Urteil vom Verwaltungsgericht Aachen - 5 K 644/22.A
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 4. März 2022 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
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T a t b e s t a n d:
2Die Kläger wenden sich gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig und die Abschiebungsanordnung nach Ungarn (Bescheid nach der Dublin III-VO).
3Der am 00.00.0000 in L. /Aserbaidschan geborene Kläger zu 1., seine Ehefrau, die am 00.00.0000 in Z. /Aserbaidschan geborene Klägerin zu 2. sowie die gemeinsamen Kinder, die am 00.00.0000 in V. /Aserbaidschan geborene Klägerin zu 3. und die am 00.00.0000 in V. /Aserbaidschan geborene Klägerin zu 4. sind aserbaidschanische Staatsangehörige schiitischer Religionszugehörigkeit.
4Nach eigenen Angaben verließen sie ihr Heimatland mit dem Flugzeug am 19. Januar 2022 und reisten am 20. Januar 2022 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 31. Januar 2022 stellten sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.
5Nach dem vom Bundesamt am 1. Februar 2022 durchgeführten Abgleich im Europäischen Visa-Informationssystem (VIS) waren die Kläger zu 1. und 2. im Besitz von Schengen Visa, ausgestellt von der Ungarischen Botschaft in V. am 29. Dezember 2021, gültig vom 13. Januar bis 2. Februar 2022 für einen Aufenthalt von sechs Tagen; gleiches gilt für die Klägerinnen zu 3. und 4. Im Auszug aus dem VIS - Antragsauskunft - ist als Beschäftigung des Klägers zu 1. "Angestellte(r)" und als Name des Arbeitgebers: "architecture and town building head office" registriert, für die Klägerin zu 2. ist "Lehrkraft" und als Name des Arbeitgebers "V. State University" angegeben.
6Im Rahmen der Anhörungen zur Zulässigkeit des Asylantrags und zu den Asylgründen erklärten die Kläger zu 1. und zu 2. am 7. Februar 2022 beim Bundesamt im Wesentlichen:
7Ihr Ziel sei von Anfang an Deutschland gewesen, da hier die Menschenrechte beachtet und Schutzanträge nicht ohne Prüfung einfach abgewiesen würden. Die Verhältnisse in Ungarn seien ihnen nicht bekannt. Sie hätten dort nur eine Nacht verbracht, weil es nicht möglich gewesen sei, ein Visum für Deutschland zu bekommen. Die aserbaidschanischen Reisepässe hätten sie vernichtet, weil sie nicht dorthin abgeschoben werden wollten. Sie hätten deshalb nur noch die Personalausweise. Erkrankungen lägen keine vor; die älteste Tochter, die Klägerin zu 3. trage allerdings eine Brille, weil sie schiele.
8Die Klägerin zu 2. habe die Schule bis zur mittleren Reife besucht und sei Hausfrau. Der Kläger zu 1. sei gelernter Möbelbauer und habe abwechselnd für unterschiedliche Werkstätten gearbeitet.
9Sie hätten ihr Heimatland verlassen, weil der Kläger zu 1. verfolgt werde. Er habe eine Person namens M. D. unterstützt. Dieser habe an den Demonstrationen in der Stadt J. teilgenommen und sei deshalb ermordet worden. Der Kläger zu 1. sei zweimal festgenommen und schwer misshandelt worden. Die ganze Familie sei bedroht worden.
10Unter dem 8. Februar 2022 richtete das Bundesamt ein Aufnahmegesuch nach der Dublin III-VO an Ungarn. Die ungarische Dublin Coordination Unit erklärte am 9. Februar 2022 in zwei getrennten Schreiben bezugnehmend auf Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO das Einverständnis für die Überstellung des Klägers zu 1. sowie für die Klägerinnen zu 2. bis 4. zur Feststellung des Asylgesuchs ("for determination of the asylum application") und bestätigte, dass die ungarische Botschaft in V. für die Kläger ein Schengen Visum Typ C am 29. Dezember 2021 zu touristischen Zwecken ausgestellt habe; aus diesem Grunde akzeptiere Ungarn die Verantwortung für die Übernahme der Antragsteller ("accepts responsibility for taking charge of the applicants"). Unter dem 2. März 2022 remonstrierte das Bundesamt gemäß Art. 5 Abs. 2 Durchführungsverordnung Dublin III-VO mit dem Zusatz, im Falle einer positiven Entscheidung ersuche Deutschland die ungarischen Behörden um eine Zusicherung, dass die oben genannten Personen in Übereinstimmung mit der Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU untergebracht und die Anträge auf internationalen Schutz nach der Asylverfahrensrichtlinie (2013/32/EU) behandelt würden.
11Mit Bescheid vom 4. März 2022, zugestellt am 11. März 2022, lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungshindernisse nicht vorliegen (Ziffer 2.), ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Ziffer 3.) und befristete das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 11 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4.). Es führte aus, dass Ungarn auf Grund der ausgestellten Visa für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Die mit der Remonstration vom 2. März 2022 erbetene Zusicherung, dass die Unterbringung der Kläger in Übereinstimmung mit der Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU erfolge und die Anträge auf internationalen Schutz nach der Asylverfahrensrichtlinie (2013/32/EU) behandelt würden, sei von den ungarischen Behörden nicht übersandt worden. Diese Zusicherung werde im Rahmen des Überstellungsprozesses eingeholt. Abschiebungsverbote lägen nicht vor, insbesondere bestünden keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn. Diese Auffassung werde in einem aktuellen Beschluss des Verwaltungsgerichts Halle bestätigt (VG Halle, Beschluss vom 19.04.2021, Az.: 4 B 254/21 HAL). Kernargument der Annahme von systemischen Mängeln im ungarischen Asylverfahren seien die Aufnahmebedingungen in den Zeiträumen gewesen, in denen die Asylverfahrenspraxis unter dem Eindruck der Transitzonen gestanden habe. Allerdings seien diese im zweiten Quartal 2020 geschlossen und ein neues Asylzugangsverfahren etabliert worden. Diese Entwicklungen spiegelten sich in der aktuellen Rechtsprechung noch nicht wider. In Ungarn sei seit dem 09.03.2016 ein Regierungsdekret mit dem Titel „Krisensituation aufgrund einer Masseneinwanderung“ in Kraft. Dieses Dekret gestatte der Polizeibehörde unter anderem die Zurückweisung von illegal Eingereisten sowie illegal aufhältigen Asylsuchenden hinter die ungarische Grenze (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 16). Das Dekret werde seit dem Inkrafttreten alle sechs Monate verlängert, zuletzt im September 2021 (Kafkadesk, Hungary extends