Urteil vom Verwaltungsgericht Freiburg - A 1 K 8214/17

Tenor

Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat.

Die Beklagte - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - wird verpflichtet, hinsichtlich des Klägers das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG in Bezug auf Somalia festzustellen.

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18.07.2017 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.

Der Kläger trägt 4/5 und die Beklagte 1/5 der Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt zuletzt noch die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots.
Der Kläger, nach eigenen Angaben somalischer Staatsangehöriger, reiste am 15.10.2014 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 19.11.2014 einen Asylantrag. Identitätspapiere legte er nicht vor.
Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 09.05.2017 führte der Kläger aus: Er gehöre zum Clan Isaaq und Subclan Saad Muse. Sie hätten Fußball gespielt. Dabei hätten sie mit dem Ball das Fenster der Moschee zerstört. Dann seien die Leute aus der Moschee gekommen und hätten verlangt, dass er das Gebet vorspreche. Da er das nicht gekonnt habe, hätten sie ihm die Nägel an den Zehen ausgerissen. Danach habe ihn seine Mutter zu dem Onkel, der mit Kat gehandelt habe, nach Afgoye geschickt. Als er bei seinem Onkel gewesen sei, seien die Islamisten zu ihm in Laden gekommen. Sie hätten ihn gefoltert und ihm mehrere Verletzungen zugefügt. Sie hätten seine Hände und den Pobereich verbrannt. Sie hätten ihm vorgeworfen, verbotene Rauschmittel zu verkaufen.
Er sei zurzeit in einer Psychiatrie und lasse sich dort behandeln. Er werde dort wegen Alkoholsucht behandelt. Er könne die ärztlichen Atteste nachreichen. Seit ihm vorgeworfen werde, dass er eine Frau vergewaltigt habe, habe er angefangen zu trinken. Seit Oktober 2016 mache er diese Therapie in der Klinik.
Unter dem 24.05.2017 wurde eine ärztliche Bescheinigung einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie des Zentrums für Psychiatrie R. eingereicht, in der ausgeführt wird: Seit November 2016 habe sich der Kläger viermal in stationärer psychiatrischer Behandlung befunden. Eine fachpsychiatrische Begutachtung für die weitreichende Frage, ob der Kläger gefahrlos in sein Heimatland zurückgeführt werden könne, sei nur mit erheblichem Aufwand und insbesondere mit einem Dolmetscher für Somali möglich. Ein solcher habe nicht gefunden werden können. Daher sei eine exakte Diagnose nicht möglich. In Betracht komme eine Posttraumatische Belastungsstörung, eine schwere Persönlichkeitsstörung und ein Alkohol- bzw. Substanzmissbrauch oder eine Abhängigkeit. Möglicherweise liege auch eine leichte Minderbegabung vor. Man könne sich dahingehend äußern, dass der Kläger ohne fachpsychiatrische Behandlung (stationär oder ambulant) einschließlich medikamentöser Therapie über einen längeren mehrjährigen Zeitraum mit großer Sicherheit in Lebensgefahr geraten würde, wie es auch hier immer wieder geschehen sei (Aufnahmeanlässe). Diese Krisen hätten hier jedes Mal abgefangen werden können. Eine Abschiebung in ein Land, das eine ambulante und stationäre psychiatrische Behandlung einschließlich der Bereitstellung entsprechender Medikamente nicht vorhalte, sei nur unter Lebensgefahr für den Kläger möglich. Er benötige dringend eine spezifische psychiatrische Behandlung. Da im hiesigen Zentrum für Psychiatrie einschließlich der dortigen Traumaambulanz kein Dolmetscher für Somali zur Verfügung stehe, könne eine weitergehende Aussage aktuell nicht geleistet werden.
Mit Bescheid vom 18.07.2017 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen. Zugleich forderte es den Antragssteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Der Bescheid wurde dem Kläger am 20.07.2017 zugestellt.
