstatus die Wohnungen untereinander teilen. Auch die mangelnde Bereitschaft der Vermieter ihre Wohnungen an Ausländer zu vermieten, insbesondere an Personen mit internationalem Schutz wirkt sich negativ aus.
114Vgl. Niem, National Report on the Integration of Beneficiaries of International Protection in Hungary, 2017-19, S. 24ff.
115Soweit das Bundesamt im Integrationsbericht Ungarn ausführt, Schutzberechtigte bekämen von NGOs (genannt werden explizit: Kalunba, Menedék und die Evangelisch-Lutherische Diakonie) nahtlos an ihren 30 tägigen Aufenthalt in einer der offenen Einrichtungen eine Anschlussunterkunft in Budapest vermittelt, entweder in einer angemieteten Privatunterkunft oder in einer Notunterkunft; die Unterbringung werde in der Regel für einige Monate bis maximal ein Jahr vermittelt und es gebe somit eine bedarfsgerechte Versorgung,
116vgl. BAMF, Bericht zur Integration in Ungarn, Stand: Juli 2020, 15.07.2020, S. 5
117kann diese Feststellung aufgrund der im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegenden Erkenntnisse nicht (mehr) nachvollzogen und nicht geteilt werden.
118Auf der Internetseite von Menedék ist folgender Hinweis zu finden:
119"Wir verteilen kein Geld, keine Kleidung, Lebensmittel oder andere Spenden und können auch keine Unterkünfte zur Verfügung stellen, aber wenn nötig, helfen wir, mit den Organisationen in Kontakt zu treten, die sich damit befassen."
120abgerufen am 21.01.2022 unter https://menedek.hu/mit-csinalunk/szocialis-munka.
121Konkret benannt werden auf der Internetseite von Menedék keine Organisationen.
122Das (österreichische) Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sah bereits im Jahr 2020 die Gefahr der Obdachlosigkeit für Schutzberechtigte. Da die ungarische Regierung 2018 die Finanzierung von Integrationsprojekten durch AMIF eingestellt habe und ab Mitte 2018 alle auf diese Mittel angewiesenen Projekte beendet worden seien, blieben nur noch Notunterkünfte für Obdachlose, etwa das Baptistische Integrationszentrum und einige Programme von NGOs und kirchlichen Organisationen für Schutzberechtigte verfügbar. In Budapest gebe es das Budapest Methodological Centre of Social Polica (BMSZKI), das temporäre Unterkünfte und Notschlafstellen für Obdachlose bereitstelle, die auch Schutzberechtigten offen stünden; doch es gebe begrenzte Kapazitäten und lange Wartelisten.
123Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Ungarn, Gesamtaktualisierung 26.02.2020, Stand: 09.03.2020, S. 19f.
124Diese Situation hat sich in den vergangenen zwei Jahren nach der aktuellen Erkenntnislage deutlich zugespitzt. Die Berichte gehen von einem ohnehin schon überlasteten Obdachlosenversorgungssystem aus, das allenfalls alleinstehenden Männern und in Ausnahmesituationen alleinstehenden Frauen eine vorübergehende Unterbringungsmöglichkeit biete, aber nicht Familien und Paaren mit Kindern.
125NIEM Policy Briefs 4, Politische Analyse und Vorschlag zur Verbesserung der Wohnsituation von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 25f.
126Da Personen mit internationalem Schutzstatus generell keine Wohnungsbeihilfen erhalten, existiert auch für die Fälle der Zugehörigkeit zu einer besonders vulnerablen Personengruppe keinerlei spezifische Unterstützung.
127Vgl. NIEM, National Report on the Integration of Beneficiaries of International Protection in Hungary, 2017-19, S. 24f.
128Der Länderbericht der Asylum Information Database (AIDA)
129vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 125ff.
130fasst zur Unterbringungssituation Folgendes zusammen: Es stünden nur Obdachlosenunterkünfte - z. B. die vorübergehende Obdachlosenunterkunft des Baptistischen Integrationszentrums - und einige wenige Wohnprogramme von NGOs und kirchlichen Organisationen für Personen, die internationalen Schutz genießen, zur Verfügung. Die zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Organisationen könnten jedoch nicht die gesamten Bedürfnisse von Menschen mit internationalem Schutz erfüllen. Dem Hungarian Helsinki Committee (HHC) sei ein Fall aus dem Jahr 2020 bekannt, in dem ein deutscher Anwalt mehrere Organisationen (auch die unten aufgeführten) kontaktiert habe, um zu erfahren, ob es eine Unterkunft für eine Familie mit internationalem Schutz im Falle ihrer Rückkehr gebe. Die kontaktierten Organisationen hätten jedoch keine Lösung anbieten können, was die Grenzen der Unterbringungskapazitäten verdeutliche. Im Jahr 2020 habe die Evangelisch-Lutherische Kirche in Ungarn eine kurzfristige Krisenunterbringung für 45 Personen mit internationalem Schutz (zusammen mit den Familienmitgliedern 95 Personen) in Budapest organisiert. Nach Angaben der Kirche habe sie aber aufgrund ihrer begrenzten Mittel Bewerber abweisen müssen und im letzten Jahr hätten eine Zeit lang überhaupt keine Mittel zur Verfügung standen. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst habe im Jahr 2020 zwei Wohnungen für Familien und Einzelpersonen (insgesamt 10 Personen) sowie insgesamt 6 Plätze für Studenten in zwei Wohnheimen des Jesuitenordens in Budapest zur Verfügung gestellt, aufgrund der Pandemie habe die Zahl der Plätze in den Wohnheimen jedoch im September auf vier reduziert werden müssen. Nach Angaben des Jesuitendienstes gebe es eine große Nachfrage nach diesen Plätzen unter den in Ungarn lebenden Menschen mit internationalem Schutz. Das Baptistische Integrationszentrum habe im Juni 2020 sein vorübergehendes Heim für Familien eröffnet, jedoch keine Kapazitäten für Familien mit internationalem Schutzstatus gehabt. Nach Angaben des Zentrums hätten sich im Juni 90 Familien auf der Warteliste befunden. Die Evangelisch-Lutherische Kirche habe mitgeteilt, dass die Obdachlosenunterkünfte die praktikabelste und kostengünstigste Lösung für Personen mit internationalem Schutzstatus böten (ca.30 EUR/Monat). Kalunba biete schon seit Jahren ein Wohnungsbauprogramm an. Doch mit dem Ende der AMIF-Finanzierung im Jahr 2018 seien die Zahl der von der Organisation unterstützten Personen und die Dauer der angebotenen Hilfe deutlich zurückgegangen. Im Jahr 2020 habe Kalunba rund 40 Personen mit internationalem Schutzstatus für einen befristeten Zeitraum von 3 Monaten mit Mietwohnungen unterstützt; dieser Zeitraum sei aufgrund von Covid-19 verlängert worden. Wegen der weggefallenen AMIF-Mittel verfüge das Budapest Methodological Centre of Social Polica (BMSZKI) - der Obdachlosendienstleister der Budapester Stadtverwaltung - seit 2019 nicht mehr über ein spezielles Programm für Personen mit internationalem Schutz. Die Einrichtung betreibe vorübergehende Notunterkünfte und Nachtasyle für Obdachlose, die auch für Personen mit internationalem Schutzstatus zugänglich seien. Die Notunterkünfte seien jedoch voll ausgelastet und hätten lange Wartelisten, während die Nachtunterkünfte mit 15-20 Schlafplätzen ebenfalls voll seien. Nach Ansicht des BMSZKI entsprächen diese Bedingungen nicht den Bedürfnissen der Flüchtlinge, die oft schwer traumatisiert seien und die Sprache nicht beherrschten - Dolmetscher seien nicht verfügbar; überdies könne die Einrichtung nicht garantieren, dass die Einheit der Familien gewahrt werde. Im Jahr 2020 sei niemand mit internationalem Schutzstatus in den Unterkünften der Einrichtung untergebracht gewesen. Laut dem BMSZKI wären zu Beginn des Jahres 2021 einige wenige Plätze für Personen mit internationalem Schutzstatus verfügbar gewesen. Infolge des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie sei jedoch einerseits die Nachfrage entsprechend der steigenden Arbeitslosenzahl ebenfalls sprunghaft gestiegen und andererseits habe das BMSZKI seine Kapazitäten verringern müssen, um den untergebrachten Menschen ausreichende Gesundheitsschutzmaßnahmen bieten zu können. Aufgrund der Pandemie habe es zwischen dem 17. März 2020 und Mitte Juni einen vollständigen Aufnahmestopp für Neuankömmlinge in den temporären Unterkünften gegeben. Im Sommer seien sie wieder geöffnet worden. Bis Ende des Jahres 2021 seien die Notunterkünfte wieder voll ausgelastet; die Warteliste sei wieder umfangreich. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst und die lutherische Kirche berichteten, dass die Pandemie die Personen, die internationalen Schutz genießen, mit weiteren Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche konfrontiere. Das sinkende Einkommen mache es für diejenigen, die in Privatwohnungen lebten, schwierig, alle wohnungsbezogenen Kosten zu decken. Da die wirtschaftlichen Auswirkungen auch die Vermieter beträfen, hätten Personen, die internationalen Schutz genießen, nur in Ausnahmefällen einen Aufschub bei der Zahlung der Miete erhalten.