migration state of emergency for fifth year, https://t1p.de/6zoq, abgerufen am 12.10.2021). Die Zahl der Asylsuchenden sei seit 2015 kontinuierlich und deutlich gesunken von 177.135 im Jahr 2015 auf nur noch 117 im Jahr 2020 (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 27). Bestimmungen, nach denen Anträge von illegal Eingewanderten ausschließlich an den grenznahen Transitzonen gestellt werden dürften, seien seit dem 26.05.2020 aufgehoben. Es sei ein Regierungsdekret (Government Decree 233/2020 (V. 26.)) sowie seit dem 18.06.2020 ein Gesetz in Kraft getreten, welches neue Vorschriften für das Asylverfahren vorsehe. Hintergrund dieser Anpassung im Asylverfahren sei der geltende Notstand (state of danger) zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Um ins reguläre Verfahren zu gelangen, müssten Schutzsuchende, die in Ungarn Asyl beantragen möchten, zunächst eine persönliche „Absichtserklärung zum Zweck der Antragstellung“ in der ungarischen Botschaft in Belgrad oder in Kiew abgeben. Diese Erklärung werde dann dem Nationalen Generaldirektorat der Fremdenpolizei (NDGAP) überreicht, welcher innerhalb von 60 Tagen eine Entscheidung darüber treffen müsse, ob Asylsuchenden eine einmalige Einreiseerlaubnis für die förmliche Antragstellung erteilt werde (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 16 – 17). Falls die Erlaubnis erteilt werde, müssten die Asylsuchenden innerhalb von 30 Tagen eigenständig nach Ungarn einreisen und sich unmittelbar zu den Grenzschutzbeamten begeben. Die Grenzschutzbeamten müssten die Asylsuchenden innerhalb von 24 Stunden zur Asylbehörde befördern. Dort könnten die Asylsuchenden dann formal ihre Asylanträge stellen und einreichen (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, 22). Sowohl der seit 2016 verhängte Krisenzustand als auch der skizzierte erschwerte Zugang zum Asylverfahren habe keine Auswirkungen auf das Dublin-Verfahren mit Ungarn. Diese Maßnahmen adressierten nicht die Dublin-Rückkehrenden, sondern diejenigen, die eigenständig nach Ungarn einreisten oder sich illegal in Ungarn aufhielten. Auch das Verwaltungsgericht Halle stelle in der zitierten Entscheidung fest, dass sich die Entscheidung des EuGH vom 17. Dezember 2020 (C 808/18) über den eingeschränkten Zugang zum Asylverfahren lediglich auf diejenigen Asylsuchenden beziehe, die aus Serbien nach Ungarn einreisten.
12Das Helsinki-Komitee weise zwar darauf hin, dass Dublin-Rückkehrende nicht ohne Weiteres Erst- und Folgeanträge in Ungarn stellen könnten, da diese im Zuge des geltenden Asylgesetzes und des Botschaftsverfahrens nicht zu den Ausnahmen zählten, denen es erlaubt sei, einen Antrag innerhalb Ungarns zu stellen; auch auf den Ausschluss der Folgeantragstellenden von den Aufnahmebedingungen werde hingewiesen (AIDA, Country Report Hungary, Update 2020, S. 45-46). Den genannten Punkten stehe allerdings entgegen, dass das Bundesamt Überstellungen gemäß der Dublin III-VO nur dann durchführe, wenn die ungarischen Behörden (im Einzelfall) schriftlich zusicherten, dass Dublin-Rückkehrende gemäß der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU untergebracht würden und deren Asylverfahren gemäß der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU durchgeführt werde. Zum Aspekt der fehlenden Möglichkeit einer Antragstellung innerhalb Ungarns habe das NDGAP Stellung bezogen und klargestellt, dass das Asylverfahren von Dublin-Rückkehrenden in der Praxis durchgeführt werde, nachdem diese bei ihrer Ankunft ihre Absicht zur Aufrechterhaltung ihres Asylverfahrens erklärten (EASO, EASO Asylum Report 2021, 29.06.2021, S. 97).
13Im Dublin-Verfahren müsse bei der Bewertung, ob Asylsuchenden im zu überstellenden Mitgliedstaat eine Situation extremer materieller Not drohe, ein erweiterter zeitlicher Horizont nach der Rückkehr in den Blick genommen werden. Für Ungarn sei festzustellen, dass die Lebensbedingungen von Personen mit zuerkanntem Schutzstatus ausreichend seien. In Ungarn herrschten keine derart eklatanten Missstände, welche die Annahme rechtfertigten, dass international Schutzberechtigte einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK ausgesetzt würden. Dies werde auch durch die deutsche Rechtsprechung bestätigt. International Schutzberechtigte seien in Ungarn den Inländern grundsätzlich rechtlich gleichgestellt. Sie würden durch NGOs wie z.B. Menedék oder Kalunba unterstützt.
14Die Kläger haben am 17. März 2022 Klage erhoben und einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Das Gericht hat mit Beschluss vom 24. März 2022 im Verfahren gleichen Rubrums 5 L 199/22.A die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die unter Ziffer 3. des angegriffenen Bescheides vom 4. März 2022 verfügte Abschiebungsanordnung nach Ungarn angeordnet.
15Die Kläger nehmen Bezug auf ihren Vortrag im Verwaltungsverfahren und führen weiter aus: Über die im Eilbeschluss des Gerichts genannten Gründe hinaus begegne ihre Überstellung nach Ungarn weiteren rechtsstaatlichen Bedenken. Aufgrund der geographischen Nähe Ungarns zur Ukraine, die sich nach aktuellem Stand in unveränderter kriegerischer Auseinandersetzungen mit Russland befinde, sei in Ungarn mit einem erhöhten Flüchtlingsaufkommen und damit einer zusätzlichen Belastung des dortigen Asylsystems zu rechnen. In der Folge wäre vor einer etwaigen Überstellung der Familie nach Ungarn ohnehin vorab durch die Beklagte abschließend zu klären gewesen, inwieweit aufgrund der aktuellen Entwicklungen die Ausübung eines Selbsteintrittsrechts der Bundesrepublik gem. Art. 17 Dublin-III-VO in Frage käme oder ob die aktuelle Lage im Zielstaat jedenfalls jetzt zur Annahme systemischer Mängel des dortigen Asylsystems zwinge. Eine solche Aufklärung der offenen Fragen habe durch die Beklagte bisher nicht stattgefunden, sodass sich schon aus diesem Grunde die Überstellung verbiete.
16Die Kläger beantragen,
17den Bescheid der Beklagten vom 4. März 2022 (wörtlich vom 8. März 2022, insoweit handelt es sich um eine offensichtliche Verschreibung) aufzuheben.
18Die Beklagte beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Sie nimmt Bezug auf die Begründung des angegriffenen Bescheides und führt aus, dass sie auch mit Blick auf den stattgebenden Beschluss im Eilverfahren an ihrer Entscheidung festhalte.