Der Kläger hat am 03.08.2017 unter dem Aktenzeichen A 1 K 6553/17 Klage erhoben. Unter dem 22.09.2017 hat er die Klagebegründung vorgelegt, die aufgrund der ungewöhnlichen grafischen Gestaltung - Hervorhebung des Begriffs „Klage“ und der Klageanträge - unter dem Aktenzeichen A 1 K 8214/17 versehentlich als weitere Klage eingetragen worden ist. Ursprünglich hat er dabei auch sein Begehren auf Zuerkennung der Asylberechtigung und der Flüchtlingseigenschaft sowie auf Zuerkennung subsidiären Schutzes weiterverfolgt. Mit Beschluss vom 23.01.2020 hat das Gericht beide Klageverfahren verbunden.
Der Kläger hat im Gerichtsverfahren ein psychiatrisches Gutachten einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie des Zentrums für Psychiatrie R. vom 19.12.2016 vorgelegt, in dem ausgeführt wird: Der erste stationäre psychiatrische Aufenthalt im Zentrum für Psychiatrie sei vom 12.-13.11.2016 erfolgt. Der Kläger habe in alkoholintoxikiertem Zustand auf der Straße Passanten besprochen und angepöbelt, die ihn zur Aufnahme gebracht hätten. Am 20.11.2016 sei eine ambulante Vorstellung in der zentralen Notaufnahme des Klinikums S. mit der Diagnose einer psychischen Dekompensation erfolgt. Er sei in Begleitung der Polizei vorgestellt worden. Im Rahmen einer Personenkontrolle sei es plötzlich zu einem ausgeprägten Erregungszustand mit Eigenaggressivität gekommen. Der Kläger sei mehrfach mit dem Kopf voraus gegen einen großen Stein gesprungen und habe den Kopf nach Überwältigung durch die Polizei auf den Boden geschlagen. Eine erneute Einweisung in das Zentrum für Psychiatrie R. bis zum 01.12.2016 sei erfolgt. Dort sei in Erfahrung gebracht worden, dass er bereits einmal psychiatrisch im gemeindepsychiatrischen Zentrum K. vorgestellt worden sei, wo ihm 100 mg Quetiapin verordnet worden seien. Der Kläger habe sich bei der Aufnahme bereit gezeigt, sich in stationäre Behandlung zu begeben. Diagnostiziert werde Alkoholabusus bzw. -abhängigkeit, emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Zustand nach Psychotraumatisierung, psychotisches Erleben unter Alkoholeinfluss. Der Kläger sei als umfassend betreuungsbedürftig anzusehen. Es gebe keine anderen Hilfsmöglichkeiten, die eine Betreuung entbehrlich machen könnten. Seine Rechte könnten anders als durch eine gesetzliche Betreuung nicht gewahrt werden, da auch das private Umfeld einschließlich der familiären Verhältnisse keinen Ersatz für eine persönliche Betreuung biete. Der Kläger könne im Rahmen steuerungseingeschränkter Zustände nicht selbst frei von Krankheit für sein Wohl sorgen und es könne gegebenenfalls auch zur Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik gegen seinen Willen im Sinn der Heilbehandlung kommen. Es sei davon auszugehen, dass keine volle Krankheitseinsicht bestehe.
Im Betreuungsverfahren ist ein (weiteres) psychiatrisches Betreuungsgutachten eingeholt worden, das am 23.05.2019 von einem Arzt der psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) erstattet worden ist. Darin heißt es: Es liege eine Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) sowie psychische Störungen und Verhaltensstörungen durch Alkohol, schädlicher Gebrauch vor (F 10.1). Es handle sich um eine schwere psychiatrische Erkrankung im Sinne einer Posttraumatischen Belastungsstörung nach Folterung und Misshandlungen in Somalia. Es bestehe ein rezidivierender teils schwerer Alkoholmissbrauch, der häufig mit fremd- und autoaggressivem Verhalten einhergehe. Es gebe keine Hilfsmöglichkeiten, die eine Betreuung ganz oder teilweise entbehrlich machen würden. Eine Verlängerung bzw. eine Erweiterung der Betreuung gegen den Willen des Klägers sei nicht möglich, da er seinen Willen frei und unbeeinflusst von der Erkrankung bilden könne. Allerdings habe er erklärt, mit der Fortführung der Betreuung einverstanden zu sein, jedoch einen Betreuerwechsel wünsche.