131Zur NGO Kalunba und deren Wohnprogramm ist aktuell
132Recherche der Angaben durch die Dokumentationsstelle beim OVG NRW, Stand 27. Januar 2022
133Folgendes festzustellen: Die Webseite www.kalunba.org ist geschlossen; es ist nur eine "Sample Page", d.h. eine leere Musterseite des WordPressBlog zu sehen, die am 10. November 2020 erstellt, aber wohl niemals mit Inhalten befüllt wurde. Mit der sogenannten "Wayback Machine" des Internet Archive ist es möglich, die hinterlegte Webseite zu früheren Zeitpunkten einzusehen. Der letzte Zeitpunkt, an dem hier eine funktionierende und mit Inhalten befüllte Webseite gespeichert wurde, ist der 11. August 2020, 23:58 Uhr: https://web.archive.org/web/20200811235847/http://kalunba.org/. Über diese archivierte Seite können die einzelnen Menü-Punkte noch ausgewählt werden. Der nächste Speicherzeitpunkt am 04. Dezember 2021 zeigt die leere WordPress-Seite. Dazwischen sind keine Speicherzeitpunkte vorhanden, so dass unklar ist, wann die Webseite abgeschaltet wurde. Aufgrund des Erstelldatums der WordPress-Seite am 10. November 2020 ist zu vermuten, dass dies zwischen dem 11. August 2020 und dem 10. November 2020 geschehen ist. Es existiert noch eine Facebook-Seite von Kalunba, die unter https://www.facebook.com/kalunbacharity/ aufgerufen werden kann und als jüngsten Eintrag einen Beitrag der Organisation vom 12. März 2021 enthält. Die angegebene Verlinkung zur Website (http://kalunba.org/contact-us/) führt ins Leere. Kalunba verfügt über ein privates Instagram Konto („kalunbanonprofit“), das nur einsehbar ist, wenn man Kalunba folgt. Das Konto hat 34 Follower, es sind nur 3 Beiträge vermerkt. Auf der Website der Europäischen Union https://europa.eu/youth/volunteering/organisation/61521_de (Europäisches Jugendportal, Beschreibung der Einrichtung und Information zum Qualitätssiegel des Europäischen Solidaritätskorps) findet sich die zuletzt am 5. Oktober 2021 aktualisierte Information, dass das Qualitätssiegel für Kalunba bis zum 31. Dezember 2027 gültig sei. Die weiteren Informationen über Kalunba beziehen sich offensichtlich auf die Zeit vor 2016. Die auf der EU-Webseite für Kalunba angegebene Anschrift stimmt nicht mit den auf Facebook und der - abgeschalteten - Kalunba-Webseite angegebenen Anschriften überein, aber mit der auf der Webseite https://www.ceginformacio.hu/, einer Webseite mit Wirtschaftsauskünften, gespeicherten Anschrift. Dort ist u.a. der 5. Januar 2022 hinterlegt als "Datum der letzten Personalangabe". Demnach waren zu diesem Zeitpunkt drei Beschäftigte, ein Gesellschafter und eine Führungskraft angegeben. Die Anschrift gehört zu einem Ort etwa 50 Autokilometer von Budapest entfernt. Auf der Website von Global Ministries: https://www.globalministries.org/project/refugee_ministry_of_the_reformed_church_in_hungary/ finden sich - zusammengefasst - folgende Informationen zu Kalunba: Ab Juli 2018 seien alle EU-Mittel für Organisationen, die Migranten und Flüchtlinge unterstützten, weggefallen. Kalunba habe deshalb Personal abbauen müssen und einige seiner Programme wie das Wohnungsprogramm, Sprachkurse, Umsiedlung und Dolmetscherausbildung reduziert. Unter dem Update Februar 2020 wird weiter ausgeführt, das Kalunba-Flüchtlingswerk der reformierten Kirche in Ungarn habe nicht geschlossen, sondern die Kapazität seiner Dienste reduziert, um das Programm aufrechtzuerhalten. Auf der hinterlegten Webseite vermutlich aus Oktober/November 2020 findet sich u.a. die Information, dass Kalunba Wohnungen für anerkannte Flüchtlinge vermiete. Das Programm wähle seine Teilnehmer aus den am stärksten gefährdeten Personen aus, wie z.B. kinderreiche Familien, junge Erwachsene und junge und getrennt lebende Eltern. Diese würden am wenigsten das Vertrauen der lokalen Hausbesitzer genießen und ohne das Programm kaum Wohnungen finden, die sie individuell und nachhaltig mieten könnten. Daraus folgt jedenfalls, dass Kalunba schon Ende 2020 allenfalls einem Teil der in Ungarn befindlichen Schutzberechtigten, die zudem nach besonderen Kriterien ausgewählt wurden (kinderreiche Familien, junge Erwachsene und junge und getrennt lebende Eltern), eine Unterkunft vermitteln konnte.
134Unter Berücksichtigung all dieser Erkenntnisse steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass es den NGOs bereits im Jahr 2020 entgegen den Ausführungen im Integrationsbericht des Bundesamtes
135vgl. BAMF, Bericht zur Integration in Ungarn, Stand: Juli 2020, 15.07.2020, S. 5
136nicht mehr möglich war, eine bedarfsgerechte Versorgung für in Ungarn befindliche Schutzberechtigte auf dem Wohnungsmarkt sicherzustellen, was gleichzeitig bedeutet, dass für Rückkehrer allenfalls - wenn überhaupt - kurzfristige Plätze in Obdachlosenunterkünften privater Institutionen zur Verfügung stehen; zudem ist in diesen Unterkünften nicht sichergestellt, dass die Einheit einer Familie gewahrt wird.