21Mit Beschluss vom 28. März 2022 hat die Kammer Prozesskostenhilfe bewilligt und das Verfahren auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
22Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte einschließlich der Akte des Eilverfahrens gleichen Rubrums 5 L 199/22.A und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten.
23E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
24Die Einzelrichterin kann im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, vgl. § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
25Die Klage ist zulässig und begründet.
26A. Die Klage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. ist als Anfechtungsklage statthaft. Denn im Fall eines Bescheids, mit dem das Bundesamt einen Asylantrag - wie hier - nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) Asylgesetz (AsylG) als unzulässig abgelehnt hat, ist allein die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO die statthafte Klageart. Eine gerichtliche Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung hat zur Folge, dass das Bundesamt, wenn kein erneutes Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen an einen nachrangig zuständigen Mitglied- oder Vertragsstaat in Betracht kommt, das Verfahren fortführen und eine Sachentscheidung treffen muss.
27Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 9. Januar 2019 - 1 C 36.18 -, juris Rn. 12.
28Die Klage ist auch im Übrigen zulässig; insbesondere ist sie innerhalb der Wochenfrist des §§ 74 Abs. 1 Halbsatz 2, 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG erhoben. Der angegriffene Bescheid vom 4. März 2022 wurde den Klägern in der Zentralen Unterbringungseinrichtung U. am 11. März 2022 ausgehändigt; die Klage ist am 17. März 2022 und damit fristgemäß bei Gericht eingegangen.
29B. Die Klage ist begründet, denn der Bescheid des Bundesamts vom 4. März 2022 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat die Asylanträge der Kläger zu Unrecht als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG abgelehnt (Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids). Damit sind auch die in den Ziffern 2 bis 4 getroffenen Nebenentscheidungen zu Unrecht ergangen.
30I. Rechtsgrundlage für die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1. des Bundesamtsbescheids ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der sog. Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist (Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist). Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß der Dublin III‑VO hat grundsätzlich auf der Grundlage der dort festgelegten Kriterien zu erfolgen, für die eine bestimmte Rangfolge (vgl. Art. 7 bis 15 Dublin III‑VO) gilt. Stimmt allerdings ein Mitgliedstaat der (Wieder‑)Aufnahme eines Asylbewerbers nach Maßgabe eines der in der Dublin III‑VO genannten Kriterien zu, so ist dieser verpflichtet, den Asylbewerber aufzunehmen; der Asylbewerber hat keinen Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland.
311. Die Dublin III-VO ist anwendbar, da die Kläger ihre Asylanträge nach dem 1. Januar 2014 gestellt haben (vgl. Art. 49 Dublin III-VO).
322. Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO prüfen die Mitgliedstaaten jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser insbesondere im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Nach Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO finden die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats in der in Kapitel III genannten Rangfolge Anwendung. Dabei wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt, Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO.
33Die Kläger haben vorliegend erstmals am 31. Januar 2022 einen Asylantrag gestellt und zwar nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt war das ungarische Schengenvisum, das bis zum 2. Februar 2022 gültig war, noch nicht abgelaufen. Damit bestimmt sich die Zuständigkeit für den Asylantrag nach Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO (vgl. für den Fall, dass das Visum seit weniger als sechs Monaten abgelaufen ist: Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO). Nach dieser Vorschrift ist grundsätzlich der Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Entsprechend hat die ungarische Dublin Coordination Unit auf das unter dem 8. Februar 2022 an sie gerichtete Aufnahmegesuch des Bundesamts nach Art. 21 Dublin III-VO am 9. Februar 2022 bezugnehmend auf Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO (in zwei getrennten Erklärungen) das Einverständnis für die Überstellung des Klägers zu 1. sowie für die Klägerinnen zu 2. bis 4. erteilt.
343. Eine abweichende Zuständigkeit ist auch nicht aufgrund eines vorrangig zu prüfenden Kriteriums des Kapitels III der Dublin III-VO begründet.
35Nach Art. 18 Abs. 1 a) Dublin III-VO ist Ungarn damit grundsätzlich verpflichtet, die Kläger nach Maßgabe der Art. 21, 22 und 29 Dublin-III-VO aufzunehmen.
364. Die Zuständigkeit Ungarns ist zwischenzeitlich auch nicht entfallen.
37Die Beklagte ist nicht nach Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO oder Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrags der Antragsteller auf internationalen Schutz zuständig (geworden). Nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO ist der Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, zuständig, wenn er den anderen Mitgliedstaat nicht innerhalb der Fristen des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO um die Aufnahme des Antragstellers ersucht; einschlägig ist hier die Dreimonatsfrist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem das Ersuchen beim Empfänger eingeht, wobei sich dieser regelmäßig aus dem vom "DubliNET"-System ausgestellten Empfangsbekenntnis ergibt,
38vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW, Beschluss vom 6. September 2017 - 11 A 1810/15.A - juris, Rn. 18 ff.
39Das Aufnahmegesuch des Bundesamts, aufgrund dessen die ungarischen Behörden sich bereit erklärt haben, die Kläger aufzunehmen, ist ausweislich des "DubliNET Proof of Delivery" am 8. Februar 2022 und damit innerhalb der frühestens mit Äußerung des Asylbegehrens am 25. Januar 2022 laufenden Dreimonatsfrist bei den ungarischen Behörden eingegangen.
40Die Überstellungfrist des Art. 29 Dublin III-VO ist noch nicht abgelaufen. Die sechsmonatige Frist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO ist zwar mit der Erklärung der ungarischen Behörden vom 9. Februar 2022, die Kläger zur Durchführung des Asylverfahrens (wieder) aufzunehmen, in Lauf gesetzt worden. Durch den am 17. März 2022 innerhalb der Wochenfrist des § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz (5 L 199/22.A) ist die Frist aber unterbrochen worden und nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Ungarn mit Beschluss des Gerichts vom 24. März 2022 nicht erneut angelaufen.
41Vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 27. April 2016 - 1 C 22.15 -, juris Rn 20ff und Urteil vom 26. Mai 2016 - 1 c 15.15 -, juris Rn 11f.
42Auch aus Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO kann nicht gefolgert werden, dass die Beklagte für die Prüfung der Anträge der Kläger zuständig geworden ist. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beklagte beschlossen hat, die Anträge unter Berufung auf Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zu prüfen. Dazu genügt insbesondere nicht, dass sie die Kläger zu 1. und zu 2. nach § 25 AsylG - zusätzlich zur Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit der gestellten Asylanträge - vorsorglich auch zu ihrem Verfolgungsschicksal angehört hat,
43vgl. Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 26. Juni 2018 – 4 A 759/18.A –, juris.