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Mit Beschluss vom 02.07.2019 hat das Amtsgericht Konstanz - Betreuungsgericht - die Verlängerung der Betreuung und die Beauftragung eines neuen Betreuers beschlossen (XVII 29/19).
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Mit Beschluss vom 09.01.2020 hat das Gericht ein psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt. In der zusammenfassenden Beurteilung führt der Gutachter Prof. Dr. E. in seinem Gutachten vom 23.03.2020 aus: Es seien mehrere Straftaten unter Alkoholeinfluss bekannt, von geringwertigem Diebstahl bis zu Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte mit versuchter Körperverletzung. Mehrfach sei es dabei auch zu selbstverletzendem Verhalten, wie z.B. dem Schlagen des Kopfes gegen Türrahmen und Boden gekommen, so dass Aufnahmen in das Zentrum für Psychiatrie R. veranlasst worden seien. Ein Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Übergriffs sowie sexueller Nötigung unter Gewaltanwendung sei eingestellt worden, da beide Geschädigte angegeben hätten, niemals sexuell genötigt worden zu sein. Der Kläger sei vom Amtsgericht S. zu einer Gesamtstrafe von acht Monaten und zwei Wochen verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden sei. Insgesamt habe er 100 Stunden gemeinnützige Arbeit verrichten und fünf Suchtberatungsgespräche wahrnehmen müssen. Psychiatrisch befinde er sich in ambulanter Behandlung in dem Gemeindepsychiatrischen Zentrum K.. Mehrfach, zuletzt im April 2019, seien stationäre Aufenthalte im Zentrum für Psychiatrie aufgrund von Alkoholmissbrauch erfolgt. Aktuell nehme er täglich 200 mg Quetapin zur Behandlung von Schlafstörungen ein. Bei Bedarf nehme er Risperidon 1 mg bis zu zweimal am Tag.
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Nach der Ankunft in Deutschland habe der Kläger zunehmend psychische Probleme bekommen. Er habe „im Kopf immer Stress“ gehabt und vermehrt Alkohol getrunken. In Somalia seien Alkohol oder andere Substanzen nie ein Problem gewesen. Aktuell trinke er seit 15 Monaten keinen Alkohol mehr und dadurch gehe es ihm schon etwas besser. Dennoch sei er sehr gestresst und benötige Quetapin zum Schlafen. Wenn sein Stresslevel zunehme, indem er z.B. in der Sonne durch die Stadt laufe, bemerke er, dass sein Mund unverständlich auf verschiedenen Sprachen durcheinander spreche. Teilweise höre er dies auch, ohne den Mund zu bewegen. Dafür habe er immer Risperidon-Tabletten dabei, welche in solchen Situationen nach kurzer Zeit helfen würden. An traumatischen Erinnerungen habe er berichtet, wie er mehrfach Tötungen durch Al-Shabab beobachtet habe. Einmal sei er im Gespräch mit seinem Onkel und Freunden gewesen, als plötzlich eine Vielzahl an Menschen auf offener Straße erschossen worden sei. Ein weiteres Mal habe er eine Bombenexplosion gesehen, bei welcher ebenfalls eine Vielzahl von Menschen gestorben sei.