137Für aus dem Ausland zurückkehrende Schutzberechtigte stellt sich das zusätzliche Problem, dass - selbst im Falle des vorübergehenden Unterkommens in einer Obdachloseneinrichtung - nicht absehbar ist, wann ihre Registrierung erfolgt und die entsprechenden Papiere zur Verfügung stehen, um überhaupt eine Chance auf dem Wohnungsmarkt für die Anmietung einer Wohnung zu haben. Die ohne Papiere und festen Wohnsitz aussichtslose Arbeitsplatzsuche, die schlechte Bezahlung selbst im Falle der erfolgreichen Jobsuche sowie der Umstand, dass die Corona-Pandemie die Verhältnisse auf dem ungarischen Arbeitsmarkt insbesondere für Migranten extrem verschlechtert haben (siehe hierzu im Folgenden unter 4.), führen hinsichtlich der Wohnungssuche zu einem Teufelskreis.
138Schließlich hat selbst das Bundesamt mit Blick auf den Zugang zum Wohnungsmarkt im Integrationsbericht vom 15. Juli 2020 die Situation von zurückkehrenden Personen, die nicht erwerbsfähig sind, jedenfalls als problematisch bewertet und ausgeführt, dass eine Einzelfallprüfung in diesen Konstellationen vor einer Rückführung auf jeden Fall angezeigt sei.
139Vgl. BAMF, Bericht zur Integration in Ungarn, Stand: Juli 2020, 15.07.2020.
140(3.) Zur Abwendung von Obdachlosigkeit und zur Sicherung des Lebensunterhalts im Übrigen können anerkannte Schutzberechtigte in Ungarn nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auf das Existenzminimum sichernde Sozialhilfeleistungen des ungarischen Staates zurückgreifen. Zwar gewährt dieser anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten soziale Unterstützungsleistungen unter denselben Bedingungen und auf dem gleichen Niveau wie für ungarische Staatsangehörige.
141Vgl. AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 130.
142Allerdings können Schutzberechtigte nach Zuerkennung des Schutzstatus (und Rückkehr aus einem anderen EU-Mitgliedstaat) diese Bedingungen nicht erfüllen. Die verschiedenen Formen der Sozialhilfe, die von der lokalen Regierung angeboten werden, setzen jeweils voraus, dass der Begünstigte bereits über eine bestimmte Anzahl von Jahren einen festen Wohnsitz in Ungarn hat. Beispielsweise ist die Vermittlung einer Sozialwohnung seitens der Kommunalverwaltung nur möglich, wenn der feste Wohnsitz in der Gemeinde mittels einer Adresskarte nachgewiesen wird, was Schutzberechtigten nach der Anerkennung allgemein nicht möglich ist. Die Gewährung von Leistungen für Arbeitssuchende setzt eine mindestens 365-tägige Versicherung (als Angestellter oder Selbständiger) in den letzten drei Jahren voraus, was bei Schutzberechtigten ebenfalls regelmäßig nicht der Fall ist.
143Vgl. AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 130f.
144Das Arbeitslosengeld wird für maximal 90 Tage gezahlt (in Höhe von 60 % der letzten Zahlung). Das Antragsformular für die Arbeitslosenunterstützung ist ausschließlich in ungarischer Sprache verfügbar und nicht einfach auszufüllen.
145Vgl. AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 130f.
146Faktisch besteht damit für anerkannte Schutzberechtigte kaum die Möglichkeit zum Bezug von Sozialhilfe.
147Im Übrigen werden Flüchtlingen oder Personen mit subsidiärem Schutz weder Wohngeld noch Ausbildungsbeihilfen oder monatliche Geldleistungen gewährt.
148Vgl. USDOS, Country Report on Human Rights Practices: Hungary, 30.03.2021, Section 2, f.
149Die Quote der unterhalb der Armutsgrenze lebenden Personen, die internationalen Schutz genießen, wird auf über 50-60 % geschätzt.
150Vgl. NIEM Policy Briefs 1, Interpretation von Datenlücken in der Studie über die soziale Integration von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 15; vgl. auch AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 131, wonach Kalunba im Jahr 2020 täglich Lebensmittelpakete für etwa 30 Personen verteilte.
151(4.) Schutzberechtigte haben grundsätzlich unter den gleichen Bedingungen Zugang zum Arbeitsmarkt wie ungarische Staatsbürger. Sie benötigen insbesondere keine Arbeitserlaubnis. Der ungarische Staat verlangt nur die Übermittlung statistischer Informationen (in einer Weise, die nicht zur Identifizierung der Person, die internationalen Schutz genießt, geeignet ist) an die Arbeitsbehörde. Schutzberechtigte fallen zusammen mit EU/EWR-Bürgern und anderen Gruppen, die eine Vorzugsbehandlung genießen, unter die Kategorie der Ausländer, die ohne Arbeitserlaubnis beschäftigt werden können. In Anbetracht der sehr geringen Anzahl von Personen mit internationalem Schutz, die in Ungarn leben (im Vergleich zu EU/EWR-Bürgern) ist es allerdings nicht möglich, ihre Zahl aus den verfügbaren Statistiken zu ermitteln.
152Vgl. NIEM Policy Briefs, National Report on the Integration of Beneficiaries of International Protection in Hungary, 2017-19, S. 17, S. 20.
153Obwohl es keinerlei staatliche Maßnahmen zur Integration Schutzberechtigter in den Arbeitsmarkt gab und gibt, hatte sich die Situation für ausländische Arbeitnehmer aufgrund der Entwicklungen der ungarischen Wirtschaft einerseits und des Beitritts Ungarns zur Europäischen Union und insbesondere der Aufhebung der Beschränkungen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer andererseits grundsätzlich positiv entwickelt. Insbesondere EU-Gelder, die in die ungarische Wirtschaft flossen, hatten ein bedeutendes Wirtschaftswachstum zur Folge, vor allem in arbeitsintensiven Sektoren, wie dem Baugewerbe und dem Dienstleistungssektor (Handel und Tourismus). Da viele ungarische Staatsangehörige gleichzeitig die Freizügigkeitsregelungen nutzten, um (lukrativere) Arbeitsangebote in anderen (meist westeuropäischen) EU-Mitgliedstaaten wahrzunehmen, konnte die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften nicht mehr allein von ungarischen Staatsangehörigen befriedigt werden. Trotz der bereits bestehenden negativen Einstellung gegenüber Migranten in der ungarischen Gesellschaft und des zunehmend einwanderungsfeindlichen politischen Klimas gelang es aufgrund des allgemeinen Arbeitskräftemangels den arbeitsfähigen und -willigen Schutzberechtigten in der Regel relativ zügig eine Arbeitsstelle zu finden.
154Vgl. NIEM Policy Briefs, National Report on the Integration of Beneficiaries of International Protection in Hungary, 2017-19, S. 17, S. 20.
155Allerdings wirkt sich eine Besonderheit der ungarischen Beschäftigungsstruktur generell negativ auf die Beschäftigungsmöglichkeiten von Schutzberechtigten aus. Die Gesamtzahl der Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung, dem Bildungs- und Gesundheitswesen beträgt in Ungarn 21,5 %. Der größte Arbeitgeber der Sozialverwaltung ist der ungarische Staat. Da gemäß § 10 Abs. (2) b) des geltenden Asylgesetzes LXXX von 2007
156abrufbar in englischer Fassung unter https://www.asylumlawdatabase.eu/sites/default/files/aldfiles/EN- Act LXXX of 2007 on Asylum Hungary.pdf,
157ein Schutzberechtigter jedoch keine Tätigkeit oder Verantwortung übernehmen und kein Amt bekleiden darf, dessen Ausübung oder Innehaben gesetzlich an die ungarische Staatsangehörigkeit gebunden ist, können Flüchtlinge in diesem - relativ großen - Bereich keine Arbeit finden.
158Vgl. NIEM Policy Briefs 2: Vulnerabilität und Diskriminierung bei der Beschäftigung von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 8ff; NIEM Policy Briefs 3: Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Arbeitsmarktsituation von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 9.