445. Die damit grundsätzlich zu Recht von der Beklagten vorgenommene Bestimmung von Ungarn als zuständiger Mitgliedstaat erweist sich allerdings nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III‑VO als rechtswidrig. Nach dieser Vorschrift setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat - hier Ungarn - zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und (bzw. genauer: oder) die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta (GRC; ABl. C 83 vom 30. März 2010, S. 389) mit sich bringen. Artikel 4 GRC, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf, hat gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl. 2010 II, S. 1198).
45Vgl. grundlegend zum Begriff der systemischen Mängel: BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - BVerwG 10 B 6.14 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 - A 11 S 1778/14 -, juris.
46In diesem Fall kann der Antrag nicht als unzulässig abgelehnt werden, sondern der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat hat weiter zu prüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann oder er wird - wie hier - selbst der zuständige Mitgliedstaat, Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 1 und 2 Dublin III-VO.
47Für die zu treffende Gefahrenprognose gilt anknüpfend an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und insbesondere des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK Folgendes:
48Für das in Deutschland - im Unterschied zu anderen Rechtssystemen - durch den Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geprägte verwaltungsgerichtliche Verfahren hat das Kriterium der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Bedeutung für die Gefahrenprognose im Rahmen des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei, wie sich aus den Erwägungen des EuGH zur Erkennbarkeit der Mängel für andere Mitgliedstaaten ergibt, Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen. Solche Mängel treffen den Einzelnen in dem zuständigen Mitgliedstaat nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung der o.g. Vermutung aufgrund systemischer Mängel setzt deshalb voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
49Vgl. grundlegend Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 15. April 2014 - 10 B 17/14 -, juris, Rn. 3 m.w.N.
50Gleichgültig ist, ob eine Verletzung des Art. 4 EU-GRCharta zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss droht. Systemische, allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen fallen jedoch nur dann unter Art. 4 EU-GRCharta, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese Schwelle wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Die Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. Auch kann der bloße Umstand, dass im Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren,
51vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 ‑ C-163/17 - juris, Rn. 88 ff. und C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - juris, Rn. 81 ff.
52Nach diesen Maßstäben ist die von der Beklagten nach der Dublin III-VO vorgenommene Bestimmung von Ungarn als zuständiger Mitgliedstaat rechtswidrig, weil es sich gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer als unmöglich erweist, die Kläger nach Ungarn zu überstellen. Nach Auswertung der aktuellen Erkenntnislage ist die Kammer der Überzeugung, dass den Klägern infolge der angeordneten Abschiebung nach Ungarn dort aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens (a) und der Aufnahmebedingungen (b) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
53(a) Systemische Mängel des Asylverfahrens liegen vor, wenn der grundsätzliche Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz nicht gewährleistet ist oder das Asylverfahren selbst so ausgestaltet ist, dass eine inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens nicht gewährleistet ist und diese Mängel den Antragsteller im Falle einer Überstellung nach Ungarn auch selbst treffen könnten.
54Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 - A 11 S 1778/14 -, juris, Rn. 33 ff, 39; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 87ff; Filzwieser/Sprung, Dublin III-VO, Stand:1.2.2014, Art. 3 K16.
55Systemische Mängel des Asylverfahrens setzen nicht voraus, dass in jedem Falle das gesamte Asylsystem schlechthin als gescheitert einzustufen ist, jedoch müssen die in jenem System festzustellenden Mängel so gravierend sein, dass sie sich nicht lediglich singulär oder zufällig, sondern objektiv voraussehbar auswirken. Ein systemischer Mangel kann daneben auch daraus folgen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem - mit Blick auf seine empirisch feststellbare Umsetzung in der Praxis - faktisch in weiten Teilen funktionslos wird.
56Vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 89ff.
57Nach den vorliegenden Erkenntnissen führen sowohl die asylrechtlichen Regelungen als auch ihre Anwendung in der Praxis dazu, dass Schutzsuchenden mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit kein Zugang zum ungarischen Asylverfahren gewährt wird.
58Zum Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 104.
59Die Kläger haben bislang in Ungarn keinen Asylantrag gestellt. Nach der aktuellen ungarischen Gesetzeslage und den vorliegenden Erkenntnissen wird es ihnen im Rahmen der beabsichtigten Rückführung nach der Dublin III-VO nicht möglich sein, in Ungarn einen Asylerstantrag zu stellen. Es droht vielmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entgegen dem in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) und Art. 3 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) eine Abschiebung ins Herkunftsland ohne vorherige Entscheidung über den Asylantrag. Art. 33 Nr. 1 GK enthält das Verbot, einen Flüchtling i.S. des Art. 1 der Konvention "auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten auszuweisen oder zurückzuweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde". Im Kontext des Zurückweisungsverbots des Art. 33 GK umfasst der Flüchtlingsbegriff nicht nur diejenigen, die bereits als Flüchtling anerkannt worden sind, sondern auch diejenigen, die die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Flüchtling erfüllen.
60Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Verica Trstenjak vom 22. September 2011, Rechtssache C-411/50 -, S. 42, Fn. 48.
61Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich zur Vermeidung einer Verletzung der in der GRC gewährleisteten Rechte auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der GFK und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist.
62Vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 - C-411/10, C-493/10 -, Rn. 75, juris und vom 5. September 2012 - C-71/11, C-99/11 -, Rn. 47, juris.
63Dementsprechend verpflichtet Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) die Mitgliedstaaten, den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zu achten.
64Nachdem der EuGH die Unterbringung von Asylsuchenden in Transitzonen an der ungarischen Grenze für rechtswidrig erklärt hatte, erließ die ungarische Regierung einen Erlass, mit dem sie ein neues Asylsystem einführte (Government Decree 233/2020), das sogenannte "Botschaftsverfahren". Dieses neue System wurde später in das Übergangsgesetz aufgenommen, das am 18. Juni 2020 in Kraft trat, zunächst bis zum 31. Dezember 2020 befristet war, mittlerweile aber verlängert wurde.
65Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25.03.2021, S. 6; Pro Asyl, Pushbacks an der rumänisch-serbischen EU-Außengrenze, 08.02.2022, abgerufen unter https//www.proasyl.de/news am 21.02.2022.
66Kernstück des neuen Systems ist als zwingende Voraussetzung für die Stellung eines Asylantrags in Ungarn die Abgabe einer "Absichtserklärung" ("declaration of intent" - DoI) bei der ungarischen Botschaft in Belgrad/Serbien oder Kiew/Ukraine, wobei derzeit kaum etwas dazu bekannt ist, wie sich der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und die andauernden kriegerischen Handlungen auf das "Botschaftsverfahren" auswirken.
67Vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, 12.04.2022, S.1 sowie zur aktuellen Situation: Council of Europe, 10.06.2022, Letter by the Council of Europe Commissioner for Human Rights to Sándor Pintér, Minister of the Interior of Hungary, on the long-term protection perspective of third-country nationals and stateless persons while they are unable to return to their country of origin; OMCT - World Organisation Against Torture, 09.05.2022, Article on assistance provided by the Hungarian Helsinki Committee (HHC) to Ukrainian refugees arriving in Hungary; Hungary: Civil society rallies to help refugees from Ukraine.
68Nach dem neuen System müssen Personen, die in Ungarn Asyl beantragen wollen, mit Ausnahme einiger weniger Fallgruppen (siehe dazu unten) folgende Schritte durchlaufen, bevor sie ihren Asylantrag registrieren lassen können:
69- Persönliche Einreichung eines "DoI" bei der ungarischen Botschaft in Belgrad oder in Kiew.
70- Das "DoI" muss an die Asylbehörde, die NDGAP (National Directorate-General for Aliens Policing), weitergeleitet werden, die es innerhalb von 60 Tagen prüft.
71- Die NDGAP schlägt der Botschaft vor, eine spezielle, einmalige Einreiseerlaubnis
72für die Einreise nach Ungarn zum Zwecke der Stellung eines Asylantrags zu erteilen.
73- Wird die Erlaubnis erteilt, muss die Person allein nach Ungarn reisen und sich nach ihrer Ankunft sofort bei den Grenzbeamten melden.
74- Die Grenzbeamten müssen die Person dann der NDGAP vorstellen.
75- Die Person kann dann ihren Asylantrag bei der NDGAP formell registrieren lassen und damit das offizielle Asylverfahren einleiten.
76Je nach Genehmigung des "DoI" erhält der potenzielle Asylbewerber eine spezielle Reiseerlaubnis ausgestellt, die es ihm ermöglicht, nach Ungarn zu reisen und einen Asylantrag zu stellen.
77Nur Personen, die zu den folgenden Kategorien gehören, müssen das oben beschriebene Verfahren nicht durchlaufen:
78- Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird und die sich in Ungarn aufhalten.
79- Familienangehörige von Flüchtlingen und Personen mit subsidiärem Schutzstatus, die sich in Ungarn aufhalten.
80- Personen, die Zwangsmaßnahmen, Maßnahmen oder Strafen unterworfen sind, die die persönliche Freiheit beeinträchtigen, außer wenn sie Ungarn auf "illegale" Weise durchquert haben.
81Folglich kann kein Schutzsuchender, der an der ungarischen Grenze ankommt oder illegal nach Ungarn einreist oder sich legal in Ungarn aufhält und nicht zu den drei oben genannten Kategorien gehört, in Ungarn Asyl beantragen.
82Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25.03.2021, S. 6.
83Die Kriterien, nach denen eine Einreiseerlaubnis zum Zwecke der Asylantragstellung von der NDGAP zu erteilen ist, werden nicht benannt.
84Vgl. zu den Fragen, die im Rahmen des "DoI" zu beantworten sind: HHC, Hungary de facto removes itself form the Common European Asylum System (CEAS), 12. August 2020, S. 3.
85Das Ungarische Helsinki Komitee berichtet, dass Personen regelmäßig abgewiesen und darüber informiert würden, dass sie auf eine nicht näher definierte "Warteliste" gesetzt seien, um einen Termin zur Abgabe der Absichtserklärung zu erhalten. Einige warteten über 2 Monaten auf diesen Termin. Einige verpassten auch den Termin, da sie kein Englisch sprechen und die Informationen über den Termin per E-Mail auf Englisch verschickt würden, oder weil sie es nicht gewohnt seien, mit E-Mails umzugehen, oder weil sie nicht in der Lage gewesen seien, die Reise zum Termin zu organisieren, da sie in einem Aufnahmezentrum weiter weg von Belgrad untergebracht worden seien. Das Formular "Absichtserklärung" ("DoI") müsse in Englisch oder Ungarisch ausgefüllt werden, ohne dass ein Dolmetscher oder Rechtsbeistand zur Verfügung stehe. Die Entscheidung der NDGAP erfolge ohne Begründung und das Gesetz sehe keinen Rechtsbehelf vor.
86Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25. März 2021, ab S.5; HHC, Hungary de facto removes itself form the Common European Asylum System (CEAS), 12. August 2020; ebenso:.AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 21f, S. 45.
87Antragsteller haben in der Phase des "Botschaftsverfahrens" keinen Anspruch auf Einhaltung der in der RL 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) geregelten (Mindest)Bedingungen für die Aufnahme von Asylsuchenden und sie genießen keinen Schutz; das bedeutet, sie können von den serbischen oder ukrainischen Behörden inhaftiert, ausgewiesen oder abgeschoben werden.
88Vgl. HHC, Submission by the Hungarian Helsinki Committee and Menedék Association for Migrants, 25. März 2021, ab S.7.
89Nach einem Bericht von Pro Asyl vom 19. November 2021 sind seit der Einführung des sogenannten Botschaftssystems im Mai 2020 drei iranische Familien, bestehend aus zwölf Personen, mit einer Reisegenehmigung der Botschaft in Belgrad nach Ungarn eingereist.
90Vgl. Pro Asyl, Ungarn: "Es lohnt sich, den Kampf anzunehmen", abgerufen am 17. Februar 2022 unter https://www.proasyl.de/news.
91Die Kläger fallen als Dublin-Rückkehrer offensichtlich nicht unter die oben genannten Ausnahmegruppen, die in Ungarn ohne vorheriges "Botschaftsverfahren" einen Asylantrag stellen können. Darauf verweist der AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen vom 01. April 2021 ausdrücklich, und zwar auf S. 45 unter Ziffer 2.7.; dort wird ausgeführt: Wenn eine Person, die noch keinen Asylantrag in Ungarn gestellt hat, nach der Dublin-Verordnung zurückgeschickt wird, muss er/sie nach der Rückkehr einen Asylantrag stellen, aber die derzeit geltenden Rechtsvorschriften lassen diese Möglichkeit nicht zu. "Dublin-Rückkehrer" zählen nicht zu den Ausnahmen, die im ungarischen Hoheitsgebiet einen Asylantrag stellen dürfen.
92Soweit das Bundesamt unter Bezugnahme auf den Beschluss des VG Halle
93vgl. Beschluss vom 19. April 2021 - 4 B 254/21 HAL -, juris,
94die Auffassung vertritt, der erschwerte Zugang zum Asylverfahren habe keine Auswirkungen auf das Dublin-Verfahren mit Ungarn, ist dies durch die vorliegenden Erkenntnisse widerlegt. Der vom Bundesamt zitierte Beschluss des VG Halle stützt sich im Übrigen auf den AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, Update 31. Dezember 2019, der das am 18. Juni 2020 erstmals in Kraft getretene Botschaftsverfahren noch nicht berücksichtigen konnte.