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Es werde von einem halluzinatorischen Syndrom in Form von Gedankenlautwerden ausgegangen. Das ängstlich depressive halluzinatorisches Syndrom sei mit der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie vereinbar, sofern keine organische Ursache vorliege. Sowohl in einer Computertomographie des Schädels vor der Aufnahme in das Zentrum für Psychiatrie R. 2016 als auch in der gutachterlichen körperlichen Untersuchung hätten sich keine Hinweise auf eine organische Ursache der psychischen Erkrankung ergeben. Für die Behandlung einer paranoiden Schizophrenie werde primär die medikamentöse Behandlung mit einem Antipsychotikum empfohlen. Diese erfolge aktuell im Falle des Klägers mit der Einnahme von Risperidon und in geringem Umfang auch durch Quetapin. Beide Medikamente sollten allerdings nicht bei Bedarf, sondern regelmäßig eingenommen werden. Sowohl nach Aktenlage als auch beim gutachterlichen Gespräch mit dem Kläger würden mehrere traumatische Erlebnisse geschildert, welche durch ihre Art und Schwere für die Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung infrage kämen. Dennoch entwickle sich nach solchen Traumata nicht zwangsläufig eine Posttraumatische Belastungsstörung, dies sei lediglich eine mögliche Folgereaktion. Das für die Diagnose notwendige intensive Wiedererleben eines oder mehrerer lebensbedrohlicher Traumata habe nicht exploriert werden können. Weiterhin könne die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung nicht das vorliegende halluzinatorische Syndrom erklären. Dabei sei aber zu beachten, dass aufgrund der bestehenden Sprachbarriere keine detailreiche Exploration möglich gewesen sei.
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Bei dem Kläger habe die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung nicht gestellt werden können. Auf psychiatrischem Fachgebiet könne als psychische Störung mit Krankheitswert ein halluzinatorisches Syndrom festgestellt werden sowie ein Alkoholmissbrauch in der Vorgeschichte. Weiterhin bestehe aufgrund einer niedergestimmten Affektlage, diffuser Ängste, Antriebsminderung, eines verminderten Freudeempfindens, Ein- und Durchschlafstörungen ein ängstlich depressives Syndrom. Dieses ängstlich depressive halluzinatorische Syndrom erfülle nach ICD-10 die Diagnosekriterien einer paranoiden Schizophrenie, wobei eine organische Erkrankung als Ursache ausgeschlossen werden müsse. Generell sei bei der paranoiden Schizophrenie von einer schweren psychischen Erkrankung auszugehen. Im Vergleich zu anderen ambulanten oder stationären Patienten mit dieser Diagnose sei der Krankheitsverlauf im Falle des Klägers als mittelgradig bis schwer einzuschätzen. Weiterhin könne ein Alkoholmissbrauch (ICD-10: F 10.1) mit deutlichen psychischen und sozialen Beeinträchtigungen aus der Anamnese und den vorliegenden Akten nachvollzogen werden. Bei mehrmonatiger Alkoholabstinenz habe dieser allerdings bei der gutachterlichen Untersuchung eine untergeordnete Rolle gespielt.
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Aufgrund der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie sei primär eine medikamentöse Behandlung mit einem Antipsychotikum erforderlich. Diese erfolge bereits durch die Verschreibung von Risperidon und Quetapin. Da das halluzinatorische Syndrom weiterhin bestehe, solle die Medikation entsprechend angepasst und regelmäßig eingenommen werden. Falls keine Besserung eintrete, solle unter Berücksichtigung der Nebenwirkungen die Dosis erhöht oder auf ein anderes Präparat umgestellt werden.
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Eine psychiatrische Behandlung mit Fortführung der Pharmakotherapie sei weiterhin indiziert. Eine Besserung sei zu erwarten, wenn diese unter Anpassung der Medikation regelmäßig erfolge. Zur Verschlechterung der Erkrankung könnten ein erneuter Alkoholrückfall, psychosoziale Stressfaktoren wie z.B. ein Ortswechsel oder der Abbruch der psychiatrischen Behandlung führen. Eine erzwungene Rückkehr nach Somalia sei als erheblicher psychosozialer Stressfaktor zu sehen und würde, wie auch der Abbruch der psychiatrischen Behandlung und der medikamentösen Therapie, zu einer deutlichen Verschlechterung des psychischen Zustands führen. Es sei mit der Zunahme der halluzinatorischen Symptomatik bis zu Realitätsverkennung und verminderter Steuerungsfähigkeit zu rechnen. Ebenso sei anzunehmen, dass sich das ängstlich depressive Syndrom aggraviere und es erneut zu selbstschädigenden Verhalten komme, wie dies im Vorfeld der stationären Aufnahmen ins Zentrum für Psychiatrie R. 2016-2018 beschrieben worden sei. Aktuell sei es schwer vorstellbar, dass sich der Kläger in Somalia selbst ernähren könne, zumal er auf eine regelmäßige psychiatrische Behandlung angewiesen und unklar sei, ob diese in Somalia gesichert sei. Die Unterstützung von Familienangehörigen wirke sich sicherlich positiv auf die psychische Erkrankung aus. Dennoch sei der Kläger primär auf eine adäquate psychiatrische Behandlung und Pharmakotherapie angewiesen. Ohne diese sei es ihm auch mit umfangreicher Unterstützung nicht möglich, seine Existenz zu sichern.