159Weiter lässt sich vor allem aus den Erfahrungen der NGOs, die bis Ende Juni 2018 mehrere Projekte durchführten, um die Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt für Personen mit internationalem Schutz zu verringern (durch Schulungen, soziale und rechtliche Beratung sowie Nachhilfeunterricht und Kompetenzentwicklung in Ungarisch), schließen, dass Schutzberechtigte aufgrund der faktisch nicht vorhandenen Möglichkeit der Anerkennung von Qualifikationen und der sprachlichen Probleme am ehesten eine Beschäftigung in ungelernten Berufen und damit im unteren Segment des Arbeitsmarkts finden.
160Vgl. NIEM Policy Briefs, National Report on the Integration of Beneficiaries of International Protection in Hungary, 2017-19, S. 17, S. 23.
161Sie werden typischerweise in den Bereichen Gastgewerbe, Tourismus und Baugewerbe beschäftigt, etwa als Küchenhilfen, Hotelreiniger oder ungelernte Arbeiter. Branchenspezifisch für diese Bereiche ist die Beschäftigung zum Mindestlohn und mit einer Anzahl von Arbeitsstunden, die nicht der Realität entspricht. Häufig besteht deshalb für Flüchtlinge und Schutzberechtigte, die - wie regelmäßig - kein Kontaktnetz und keine Unterstützung in Ungarn haben, die einzige Möglichkeit ihren Lebensunterhalt sicherzustellen darin, Jobs in der Schattenwirtschaft anzunehmen.
162Vgl. NIEM Policy Briefs 3: Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Arbeitsmarktsituation von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 14; vgl. auch RESPOND, Paper 2020/43 Reception Policies, Practices and Responses, 01.02.2020, S. 25, wonach die Löhne, die für Flüchtlinge gezahlt werden, weit unter dem Durchschnitt liegen und Ausbeutung am Arbeitsplatz keine Seltenheit sei.
163Die Corona-Pandemie hat allerdings gerade den Tourismus und das Gastgewerbe am stärksten getroffen. Viele Menschen in diesen Bereichen, darunter auch Schutzberechtigte haben zwischenzeitlich ihren Arbeitsplatz verloren.
164Vgl. NIEM Policy Briefs 3: Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Arbeitsmarktsituation von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 17f; BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation Ausgewählte Dublin-Länder, Balkan und Ukraine aktuelle Lage in Zusammenhang mit COVID-19, 17.07.2020, S. 2.
165Im Gegensatz zu früher liegen nun auch für die freien Stellen in diesen Branchen ausreichend Bewerbungen ungarischer Staatsbürger vor, die wegen ihrer Sprachkenntnisse Personen mit internationalem Schutz vorgezogen werden.
166Vgl. AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 128.
167Die Regierung hat den Folgen des pandemiebedingten Konjunktureinbruchs allerdings mit Maßnahmen zur Kostenentlastung und Stärkung der Liquidität der Unternehmen entgegengewirkt. So mussten Arbeitgeber in den besonders hart getroffenen Branchen vorübergehend keine oder ermäßigte Sozialversicherungsbeiträge entrichten. Ferner hat die Regierung Kurzarbeit eingeführt, bei der unter bestimmten Bedingungen bis zu 70 Prozent der Lohnkosten für drei Monate übernommen werden konnten. Diese Maßnahme lief Anfang 2021 aus. Verlängert wurde der Anspruch auf Lohnzuschüsse bei Kurzarbeit nur für einige weitere Monate für Branchen, die besonders von den im November 2020 verhängten Geschäftsschließungen betroffen waren. Dazu gehören vor allem das Gastgewerbe und die Gastronomie. Besondere Unterstützung gibt es für Beschäftigte in Forschung und Entwicklung, wie Ingenieure, Wissenschaftler oder Informatiker, um deren Abwanderung zu verhindern.
168Vgl. Waldemar Lichter, Arbeitsmarkt, Lohn- und Lonnebenkosten/Ungarn, 11.06.2021, abrufbar unter: https://www.gtai.de.
169Wie sich die Pandemie langfristig auf die Arbeitsmöglichkeiten für Schutzberechtigte auswirken wird, ist schwierig zu prognostizieren; im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung haben sich nach den aktuellen Erkenntnissen die Chancen Schutzberechtigter auf einen Arbeitsplatz, der es ermöglicht, den Lebensunterhalt in Ungarn zu sichern, jedenfalls deutlich verschlechtert.
170(5.) Bezüglich der Gesundheitsversorgung sind anerkannt Schutzberechtigte nach dem ungarischen Gesundheitsgesetz den ungarischen Staatsangehörigen gleichgestellt. In Ungarn existiert ein allgemeiner Versicherungsschutz in den Bereichen Krankheit, Mutterschutz, Alter, Invalidität, Berufskrankheiten und -unfälle, Hinterbliebene, Kindererziehung und Arbeitslosigkeit; allerdings werden nur Personen, die erwerbstätig sind per Gesetz Mitglied der Versicherung.
171Vgl. BAMF, Bericht zur Integration in Ungarn, S. 7, Stand: Juli 2020, 15.07.2020.
172In den ersten sechs Monaten nach der Zuerkennung des Schutzstatus besteht nur ein Anspruch auf Versorgung unter den für Asylbewerber geltenden Bedingungen.
173Vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 131f.
174Das bedeutet, dass die Asylbehörde die Kosten für die Gesundheitsversorgung der Schutzberechtigten für sechs Monate übernimmt, wenn sie bedürftig sind und - was regelmäßig der Fall sein dürfte - keine andere Form der Krankenversicherung abschließen können.
175Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Ungarn, Gesamtaktualisierung 26.02.2020, Stand: 09.03.2020, S. 21.
176Allerdings wird nach Berichten der NGOs diese Form der Kostenübernahme von den Leistungserbringern im ungarischen Gesundheitswesen nicht akzeptiert. Auch wurde nach Angaben der Evangelisch-Lutherischen Kirche und von Menedék, die medizinische Versorgung von Schutzberechtigten, die in einer der Obdachlosenunterkünfte des Baptistischen Integrationszentrums lebten, willkürlich vom zuständigen Arzt verweigert, mit der Folge, dass ein Flüchtling trotz schwerwiegender Symptome keine medizinische Versorgung erhalten habe.
177Vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01.04.2021, S. 131f.
178Im Übrigen bestehen erhebliche tatsächliche Hindernisse beim Zugang zur Gesundheitsversorgung, insbesondere aufgrund von Sprachschwierigkeiten, die nur durch die - mittlerweile stark eingeschränkte - Tätigkeit von NGOs (hierzu unter 6.) überbrückt werden könnten.
179Schließlich haben die jüngsten Änderungen des Sozialversicherungsgesetzes zur Folge, dass der Krankenversicherungsanspruch von später aus anderen EU-Mitgliedstaaten zurückgeführten Personen, die zunächst internationalen Schutz in Ungarn erhalten hatten, erlischt. Etwaige Kosten für eine zeitnah nach der Einreise erforderliche medizinische Behandlung sind deshalb von den Schutzberechtigten selbst zu tragen.
180Vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 131.
181Selbst für in Ungarn verbleibende Schutzberechtigte bestehen große Schwierigkeit innerhalb angemessener Zeit eine Krankenversicherungskarte zu erhalten, da dies voraussetzt, dass eine Identitäts- und Adresskarte ausgestellt wurde.
182Vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01.04.2021, S. 131.
183Psychiatrische, psychotherapeutische, psychologische Behandlung und psychosoziale Beratung für Folterüberlebende und schwer traumatisierte Asylbewerber, Flüchtlinge und ihre Familienangehörigen werden grundsätzlich von der Cordelia-Foundation geleistet.