95Vgl. AIDA, Country Report: Hungary, Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, Update 31. Dezember 2019, dort die - noch anders lautenden - Ausführungen auf S. 42 unter 2.7. zur Situation der Dublin-Rückkehrer.
96Auch das von der ungarischen Dublin Coordination Unit auf das Aufnahmegesuch des Bundesamts unter dem 9. Februar 2022 erklärte Einverständnis zur Überstellung der Kläger führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn die ungarischen Behörden haben bezugnehmend auf Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO nur das Einverständnis für die Überstellung der Antragsteller zur Feststellung des Asylgesuchs ("for determination of the asylum application") bzw. die Verantwortung für die Übernahme der Antragsteller ("accepts responsibility for taking charge of the applicants") erklärt. Eine belastbare Zusicherung, dass die Kläger den Asylantrag in Ungarn stellen können und dieser unter Einhaltung der einschlägigen europarechtlichen Regelungen während des Aufenthalts der Kläger in Ungarn geprüft wird, beinhaltet diese Erklärung nicht.
97Das Bundesamt weist zwar unter Bezugnahme auf den EASO Asylum Report 2021, 29.06.2021, S. 97 darauf hin, zum Aspekt der fehlenden Möglichkeit zur Antragstellung innerhalb Ungarns habe das NDGAP Stellung bezogen und klargestellt, dass das Asylverfahren von Dublin-Rückkehrenden in der Praxis durchgeführt werde, wenn diese nach der Dublin-Überstellung ihre Absicht zur Aufrechterhaltung ihres Asylverfahrens erklärten. Es erschließt sich dem Gericht allerdings nicht, ob dies tatsächlich bedeutet, dass Dublin-Überstellte in Ungarn untergebracht werden und das Asylverfahren dort durchgeführt wird oder ob "nur" das Botschaftsverfahren in Gang gesetzt wird. Offensichtlich hält jedenfalls selbst das Bundesamt diese Stellungnahme nur für eingeschränkt belastbar, denn es erläutert im angegriffenen Bescheid, dass Überstellungen gemäß der Dublin-III-VO nur dann durchgeführt würden, wenn die ungarischen Behörden (im Einzelfall) schriftlich zusicherten, dass Dublin-Rückkehrende gemäß der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU untergebracht würden und deren Asylverfahren gemäß der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU durchgeführt werde. Eine solche Zusicherung ist auf die Remonstration des Bundesamtes vom 2. März 2022 aber im vorliegenden Fall gerade nicht erfolgt. Vielmehr hat die ungarische Dublin Coordination Unit - ausschließlich - für den Kläger zu 1. unter dem 3. März 2022 darauf hingewiesen, dass bereits unter dem 9. Februar 2022 das Übernahmegesuch akzeptiert worden sei; sodann folgt nochmals - wörtlich mit der Erklärung vom 9. Februar 2022 übereinstimmend - die Übernahmeerklärung. Die Frage, ob grundsätzlich der Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz gewährleistet ist, ist entscheidend für die Beurteilung systemischer Mängel des Asylverfahrens
98vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-VO, Stand:1.2.2014, Art. 3 K16
99und ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung. Sie kann nicht - wie die Beklagte im angegriffenen Bescheid ausführt - "im Rahmen des Überstellungsprozesses" geklärt werden.
100Auch wenn keine Erkenntnisse zu den Auswirkungen des Ukrainekrieges auf das Botschaftsverfahren vorliegen, steht aufgrund der aktuellen Auskunftslage zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich die Lage in Ungarn für Flüchtlinge, die keine ukrainische Staatsangehörigkeit besitzen, deutlich verschlechtert hat. Ungarn hat zwar in Umsetzung des Beschlusses des Europäischen Rates vom 4. März 2022 angesichts des Massenzustroms von Menschen, die wegen des Krieges aus der Ukraine geflohen sind, einen vorübergehenden Schutz zu gewähren, seine Grenzen für ukrainische Flüchtlinge geöffnet. Das Ungarische Helsinki-Komitee (HHC) berichtet jedoch, dass von den über 600.000 aus der Ukraine nach Ungarn geflüchteten Menschen u.a. wegen des Mangels an Informationen und Unterstützung durch die ungarischen Behörden weniger als 20.000 einen Antrag auf vorübergehenden Schutz gestellt hätten. Weiter berichtet das HHC, dass sich die Situation für Flüchtlinge ohne ukrainische Staatsangehörigkeit verschlechtert habe. Insbesondere könnten sie aufgrund des nicht funktionierenden Asylsystems keinen Antrag auf internationalen Schutz stellen. Die relative Offenheit gegenüber der Ukraine habe nichts an der ungarischen Politik gegenüber anderen Flüchtlingen und Asylbewerbern geändert. Das ungarische Asylsystem sei nach wie vor lückenhaft. Die Grenze zu Serbien, wo es im Jahr 2021 72.000 Zurückweisungen gegeben habe, sei nach wie vor geschlossen. Es sei als ob es sich um zwei verschiedene Welten handle.
101Vgl. OMCT - World Organisation Against Torture, 09.05.2022, Article on assistance provided by the Hungarian Helsinki Committee (HHC) to Ukrainian refugees arriving in Hungary; Hungary: Civil society rallies to help refugees from Ukraine.
102Der Menschenrechtskommissar des Europarates wandte sich mit Blick auf die aktuelle Situation unter dem 10. Juni 2022 an den ungarischen Innenminister Pintér. Er zeigte sich zutiefst besorgt über die Situation von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die von der Regelung des vorübergehenden Schutzes ausgeschlossen seien. Aufgrund des in Ungarn seit September 2015 geltenden Ausnahmezustandes - der sogenannten "Krisensituation wegen Massenmigration" - gebe es keine Möglichkeit, in Ungarn internationalen Schutz oder Asyl zu beantragen. Die Situation zeige die Unzulänglichkeit und Unhaltbarkeit des Rahmens, der derzeit in Ungarn für den Asylbereich gelte. Allein zwischen Januar und März 2022 habe die ungarische Grenzpolizei fast 19.3000 Abschiebungen (sog. Pushbacks) von Personen nach Serbien gemeldet. Obwohl die meisten von ihnen aus kriegsgebeutelten Ländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak stammten, hätten die Zurückgeschobenen keine Möglichkeit, ihre Abschiebung anzufechten oder in Ungarn internationalen Schutz zu beantragen. Die anhaltende Rhetorik von Regierungsvertretern, Ukrainer als "echte Flüchtlinge" zu bezeichnen und diejenigen, die vor Gräueltaten und Krieg in anderen Ländern fliehen, als Wirtschaftsmigranten darzustellen, sei bedauerlich und besonders problematisch, da es in Ungarn kein faires und wirksames Asylverfahren gebe, das gerade die Aufgabe hätte, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob ein Schutzbedürfnis bestehe.