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In Bezug auf die nur noch streitige Frage, ob ein nationales Abschiebungsverbot vorliegt, hat der Kläger nach Einholung des Gerichtsgutachtens zur Begründung vorgetragen: Er leide an einer schweren psychischen Krankheit (paranoide Schizophrenie). In seinem jetzigen psychischen Zustand könne er sich in der schwierigen Gesamtsituation in Somalia kaum selbst ernähren. Er könne dort keine regelmäßige psychiatrische Behandlung erfahren und die notwendigen Medikamente gar nicht oder nicht regelmäßig erhalten oder sie jedenfalls nicht finanzieren. Nach seinen glaubhaften Angaben habe er keine Familie mehr in Somalia. Sein Vater, sein kleiner Bruder und sein Onkel seien erschossen worden. Die Mutter sei nach Äthiopien geflohen. Eine Schwester halte sich in England auf. Der große Bruder sei im Jahr 2012 verstorben. Daher sei er in Somalia existenziell gefährdet.
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Nach teilweiser Rücknahme der Klage mit Schriftsatz vom 15.03.2019 beantragt der Kläger zuletzt sinngemäß,
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die Beklagte - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - zu verpflichten, hinsichtlich des Klägers das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG in Bezug auf Somalia festzustellen und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18.07.2017 aufzuheben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie macht geltend, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger im Falle der Abschiebung nach Somalia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche Behandlung drohe. Bei dem Kläger handle es sich um einen jungen und erwerbsfähigen Mann, der wegen seines Alkoholabusus in psychiatrischer Behandlung sei. Soweit eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert werde, seien die rechtlichen Mindestanforderungen an ein entsprechendes fachärztliches Attest nicht erfüllt. Es werde nicht nachvollziehbar angegeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt habe. In dem Attest vom 19.12.2016 werde das Erleben von traumatischen Ereignissen noch als Folge des Alkoholeinflusses dargestellt. In dem Attest vom 28.08.2019 werde nun festgestellt, dass der Kläger wegen der traumatischen Ereignisse Alkohol trinke. Darüber hinaus verfüge er in Somalia über familiären Rückhalt, denn dort lebten zumindest noch ein Bruder, zwei Onkel und eine Tante.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten des streitgegenständlichen Verfahrens sowie des Verfahrens A 1 K 6553/17 und die Asylakten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (1 Heft) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
24 
Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch den Vorsitzenden als Berichterstatter (§ 87a Abs. 2 VwGO) und nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.
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1. Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
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2. Hinsichtlich des noch zur Entscheidung verbleibenden Verfahrensgegenstandes ist die zulässige Klage begründet. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass ein nationales Abschiebungsverbot in Bezug auf Somalia festgestellt wird, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 18.07.2017 ist aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
27 
a) Es liegt ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vor.
28 
aa) Nach § 60 Abs. 7 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben und Freiheit besteht.