184Vgl. Beschreibung der Stiftung, abrufbar unter: https://cordelia.hu
185Die gemeinnützige Stiftung ist die einzige zivile Organisation in Ungarn, die diese Betreuung anbietet. Sie finanziert ihre Tätigkeit durch Zuschüsse und Fonds, wobei Hauptgeber die EU, das OHCHR der Vereinten Nationen und UNHCR sind. Allerdings konstatierte die Stiftung bereits im Jahr 2018, dass NGOs, die in Ungarn Flüchtlinge unterstützten, in einem sehr ungünstigen, sogar feindseligen politischen und gesellschaftlichen Klima arbeiteten. Die ungarische Regierung benutze Migranten konsequent als öffentliche Sündenböcke; es gebe eine systematische Demontage des Asyl- und Integrationssystems für Schutzberechtigte in Ungarn. NGOs wie Cordelia würden schrittweise in ihrer Arbeit eingeschränkt, indem ihnen oft der physische Zugang zu den Zielgruppen verweigert werde. Da Schutzberechtigten jegliche staatliche Unterstützung nach der Anerkennung verweigert werde, müssten die NGOs die Lücke in den Diensten ausgleichen, indem sie Wohnprogramme, Rechtshilfe, Sozialfürsorge, psychologische Betreuung usw. anbieten. Die 2018 eingeführten politischen Maßnahmen und das durch die Regierungspolitik entstandene allgemein feindselige Umfeld hätten tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Arbeit von Cordelia und den Zugang zu den Schutzberechtigten sowie auf deren psychischen Gesundheitszustand. Traumatisierte Flüchtlinge oder solche, die mit psychischen Problemen zu kämpfen hätten (nach internationalen Schätzungen etwa 30-50 % aller Schutzberechtigten), hätten zunehmend Schwierigkeiten, selbst das sehr begrenzte Angebot an Dienstleistungen der NGOs zu finden und zu nutzen.
186Vgl. Cordelia Foundation, Report on the mental health conditions of beneficiaries of international protection and asylum seekers in Hungary, 2018, abrufbar unter https://cordelia.hu
187Mit Blick auf diese Auskunftslage sind zumindest Zweifel angebracht, ob die Feststellung des Bundesamtes allen in Ungarn sich aufhaltenden Personen stehe unabhängig von Aufenthaltsstatus und Staatsangehörigkeit eine Notfallversorgung in dringenden Fällen zur Abwendung von lebensgefährdenden, schweren oder bleibenden Gesundheitsschäden sowie zur Linderung von Schmerzen und Leiden zur Verfügung,
188Vgl. BAMF, Bericht zur Integration in Ungarn, S. 7, Stand: Juli 2020, 15.07.2020.
189im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch zutrifft.
190(6.) Die Hilfsangebote der Nichtregierungsorganisationen für Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn sind zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nur noch sehr eingeschränkt vorhanden und schwer zugänglich. Ausgenommen davon sind Programme für Personen, die aufgrund ihrer Herkunft mit Ungarn verbunden sind oder die aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit für förderungswürdig befunden werden.
191Vgl. Aufnahmeprogramm für ausgewiesene venezolanische Bürger ungarischer Abstammung oder Aufnahme verfolgter Christen, NIEM Policy Briefs 10: Flüchtlinge, die sich selbst helfen? Die Rolle der Organisationen (NGOs) für Personen mit internationalem Schutzstatus und Einwanderer in Ungarn, S. 9.
192Die ungarische Regierung verfolgt seit dem Jahr 2015 einen sicherheitsorientierten Ansatz und erklärt die Migration u.a. als verantwortlich für Terrorismus. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban vertritt öffentlich die Auffassung, jede Art von Migration sei an sich schlecht; die Menschen sollten dort glücklich werden, wo sie "infolge der Bestimmung Gottes" geboren seien; in Zeiten der Pandemie sei die Migration besonders gefährlich, weshalb er vorschlage, zwei Jahre lang keinerlei Migration zu erlauben.
193Vgl. Redaktionsnetzwerk Deutschland, Orban will jede Art von Migration für zwei Jahre verbieten, 11.06.2021, abgerufen am 24.01.2022 unter https://www.rnd.de.
194Begleitet von jahrelangen fremdenfeindlichen, öffentlich finanzierten Hasskampagnen wurden und werden Personen und Organisationen angegriffen und bedroht, die sich für die Rechte von Migranten einsetzen.
195Vgl. HHC, Shadow Report to the Ganhri Sub-Committee on Accreditation, 18.02.2021, S. 15f.
196Die Regierung stigmatisiert NGOs als „ausländische Agenten“ oder „Soros-Agenten“ und macht sie häufig zum Sündenbock für Entwicklungen, die für die Regierung ungünstig sind oder in den Augen der Öffentlichkeit als unpopulär gelten.
197Vgl. https://freedomhouse.org/country/hungary/freedom-world/2021, abgerufen am 26.01.2022; NIEM Policy Briefs 10: Flüchtlinge, die sich selbst helfen? Die Rolle der Organisationen (NGOs) für Personen mit internationalem Schutzstatus und Einwanderer in Ungarn, S. 7, 8.
198Anfang 2018 zog das ungarische Innenministerium alle vom AMIF (Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds, der die EU-Mitgliedstaaten bei der Umsetzung ihrer Asyl- und Migrationspolitik unterstützt, errichtet vom Europäischen Parlament und Rat der Europäischen Union) finanzierten Ausschreibungen zurück mit der Folge, dass bis zum 30. Juni 2018 alle Programme, deren Integrationsförderung auf diese Finanzierung angewiesen waren, eingestellt wurden. Dies wirkte sich dramatisch auf die meisten Aktivitäten der zivilgesellschaftlichen Organisationen (NGOs, kirchliche Organisationen) aus, die zuvor nahezu ausschließlich auf AMIF-Projekten basierten. Allein für die Kalunba Non-Profit GmbH in Budapest brachen Fördermittel in Millionenhöhe weg.
199Vgl. Wir ermutigen die Menschen zu bleiben, Reformierte Kirche in Ungarn: Flüchtlingsprojekt "Kalunba" kämpft um Fördermittel sowie: Wir haben keine Flüchtlingskrise - wir haben eine Solidaritätskrise abgerufen am 18.01.2022 unter https://www.reformiert-info.de.
200Von 15 Interessenvertretungsorganisationen mit Migrationshintergrund waren im Jahr 2020 noch vier tätig; sieben Organisationen haben ihre Tätigkeit im Zeitraum nach 2010 eingestellt.
201Vgl. NIEM Policy Briefs 10: Flüchtlinge, die sich selbst helfen? Die Rolle der Organisationen (NGOs) für Personen mit internationalem Schutzstatus und Einwanderer in Ungarn, S. 14, 15.
202MigSzolg, die 2010 gegründet, aber nicht als formelle Organisation registriert wurde, spielte bis etwa 2015-2015 eine wichtige Rolle bei der Integration von Migranten.
203Vgl. NIEM Policy Briefs 10: Flüchtlinge, die sich selbst helfen? Die Rolle der Organisationen (NGOs) für Personen mit internationalem Schutzstatus und Einwanderer in Ungarn, S. 15.
204Im April 2018 verkündete MigSzol faktisch die Einstellung der Tätigkeit aufgrund der nur noch geringen Kapazitäten; es wird beklagt, dass in der aktuellen, von der Regierung geschaffenen Situation für NGOs kein Handlungsspielraum mehr bestehe.
205Vgl. www.migszol.com, Migszol-Blog, Desperate times call for new measures, 24.04.2018, abgerufen am 26.01.2022.