103Vgl. Council of Europe, 10.06.2022, Letter by the Council of Europe Commissioner for Human Rights to Sándor Pintér, Minister of the Interior of Hungary, on the long-term protection perspective of third-country nationals and stateless persons while they are unable to return to their country of origin
104Unabhängig von dem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch das ungarische Asylrecht ausgeschlossenen Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz dürfte das neue Asylsystem auch die vom EuGH bereits hinsichtlich der Transitzonen gerügte Praxis der automatischen und rechtswidrigen Inhaftierung von Schutzsuchenden fortsetzen,
105vgl. insoweit vgl. EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 - C-924/19 PPU, C-925/19 PPU -, juris Rn 267ff,
106denn es sieht vor, dass die Asylbehörde nach der Registrierung des Asylantrags (nach der Ankunft des Asylbewerbers in Ungarn, nachdem ihm aufgrund seiner "Absichtserklärung" ein spezielles einmaliges Einreisedokument erteilt wurde) eine Entscheidung über die Unterbringung des Antragstellers "in einer geschlossenen Einrichtung" trifft. Ähnlich wie bei den Unterbringungsentscheidungen in den - nach dem Urteil des EuGH geschlossenen - Transitzonen gibt es gegen die gesetzlich festgelegte besondere Art der Entscheidung (ungarisch: végzés) über die automatische Unterbringung der Antragsteller "in einer geschlossenen Einrichtung" keinen Rechtsbehelf. Der automatische vierwöchige Gewahrsam betrifft auch unbegleitete Minderjährige unter vierzehn Jahren.
107Vgl. HHC, Hungary de facto removes itself form the Common European Asylum System (CEAS), 12. August 2020, S. 5.
108Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass im Rahmen des Dublin-Verfahrens überstellte Antragsteller nicht "in einer geschlossenen Einrichtung" untergebracht werden.
109(b) Schließlich steht nach Auswertung der aktuellen Erkenntnislage zur Überzeugung der Kammer fest, dass den Klägern in Ungarn darüber hinaus aufgrund systemischer Mängel der Aufnahmebedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen würde. Nach der Rechtsprechung des EuGH
110vgl. Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - Jawo, juris Rn. 87ff; ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 40
111ist insoweit bereits im Dublin-Verfahren grundsätzlich auch die Situation eines Antragstellers im Falle des Abschlusses des Asylverfahrens durch Zuerkennung von internationalem Schutz zu berücksichtigen.
112Für die anerkannt Schutzberechtigten hat die Kammer bereits entschieden, dass jedenfalls für die Situation der Gruppe der nicht uneingeschränkt arbeitsfähigen, ggf. vulnerablen Personen unter Berücksichtigung der Erkenntnislage und ihres regelmäßig besonderen Bedarfs in aller Regel nicht davon auszugehen ist, dass sie die für die Schaffung adäquater, menschenwürdiger Lebensverhältnisse in Ungarn erforderliche besondere Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit aufbringen und ihren Lebensunterhalt zumindest auf niedrigem Niveau für den zugrunde zulegenden zeitlich erweiterten Prognosespielraum durch Arbeit sicherstellen können werden.
113Vgl. Urteile der erkennenden Kammer vom 7. März 2022 - 5 K 1494/18.A und vom 3. Februar 2022 - 5 K 5443/17.A -, juris mit Nachweisen zur Erkenntnislage.
114Maßgeblich ist dabei eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls um das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK erforderliche "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) zu ermitteln.
115Vgl. BayVGH, Beschluss vom 25. Juni 2019 - 20 ZB 19.31553 -, juris Rn 10.
116Zum vorliegend in den Blick zu nehmenden Familienverband
117vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris, Rn. 15; ebenso Bay VGH, Beschluss vom 3. Februar 2020 - 13a ZB 19.33975 -, juris, Rn. 4
118der Kläger zu 1. bis 4. gehören vulnerable Personen und zwar die fünfjährige Klägerin zu 3. und die dreijährige Klägerin zu 4. Für die Beurteilung der Frage, ob ein Antragsteller der Gruppe der vulnerablen Personen zuzuordnen ist, kann Art. 20 Abs. 3 der RL 2011/95/EU (Anerkennungsrichtlinie) als Orientierungshilfe herangezogen werden. Danach sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, zu berücksichtigen. Auch dabei kommt es stets auf die Umstände des Einzelfalls an.
119Nach der Erkenntnislage steht fest, dass die Suche nach einer geeigneten menschenwürdigen Unterkunft für eine vierköpfige Familie - nach zu unterstellender Gewährung von internationalem Schutz - ohne staatliche Hilfe und ohne Einkommen überaus schwierig bis aussichtslos sein wird. Es fehlt an der notwendigen Sicherstellung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage auf dem durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC geforderten Niveau, da weder staatliche Unterbringungs- oder Unterstützungsleistungen noch hinreichend gesicherte Leistungen privater Organisationen für anerkannt Schutzberechtigte zur Verfügung stehen. Die Familie wäre also völlig auf sich selbst gestellt. Nach Auswertung der aktuell zur Verfügung stehenden Erkenntnisse ist davon auszugehen, dass die in Ungarn noch tätigen NGOs und sonstigen Hilfsorganisationen allenfalls alleinstehenden Männern und in Ausnahmesituationen alleinstehenden Frauen eine vorübergehende Unterbringungsmöglichkeit bieten können, aber nicht Familien und Paaren mit Kindern. Mit den ihnen aktuell noch zur Verfügung stehenden Mitteln können die zivilen Organisationen nach den vorliegenden Erkenntnissen den Bedarf der aktuell in Ungarn befindlichen anerkannten Schutzberechtigten nicht mehr decken. Gleiches gilt für die Sicherung des Lebensunterhalts. Aufgrund der geringen Zahl von Langzeitzuwanderern in Ungarn haben sich auch keine Zuwanderergemeinschaften gebildet, jedenfalls keine muslimisch geprägten, von denen die Kläger Unterstützung erhalten könnten und die das in Ungarn für eine soziale Absicherung wichtige - Schutzberechtigten typischerweise fehlende - familiäre Netzwerk ersetzen könnten. Irgendwelche Kontakte der Kläger zu in Ungarn befindlichen Personen, die sie unterstützen könnten, sind weder ersichtlich noch vorgetragen.
120Selbst wenn es gelingen sollte, die Familie für eine gewisse Übergangszeit vorübergehend unterzubringen und zu versorgen und dies mit Blick auf die beiden Kleinkinder im Alter von fünf und drei Jahren für ausreichend und zumutbar erachtet würde - was nicht der Fall sein dürfte -, ist es zur Überzeugung der Kammer (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nicht beachtlich wahrscheinlich, dass es den Klägerin zu 1. und zu 2. gelingen wird, für den in den Blick zu nehmenden erweiterten Prognosespielraum
121vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - Jawo, juris Rn. 87ff; ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 40; VG Dresden, Beschluss vom 7. September 2021 - 12 L 893/20.A - juris, Bl. 8f.