29 
Der Begriff der Gefahr im Sinne dieser Vorschrift ist im Ansatz kein anderer als der im allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angelegte, wobei allerdings das Element der Konkretheit der Gefahr für diesen Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert (BVerwG, Urteil vom 29.03.1996 - 9 C 116.95 - juris-Rn. 9). In der Sache entspricht der Begriff der beachtlichen Wahrscheinlichkeit dem der konkreten Gefahr im Sinne des allgemeinen Polizeirechts, d.h. der notwendige Grad der Wahrscheinlichkeit hat sich an der Schwere der zu erwartenden Beeinträchtigung auszurichten. Je schwerwiegender die zu erwartende Rechtsgutbeeinträchtigung ist, je geringer muss der Grad der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Gefahr sein (VG Sigmaringen, Urteil vom 22.06.2004 - A 7 K 10787/01 - juris-Rn. 23; vgl. auch Urteile der Kammer vom 24.03.2017 - A 1 K 17/16 - und vom 17.07.2019 - A 1 K 1705/16).
30 
Eine Gesundheitsgefahr ist erheblich, wenn aufgrund zielstaatsbezogener Umstände eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist, namentlich, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde (BVerwG, Urteil vom 25.11.1997 - 9 C 58.96, juris-Rn. 13s; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30.11.2006 - A 6 S 674/05, juris-Rn. 39). Eine existentielle oder extreme Gefahr, die den betroffenen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, ist indes nicht erforderlich (BVerwG, Urteil vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris-Rn. 18; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30.11.2006 - A 6 S 674/05 - juris-Rn. 39). Vorliegend geht es um eine individuelle Gefahr, zumal es sich bei psychischen Erkrankungen grundsätzlich um ein individuelles Schicksal handelt, dem kein einheitliches Krankheitsbild zugrunde liegt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.11.2006 - A 6 S 971/05 -; OVG Nordrh.-Westf., Beschluss vom 19.11.1996 - 19 B 1599/98 - juris; Gerichtsbescheid der Kammer vom 24.03.2017 - A 1 K 17/16 -).
31 
Konkret ist die Gefahr, wenn diese Verschlechterung alsbald - d.h. zeitnah - nach der Rückkehr des Betreffenden in den Heimatstaat einträte. Sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, sind in die Beurteilung mit einzubeziehen (BVerwG, Urteil vom 17.08.2006 - 1 C 18.05 - juris).
32 
Insbesondere die unzureichende Behandlungsmöglichkeit eines Leidens stellt einen solchen Umstand dar (BVerwG, Urteile vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 - juris und vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 - juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30.11.2006 - A 6 S 674/05 - juris). Dabei ist es nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Behandlungsmöglichkeiten sind jedoch dann unzureichend, wenn eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Herkunftsstaat wegen des geringen Versorgungsstandards generell nicht verfügbar sind. Darüber hinaus ist dies auch der Fall, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer jedoch individuell - aus finanziellen oder sonstigen Gründen - nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.12.2002 - 1 C 1.02 - juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30.11.2006 - A 6 S 674/05 - juris).
33 
Bei der Einschätzung, ob sich die Gefahr für Leib oder Leben wesentlich verschlimmern wird, sind des Weiteren die Auswirkungen der Einreise in den Zielstaat auf die psychischen Leiden sowie die Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland zu berücksichtigen (BVerwG, Beschluss vom 01.10.2001 - 1 B 185.01, juris-Rn. 2; vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.01.2005 - 8 A 1242/03.A, juris-Rn. 65).
34 
Der Gesetzgeber hat durch die zum 17.03.2016 wirksam gewordene Einfügung der neuen Sätze 2 bis 4 in § 60 Abs. 7 AufenthG diese in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze im Kern in das Gesetz übernommen und damit deren Voraussetzungen präzisiert (vgl. BT Drs. 18/7685). Hiernach heißt es jetzt:
35 
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist.
36 
bb) Dies zugrunde gelegt besteht für den Kläger nach § 60 Abs. 7 Satz 1 bis 4 AufenthG eine erhebliche und konkrete Gefahr für Leib und Leben im Falle einer Rückkehr nach Somalia. Er leidet unter einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung, die sich im Falle seiner Abschiebung nach Somalia alsbald wesentlich verschlechtern würde.