206Im Juni 2020 stellte der EuGH fest, dass das Gesetz zur Transparenz von Organisationen von 2017 (sogenanntes Stop- Soros-Gesetz bzw. LEXNGO), das von Organisationen, die Spenden aus dem Ausland erhalten, verlangt, sich als solche registrieren zu lassen, mit der EU-Rechtsprechung nicht vereinbar sei. Über zehn Monate nach dieser Entscheidung wurde das Gesetz zwar vom ungarischen Parlament aufgehoben, gleichzeitig erließ die Regierung aber ein neues Gesetz, das das staatliche Rechnungsprüfungsamt dazu verpflichtet, jährlich über den finanziellen Status von NGOs, die die "Bevölkerung beeinflussen", zu berichten.
207Vgl. AI, Ungarn, Neue Gefahren nach Aufhebung des Anti-NGO-Gesetzes, https://www.amnesty-eu-laender.de, 2021/05, abgerufen am 27. Januar 2022.
208Amnesty International (AI) fasst die Auswirkungen des LEXNGO so zusammen, dass zwar einerseits nur eine begrenzte Anzahl von NGOs direkte rechtliche Konsequenzen erfahren habe, dass aber andererseits die bloße Bedrohung durch das Gesetz in Kombination mit dem vorherrschenden politischen Klima die Aktivitäten der betroffenen NGOs stark eingeschränkt habe. Leiter von NGOs hätten im Oktober 2020 gegenüber AI erklärt, dass staatliche und kommunale Kindergärten und Schulen die bisherige Zusammenarbeit mit "ausländisch finanzierten" NGOs aus Angst vor politischen Konsequenzen beendet hätten. Weiter berichtet AI, es sei zu beobachten, dass Beamte aus Angst vor persönlichen Nachteilen ihre Zusammenarbeit mit NGOs einschränkten; zudem hätten die Organisationen Mitglieder verloren, insbesondere Staatsbedienstete und Spenden von ungarischen Gebern seien zurückgegangen. Organisationen mit Sitz außerhalb von Budapest seien mit einer noch schwierigeren Situation konfrontiert, da die Verabschiedung des LEXNGO dort ein besonders ausgeprägtes Klima der Feindseligkeit gegenüber "ausländisch gegründeten" NGOs geschaffen und dazu geführt habe, dass lokale Behörden die Zusammenarbeit mit NGOs verweigerten. Auch wenn das Gesetz - ungewollt - den positiven Effekt internationaler Solidarität und finanzieller Unterstützung für NGOs gehabt habe, seien die kumulativen Wirkungen auf NGOs in Ungarn überwiegend negativ gewesen, einschließlich eines weit verbreiteten Abschreckungseffekts, Selbstzensur und Spaltungen innerhalb der zivilgesellschaftlichen Gruppen.
209Vgl. AI, Auswirkungen des Gesetzes zur Einschränkung von NGOs, 01.04.2021.
210Zur speziellen Situation der Arbeit von NGOs im Bereich der Unterbringungs- und Wohnmöglichkeiten für Schutzberechtigte sowie der psychologischen Betreuung wird auf die Ausführungen im Einzelnen unter (2.) und (5.) Bezug genommen.
211Zusammenfassend stellt sich die Situation so dar, dass zwar noch einzelne NGOs sich im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten für in Ungarn befindliche, anerkannte Schutzberechtigte einsetzen (Menedék, BMSZKI, Kalunba?, Cordelia Foundation, HHC) und durchaus engagiert bemüht sind, die Lücken, die durch die Verweigerung jeglicher staatlicher Unterstützung in allen Bereichen entstanden sind, auszugleichen. Vor allem im Wohnungssektor beschränkt sich ihr Angebot aber auf Nothilfen in Ausnahmefällen für einen begrenzten Personenkreis. Auch die sonstigen Sozialleistungen, psychologische Versorgung sowie allgemeine Integrationsleistungen, insbesondere im Bildungssektor sind real nicht oder nur noch schwer erreichbar und werden aufgrund gezielter Maßnahmen des ungarischen Staates so behindert, dass von keiner längerfristigen Sicherheit der Unterstützungsleistungen ausgegangen werden kann. Noch schwerer zugänglich sind die Angebote der NGOs für aus einem EU-Mitgliedstaat zurückkehrende Schutzberechtigte, da staatlicherseits eine Kontaktaufnahme in keiner Weise unterstützt oder gefördert, sondern im Gegenteil behindert wird.
212Aufgrund der geringen Zahl von Langzeitzuwanderern in Ungarn haben sich überdies keine großen Zuwanderergemeinschaften gebildet, insbesondere keine muslimisch geprägten, die Schutzberechtigte unterstützen könnten.
213Vgl. NIEM Policy Briefs 6: Ressourcen und Strategien für die erfolgreiche soziale Integration von muslimischen Frauen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 5.
214(7.) Das Gericht kann in diesem Verfahren im Ergebnis offen lassen, ob sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die aktuelle Situation für alle Schutzberechtigten, also auch für alleinstehende, arbeitsfähige, nicht vulnerable Personen so darstellt, dass im Fall ihrer Rücküberstellung nach Ungarn die beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC ausgesetzt sein werden.
215Vgl. zur Rechtsprechung betreffend die Rückführung von Schutzberechtigten nach Ungarn: Klageabweisung: VG Frankfurt (Oder), Gerichtsbescheid vom 11. September 2020 und Urteil vom 13. November 2020 - VG 10 K 1594/18.A -, Ehepaar, junge, gesunde, uneingeschränkt arbeitsfähige Erwachsene, nachfolgend: BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 - 1 C 3/21 -, wobei das BVerwG von den - bindenden tatsächlichen - Feststellungen des Verwaltungsgerichts ausgeht, dass die Unterstützungs- und Hilfeleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Institutionen oder Organisationen tatsächlich hinreichend geeignet seien, eine Situation extremer materieller Not abzuwenden; sämtlich juris; VG Ansbach, Urteil vom 22. Oktober 2020 - AN 17 K 19.51160 -, junger, uneingeschränkt arbeitsfähiger Mann; VG Cottbus, Urteil vom 14. November 2019 - VG 5 K 1962/18.A -, Ehepaar mit Kind; VG Cottbus, Urteil vom 1. Oktober 2019 - VG 5 K 1598/18.A - junger, arbeitsfähiger Mann; VG Ansbach, Urteil vom 12. September 2019 - AN 17 K 18.50204 -, Ehepaar mit Kind; sämtlich beck-online; stattgebende Entscheidungen: VG Ansbach, Urteil vom 22. Oktober 2020 - AN 17 K 18.50922 -, junger Erwachsener mit psychischen Erkrankungen u. sonstigen krankheitsbedingten Einschränkungen, juris; VG Magdeburg, Urteil vom 23. September 2019 - 8 A 24/19 - , Familie mit drei minderjährigen Kindern; VG Köln, Urteil vom 12. September 2019 - 20 K 13894/17.A -, junger, arbeitsfähiger Mann; VG München, Urteil vom 7. Februar 2019 - M 2 K 17.49621 -, alleinstehende Mutter mit siebenjähriger Tochter; sämtlich beck-online; VG Magdeburg, Urteil vom 10. Oktober 2018 - 1 B 528/18 -, alleinstehende Mutter mit einem Kleinstkind, juris.
216Zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) stellt sich bei Gesamtbetrachtung aller Umstände die Situation anerkannter Schutzbedürftiger in Ungarn insgesamt zunehmend schwierig dar. Auch wenn diese nach ihrer Rückkehr nach Ungarn dort weiterhin als Schutzberechtigte behandelt werden - was insbesondere für afghanische und syrische Staatsangehörige nach Ablauf des Schutzstatus nach drei Jahren fraglich ist, da die ungarischen Asylbehörden in diesen Fällen vermehrt auf Kabul bzw. Damaskus als innerstaatliche Schutzalternative verweisen -
217vgl. hierzu Vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01.04.2021, S. 119,
218existieren keine den Lebensunterhalt sichernden staatlichen Sozialleistungen. Den Rückkehrern steht zwar der ungarische Arbeitsmarkt mit Ausnahme des relativ großen Sektors der öffentlichen Verwaltung, des Bildungs- und Gesundheitswesens, der nur ungarischen Staatsangehörigen zugänglich ist, offen. Grundsätzlich bestehen auch gewisse Chancen zur Beschäftigung. Aber selbst eine mit dem ungarischen Mindestlohn entlohnte Tätigkeit deckt in vielen Fällen nicht die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten für eine Person, was sich in der Quote der unter der Armutsgrenze lebenden Schutzberechtigten, die auf über 50-60% geschätzt wird, widerspiegelt. Die einzige Möglichkeit der Lebensunterhaltssicherung besteht häufig in der Annahme von illegalen Arbeitsangeboten. Die Unterbringung für anerkannte Schutzberechtige erweist sich als schwierig bis unmöglich. Staatliche Unterbringungsmöglichkeiten für Schutzberechtigte existieren ebenso wenig wie staatliche Unterstützungsleistungen für die Anmietung von Wohnraum. Der Krankenversicherungsanspruch für zurückgeführte Schutzberechtigte ist erloschen, eine kostenlose medizinische Notversorgung ist nach der Erkenntnislage nicht ausnahmslos gewährleistet. Nach allem wird auch für alleinstehende, nicht vulnerable Personen im Einzelfall zu prüfen sein, in welchem Umfang die in Ungarn aktuell noch erreichbaren Leistungen durch nichtstaatliche Hilfs- und Unterstützungsorganisationen auch im Zeitverlauf gesichert sind, um bei der Gefahrenprognose gänzlich fehlende staatliche Existenzsicherungsleistungen ersetzen zu können, und unter welchen Voraussetzungen solche Leistungen unbeachtlich sind, etwa wenn sie sich auf Nothilfe in Ausnahmefällen für einen begrenzten Personenkreis beschränken, sie real nicht oder nur schwer erreichbar sind oder - wie in Ungarn - gezielte staatliche Maßnahmen, welche die Tätigkeit solcher Hilfsorganisationen zu behindern oder zu untersagen bestimmt sind, zu beachtlichen Einschränkungen der Unterstützungstätigkeit führen.
219Vgl. BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 - 1 C 3/21 -, juris Rn. 29, im konkreten Fall offen gelassen.
220Die Mindestsicherung auf dem durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC gebotenen Niveau muss zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) auch für einen zeitlich erweiterten Prognosespielraum feststehen, denn wie die Art. 20 ff der RL 2011/95/EU (Anerkennungsrichtlinie) verdeutlichen ist der Inhalt des internationalen Schutzes perspektivisch auf einen dauerhaften Aufenthalt von jedenfalls einem bzw. drei Jahren und gegebenenfalls länger angelegt (vgl. Art. 24 der RL 2011/95/EU).
221Vgl. insoweit auch BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 - 1 C 4.20 -, juris Rn 37, 45 für den Begriff der Niederlassung am Ort des internen Schutzes.
222Dabei ist einerseits sicherzustellen, dass die wirtschaftliche Existenz auf dem durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC geforderten Niveau auch in der ersten Phase des Aufenthalts im Mitgliedstaat prognostisch gesichert sein muss; eine auch nur zeitweilige Unterschreitung dieses Niveaus ist selbst in einer Phase allfälliger anfänglicher Schwierigkeiten auszuschließen. Andererseits ist ein wie auch immer bestimmter "Sicherheitsaufschlag" auf das durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC gewährleistete wirtschaftliche Existenzminimum als Voraussetzung für die Rückkehr auch nicht zur "Abfederung" von Prognoseschwierigkeiten oder -unsicherheiten zu rechtfertigen.
223Vgl. insoweit auch BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 - 1 C 4.20 -, juris Rn 46.
224Gemessen daran ist jedenfalls für die Situation der Gruppe der nicht uneingeschränkt arbeitsfähigen, ggf. vulnerablen Personen unter Berücksichtigung der Erkenntnislage und ihres regelmäßig besonderen Bedarfs in aller Regel nicht davon auszugehen, dass sie die für die Schaffung adäquater, menschenwürdiger Lebensverhältnisse in Ungarn erforderliche besondere Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit aufbringen und ihren Lebensunterhalt zumindest auf niedrigem Niveau für den zugrunde zulegenden zeitlich erweiterten Prognosespielraum durch Arbeit sicherstellen können werden. Maßgeblich ist dabei eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls um das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK erforderliche "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) zu ermitteln.
225Vgl. BayVGH, Beschluss vom 25. Juni 2019 - 20 ZB 19.31553 -, juris Rn 10.
226bb) Im Hinblick auf die besonderen Umstände des Einzelfalls steht vorliegend zur Überzeugung der Kammer (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) fest, dass die Kläger zur Gruppe der besonders schutzbedürftigen Personen gehören, denen ohne eine konkret-individuelle Zusicherung einer längerfristigen Unterbringung und Versorgung von Seiten Ungarns mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung droht.
227Dabei ist für die Prognose der bei einer Rückkehr nach Ungarn drohenden Gefahren nicht der Asylantragsteller als Einzelperson zu betrachten, sondern bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband zurückkehrt und zwar auch dann, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist. Insoweit ist vorliegend für die Rückkehrprognose zu unterstellen, dass die in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Kläger zu 1. und 2. sowie ihre insgesamt drei minderjährigen Kinder, die 2014 und 2017 geborenen Kläger zu 3. und 4. sowie der im Oktober 2019 "nachgeborene" Sohn (Az. 0000000-000 sowie VG B. , 0 X 0000/00 und 0 X 0000/00) gemeinsam zurückkehren würden, ohne dass es darauf ankommt, ob der "nachgeborene" Sohn - mit Blick auf das fehlende (fristgerechte) Aufnahmegesuch und die Zuständigkeit der Beklagten für dessen Asylgesuch -
228vgl. BVerwG, Urteile vom 25. Mai 2021 - 1 C 2/20 - und vom 23. Juni 2020 - 1 C 37/19 -, juris,
229überhaupt nach Ungarn abgeschoben werden könnte.
230Nach der Erkenntnislage steht fest, dass die Suche nach einer geeigneten menschenwürdigen Unterkunft für die fünfköpfige Familie ohne staatliche Hilfe und ohne Einkommen überaus schwierig bis aussichtslos sein wird. Es fehlt bereits an der notwendigen Sicherstellung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage auf dem durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC geforderten Niveau in der ersten Phase des Aufenthalts, da weder staatliche Unterbringungs- oder Unterstützungsleistungen noch gesicherte Leistungen privater Organisationen für Rückkehrer zur Verfügung stehen. Die fünfköpfige Familie wäre also völlig auf sich selbst gestellt. Nach der Erkenntnislage steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die in Ungarn noch tätigen NGOs und sonstigen Hilfsorganisationen allenfalls alleinstehenden Männern und in Ausnahmesituationen alleinstehenden Frauen eine vorübergehende Unterbringungsmöglichkeit bieten können, aber nicht Familien und Paaren mit Kindern. Mit den ihnen aktuell noch zur Verfügung stehenden Mitteln können die zivilen Organisationen nach den vorliegenden Erkenntnissen bereits den Bedarf der in Ungarn befindlichen anerkannten Schutzberechtigten nicht mehr decken. Gleiches gilt für die Sicherung des Lebensunterhalts. Aufgrund der geringen Zahl von Langzeitzuwanderern in Ungarn haben sich auch keine Zuwanderergemeinschaften gebildet, jedenfalls keine muslimisch geprägten, von denen die Kläger Unterstützung erhalten könnten und die das in Ungarn für eine soziale Absicherung wichtige - Schutzberechtigten typischerweise fehlende - familiäre Netzwerk ersetzen könnten. Irgendwelche Kontakte der Kläger zu in Ungarn befindlichen Personen, die sie unterstützen könnten, sind weder ersichtlich noch vorgetragen.