122den Lebensunterhalt der vierköpfigen Familie zumindest auf einem Niveau sicher zu stellen, das eine existenzielle Notlage ausschließen wird. Da nach den dargelegten Erkenntnissen weder bedarfssichernde Sozialleistungen des ungarischen Staates existieren bzw. erreichbar sind noch hinreichend gesicherte Leistungen von NGOs bzw. kirchlichen Organisationen,
123vgl. hierzu im Einzelnen: Urteile der erkennenden Kammer vom 7. März 2022 - 5 K 1494/18.A und vom 3. Februar 2022 - 5 K 5443/17.A -, juris
124wird die Familie den Lebensunterhalt ausschließlich durch eigene Erwerbstätigkeit sicherstellen müssen. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger zu 1. und zu 2. eine Arbeit finden werden, aus deren Einkünften dieser ‑ schon allein wegen der Notwendigkeit einer kindgerechten Unterbringung ihrer Töchter im Alter von drei und fünf Jahren deutlich erhöhte - Bedarf der Familie im Sinne eines absoluten Existenzminimums gedeckt werden kann. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Kläger zu 1. und 2. allein aufgrund der Sprachprobleme auf dem coronabedingt veränderten und angespannten ungarischen Arbeitsmarkt in naher Zukunft keine Chance haben werden, ein Einkommen zu erwirtschaften, das die menschenwürdige Unterbringung und die Versorgung der vierköpfigen Familie sicherstellen könnte. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der mittlerweile u.a. infolge des Ukrainekrieges zu verzeichnenden Inflation, die für Ungarn derzeit mit 11,67 % angegeben wird.
125Vgl. Angabe für Juni 2022, abgerufen unter www.global-rates.com, Inflation auf der Grundlage des Verbraucherpreisindex, kurz VPI onder CPI genannt. Der ungarische VPI gibt eine Preisentwicklung eines Standardpakets an Waren und Dienstleistungen, die ungarische Haushalte zu Konsumzwecken anschaffen, wieder.
126Die Klägerin zu 2. wird aufgrund ihrer Sprachschwierigkeiten, ihrer muslimischen Religionszugehörigkeit und ihrer eingeschränkten Einsatzfähigkeit als Mutter von zwei Kleinkindern, nicht auf dem Arbeitsmarkt bestehen können, zumindest nicht in den Bereichen, die anerkannt Schutzberechtigten in erster Linie offenstehen (Baugewerbe, Gastronomie und Tourismus).
127Vgl. zu den - aufgrund der soziokulturellen Unterschiede im Vergleich zu ungarischen Frauen - schlechteren Chancen geflüchteter Frauen, einen Arbeitsplatz zu finden: NIEM Policy Briefs 2: Vulnerabilität und Diskriminierung bei der Beschäftigung von Personen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn, S. 14; zur Auswirkung der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie: NIEM Policy Briefs 6: Ressourcen und Strategien für die erfolgreiche soziale Integration von muslimischen Frauen mit internationalem Schutzstatus in Ungarn.
128Auch der Kläger zu 1. wird allenfalls im untersten Lohnsektor etwa im Baugewerbe eine Arbeit finden können, die es ihm sicher nicht ermöglichen wird, den erhöhten Mindestunterhalt der Familie zu decken.
129Darüber hinaus wird den Klägern zu 1. und zu 2. die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit wegen der erforderlichen Betreuung der zwei minderjährigen Kinder, für die im ungarischen Bildungssystem - wenn überhaupt - nur sehr eingeschränkte Kapazitäten zur Verfügung stehen, nur in beschränktem zeitlichem Umfang möglich sein.
130Vgl. zur Betreuungssituation schulpflichtiger Kinder (also Kinder zwischen 6 und 16 Jahren): AIDA, Country Report: Hungary, 01. April 2021, S. 129; RESPOND, Paper 2020/43, S. 25; danach ist kaum eine Schule bereit, die spezielle Betreuung und Unterstützung anzubieten, die Flüchtlingskinder benötigen; wegen der wachsenden flüchtlingsfeindlichen Stimmung und aus Angst Eltern oder Spender zu verlieren, akzeptieren einige Schulen Kinder von Migranten nur in getrennten Klassen, ohne ein sinnvolles pädagogisches Programm und nur für zwei Stunden pro Tag im Gegensatz zu ungarischen Kindern, die fünf bis sieben Stunden pro Tag in der Schule verbringen.
131Angesichts der dargestellten Schwierigkeiten für die Familie der Kläger, ihre elementaren Grundbedürfnisse durch eigene Erwerbstätigkeit auf Dauer zu sichern, kann eine Überstellung nach Ungarn ohne belastbare individuelle längerfristige Versorgungszusicherung des ungarischen Staates nicht erfolgen. Eine solche Zusicherung liegt hier nicht vor. Eine Unterstützung seitens NGOs oder kirchlicher Organisationen in einem entsprechenden Umfang und mit gesicherter, längerfristiger Perspektive ist in Ungarn aktuell nicht (mehr) gewährleistet.
132Nach allem ist die in Ziffer 1. des angefochtenen Bescheids getroffene Unzulässigkeitsentscheidung aufzuheben.
133II. Die unter Ziffer 2. des Bescheids getroffene Feststellung des Fehlens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist bei Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung jedenfalls verfrüht ergangen. Das Bundesamt ist vorliegend zunächst verpflichtet, die Asylanträge der Kläger materiell zu prüfen, denn ein erneutes Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen an einen nachrangig zuständigen Mitglied- oder Vertragsstaat kommt hier ersichtlich nicht in Betracht. Eine Entscheidung über Abschiebungsverbote kann sachgemäß erst nach Abschluss der Asylverfahren erfolgen und insoweit auch nur in Bezug auf den (Heimat-)Staat, in den abgeschoben werden soll.
134Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris, Rn. 21.
135III. Die unter Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids verfügte Abschiebungsanordnung nach § 34 a Abs. 1 Sätze 1 und 3 AsylG ist ebenfalls rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt u.a. dann, wenn ein Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, ohne vorherige Androhung und Fristsetzung die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Da aus den oben genannten Gründen Ungarn für die Durchführung des Asylverfahrens nicht zuständig ist, lässt sich auch die Abschiebungsanordnung nach Ungarn nicht auf § 34 a Abs. 1 AsylG stützen.
136IV. Schließlich ist die in Ziffer 4. des Bundesamtsbescheids enthaltene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG nach alledem gegenstandslos geworden und ebenfalls aufzuheben.
137Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.
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