37 
Nach dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des Prof. Dr. E. vom 23.03.2020 leidet der Kläger allerdings nicht an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Er habe zwar traumatische Ereignisse geschildert, die für die Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung infrage kämen, aber das für die Diagnose notwendige intensive Wiedererleben von traumatischen Inhalten habe nicht exploriert werden können. Aufgrund von akustischen Halluzinationen in Form von Gedankenlautwerden in der klinischen Untersuchung könne als psychische Störung mit Krankheitswert ein halluzinatorisches Syndrom festgestellt werden. Weiterhin bestehe aufgrund einer niedergestimmten Affektlage, diffusen Ängsten, Antriebsminderung, einem verminderten Freudeempfinden, Ein- und Durchschlafstörungen ein ängstlich-depressives Syndrom. Dieses ängstlich depressive halluzinatorische System erfülle nach ICD-10 die Diagnosekriterien einer paranoiden Schizophrenie (F 20.0), wobei als Ursache eine organische Krankheit ausgeschlossen werden müsse. Bei unauffälliger Computertomographie des Schädels 2016 sowie der unauffälligen körperlichen Untersuchung im Rahmen des Gutachtens sei eine organische Ursache ihr unwahrscheinlich. Generell sei bei der paranoiden Schizophrenie von einer schweren psychischen Erkrankung auszugehen. Der Krankheitsverlauf sei im Falle des Klägers als mittelgradige bis schwer einzuschätzen. Weiterhin könne ein Alkoholmissbrauch (ICD-10: F 10.1) mit deutlichen psychischen und sozialen Beeinträchtigungen aus der Anamnese und den vorliegenden Akten nachvollzogen werden. Bei mehrmonatige Alkoholabstinenz spiele dieser allerdings bei der gutachterlichen Untersuchung eine untergeordnete Rolle.
38 
Diese Diagnose ist nachvollziehbar und überzeugend, da deren Kriterien nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen der WHO ICD-10 erfüllt sind. Bestärkt wird die Diagnose des Prof. Dr. E. zudem durch die im Betreuungsverfahren eingeholten fachärztlichen Stellungnahmen, die ebenfalls Krankheitssymptome einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung attestieren, auch wenn die behandelnden Fachärzte primär von einer Posttraumatischen Belastungsstörung ausgegangen sind. Von besonderem Gewicht ist - angesichts der gerichtsbekannten hohen fachlichen Kompetenz dieser Einrichtung - in diesem Zusammenhang auch, dass der Kläger mehrfach stationär in dem Zentrum für Psychiatrie R. aufgenommen und behandelt worden ist.
39 
Letztlich kann dahinstehen, welche dieser Diagnosen tatsächlich zutrifft. Denn die diagnostizierten Erkrankungen stellen allesamt schwerwiegende psychische Krankheiten dar.
40 
Eine organische Ursache dieser Krankheit(en) kann mit der erforderlichen Gewissheit ausgeschlossen werden. Die von dem Gerichtsgutachter angeregte weitere Abklärung, ob eine organische Erkrankung die Symptomatik verursacht, ändert daran nichts. Das Gericht versteht seine Ausführungen, es sei nicht ersichtlich, ob die empfohlene Kernspintomographie durchgeführt und ein „umfangreiches Labor“ abgenommen worden sei, um eine behandlungsbedürftige organische Erkrankung auszuschließen, in der Weise, dass diese Untersuchungen höchstens dem Ausschluss theoretischer Restzweifel an der gefundenen Diagnose dienen sollen. Denn der Gutachter betont zugleich, dass sich in einer Computertomographie des Schädels vor Aufnahme in das Zentrum für Psychiatrie R. 2016 sowie in der gutachterlichen körperlichen Untersuchung keine Hinweise auf eine organische Ursache der psychischen Erkrankung gefunden hätten. Es gebe keinen Hinweis auf neurologische Defizite. Bei dieser Sachlage ist nach der Überzeugung des Gerichts die Diagnose einer schweren und behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung als hinreichend gesichert anzusehen. Durch rein theoretische Restzweifel ist die Bildung einer entsprechenden Überzeugung des Gerichts nicht ausgeschlossen. Das Gericht würde im Gegenteil den Begriff der Überzeugung verkennen und § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzen, wenn es sich wegen der - eigentlich immer gegebenen - lediglich theoretischen Möglichkeit eines anderen Sachverhalts gehindert sähe, von einem bestimmten Sachverhalt überzeugt zu sein (Dawin in Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, § 108 Rn. 41). Die Überzeugung von der Wahrheit erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit, da eine solche nicht zu erreichen ist. Das Gericht darf also nicht darauf abstellen, ob jeder Zweifel und jede Möglichkeit des Gegenteils ausgeschlossen ist (BGH, Urteil vom 14.12.1993 - VI ZR 221/92 - NJW-RR 1994, 567).