231Selbst wenn es gelingen sollte, die Familie der Kläger für eine gewisse Übergangszeit vorübergehend unterzubringen und zu versorgen und dies mit Blick auf die Kinder für ausreichend und zumutbar erachtet würde, ist es zur Überzeugung der Kammer (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nicht beachtlich wahrscheinlich, dass es den Klägern zu 1. und zu 2. gelingen wird, für den in den Blick zu nehmenden erweiterten Prognosespielraum den Lebensunterhalt der fünfköpfigen Familie zumindest auf einem Niveau sicher zu stellen, das eine existenzielle Notlage ausschließen wird. Da nach den dargelegten Erkenntnissen bedarfssichernde Sozialleistungen des ungarischen Staates nicht existieren bzw. erreichbar sind, wird die Familie den Lebensunterhalt ausschließlich durch eigene Erwerbstätigkeit sicherstellen müssen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Bedarf der Familie mit Blick auf die Notwendigkeit einer kindgerechten Unterbringung der Kinder im Alter von acht, fünf und zwei Jahren deutlich erhöht ist. Es ist aber nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger zu 1. und zu 2. eine Arbeit finden werden, aus deren Einkünften dieser ‑ erhöhte - Bedarf der Familie im Sinne eines absoluten Existenzminimums gedeckt werden kann. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass sowohl der Kläger zu 1. als auch die Klägerin zu 2. Analphabeten sind, die keine Schule besucht haben und ausschließlich Sorani (Kurdisch-Zentral) sprechen. Allein aufgrund der Sprachprobleme, aber auch aufgrund der fehlenden beruflichen Qualifikation werden weder der Kläger zu 1. noch die Klägerin zu 2. auf dem coronabedingt veränderten und angespannten ungarischen Arbeitsmarkt in naher Zukunft eine Chance haben, ein Einkommen zu erwirtschaften, das die menschenwürdige Unterbringung und die Versorgung der fünfköpfigen Familie sicherstellen könnte. Die Klägerin zu 2. wird schon aufgrund ihrer Sprachschwierigkeiten, ihrer muslimischen Religionszugehörigkeit und ihrer eingeschränkten Einsatzfähigkeit als Analphabetin bei realistischer Betrachtung nicht auf dem Arbeitsmarkt bestehen können, zumindest nicht in den Bereichen, die anerkannt Schutzberechtigten in erster Linie offenstehen (Baugewerbe, Gastronomie und Tourismus).
232Vgl. zu den - aufgrund der soziokulturellen Unterschiede im Vergleich zu ungarischen Frauen - schlechteren Chancen geflüchteter Frauen, einen Arbeitsplatz zu finden: NIEM Policy Briefs 2: Vulnerabilität und Diskriminierung bei der Beschäftigung von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 14; zur Auswirkung der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie: NIEM Policy Briefs 6: Ressourcen und Strategien für die erfolgreiche soziale Integration von muslimischen Frauen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn.
233Auch der Kläger zu 1. wird aufgrund der Sprachschwierigkeiten und des Umstandes, dass er weder lesen noch schreiben kann und über keine sonstigen beruflichen Qualifikationen verfügt, allenfalls im untersten Lohnsektor etwa im Baugewerbe eine Arbeit finden können, die es ihm sicher nicht ermöglichen wird, den erhöhten Mindestunterhalt der Familie zu decken.
234Darüber hinaus wird den Klägern zu 1. und zu 2. die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit wegen der erforderlichen Betreuung der Kinder, für die im ungarischen Bildungssystem - wenn überhaupt - nur sehr eingeschränkte Kapazitäten zur Verfügung stehen, nur in beschränktem zeitlichem Umfang möglich sein.
235Vgl. zur Betreuungssituation schulpflichtiger Kinder: AIDA, Country Report: Hungary, 01. April 2021, S. 129; RESPOND, Paper 2020/43, S. 25; danach ist kaum eine Schule bereit, die spezielle Betreuung und Unterstützung anzubieten, die Flüchtlingskinder benötigen; wegen der wachsenden flüchtlingsfeindlichen Stimmung und aus Angst Eltern oder Spender zu verlieren, akzeptieren einige Schulen Kinder von Migranten nur in getrennten Klassen, ohne ein sinnvolles pädagogisches Programm und nur für zwei Stunden pro Tag im Gegensatz zu ungarischen Kindern, die fünf bis sieben Stunden pro Tag in der Schule verbringen.
236Angesichts der dargestellten Schwierigkeiten für die Familie der Kläger, ihre elementaren Grundbedürfnisse durch eigene Erwerbstätigkeit auf Dauer zu sichern, kann eine Überstellung nach Ungarn ohne belastbare individuelle längerfristige Versorgungszusicherung des ungarischen Staates nicht erfolgen. Eine solche Zusicherung liegt hier nicht vor.
237II. Ist danach die Ziffer 1. des angefochtenen Bescheids aufzuheben, so muss Gleiches auch für die Ziffern 2. bis 4. des streitgegenständlichen Bescheids gelten.
2381. Die unter Ziffer 2. des Bescheids getroffene Feststellung des Fehlens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist bei Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung jedenfalls verfrüht ergangen. Denn das Bundesamt ist nunmehr zunächst verpflichtet, die Asylanträge der Kläger materiell zu prüfen. Eine Entscheidung über Abschiebungsverbote kann sachgemäß erst nach Abschluss der Asylverfahren erfolgen und insoweit auch nur in Bezug auf den (Heimat-)Staat, in den abgeschoben werden soll.
239Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris, Rn. 21.
2402. Die unter Ziffer 3. des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Androhung der Abschiebung nach Ungarn ist ebenfalls aufzuheben. Gemäß § 35 AsylG droht das Bundesamt dem Ausländer die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war, wenn ein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 4 AsylG vorliegt. Ein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegt - wie ausgeführt - nicht vor, § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG ist nicht einschlägig. Die in Ziffer 3. letzter Satz des angegriffenen Bescheides getroffene, deklaratorische Feststellung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 letzte Alt. AufenthG, die Antragsteller dürften nicht in den Irak abgeschoben werden, ist als Nebenentscheidung ebenfalls aufzuheben, da aufgrund der Entscheidung des Gerichts das Bundesamt über die Asylanträge so zu entscheiden hat, als hätten die Kläger erstmals internationalen Schutz beantragt, unabhängig von dem Schutz der von Ungarn gewährt worden ist.
241Vgl. hierzu Schlussantrag des Generalanwalts beim EuGH in der Sache C-483/20, juris, Rn. 64; 70; vgl. auch VG Ansbach, Urteil vom 21. Januar 2021 - AN 17 K 18.50426 -, juris, Rn. 57.
2423. Die in Ziffer 4. des Bescheids enthaltene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG a.F. ist nach alledem gegenstandslos geworden und ebenfalls aufzuheben.
243D. Eine Entscheidung über den Hilfsantrag ist nicht geboten, weil die Kläger bereits mit ihrem Hauptantrag obsiegen.
244E. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.
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