41 
Ferner steht die derzeit durchgeführte Behandlung in Einklang mit dem gerichtlichen Gutachten vom 23.03.2020. Aufgrund der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie soll nach Auffassung des Gutachters primär eine medikamentöse Behandlung mit einem Antipsychotikum erfolgen. Diese erfolge bereits durch die Verschreibung von Risperidon und Quetiapin. Da weiterhin ein halluzinatorisches Syndrom bestehe, hält der Gutachter lediglich eine Anpassung der Medikation, die der Kläger bereits erhält, für erforderlich. Damit meint er, dass beide Medikamente nicht nur bei Bedarf, sondern sogar regelmäßig eingenommen werden sollen (Gutachten Prof. E. S. 10). Das Gericht versteht dies so, dass bereits die derzeit durchgeführte Therapie zur Behandlung der Erkrankung des Klägers geeignet ist, aber im Sinne einer Optimierung sogar noch intensiviert werden sollte.
42 
Bei einer Rückkehr des Klägers nach Somalia wäre alsbald mit einer wesentlichen Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes zu rechnen, da in diesem Fall die bei ihm durchgeführte Behandlung abgebrochen werden müsste, ohne dass dies in Somalia wirkungsvoll aufgefangen werden könnte. Damit wäre eine baldige wesentliche Verschlimmerung seines Gesundheitszustands ernsthaft zu befürchten. Dies wird nachvollziehbar und übereinstimmend in dem Gerichtsgutachten vom 23.03.2020 und den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen und den im Betreuungsverfahren eingeholten fachärztlichen Stellungnahmen ausgeführt. Nach dem Gerichtsgutachten würde eine erzwungene Rückkehr des Klägers nach Somalia einen erheblichen psychosozialen Stressfaktor darstellen und, wie auch der Abbruch der psychiatrischen Behandlung und der medikamentösen Therapie, zu einer deutlichen Verschlechterung des psychischen Zustands führen. Es sei mit der Zunahme der halluzinatorischen Symptomatik bis zu Realitätsverkennung und verminderter Steuerungsfähigkeit zu rechnen. Weiter sei anzunehmen, dass sich das ängstlich depressives Syndrom aggraviere und es erneut zu selbstschädigenden Verhalten komme wie im Vorfeld der stationären Aufnahme in das Zentrum für Psychiatrie R. 2016-2018 beschrieben.
43 
Bei realistischer Betrachtungsweise kann der Kläger keine adäquate ärztliche Behandlung in Somalia erwarten. Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft. Die öffentlichen Krankenhäuser sind unzureichend ausgestattet, was Ausrüstung/medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht. Zudem behindert die unzureichende Sicherheitslage ihre Arbeit. Versorgungs- und Gesundheitsmaßnahmen internationaler Hilfsorganisationen mussten auch immer wieder wegen Kampfhandlungen oder aufgrund von Anordnungen örtlicher (islamistischer) Machthaber unterbrochen werden (AA, Lagebericht vom 04.03.2019).
44 
Auch nach den Erkenntnissen des österreichischen Bundesamts für Asyl zählt die Gesundheitslage in Somalia zu den schlechtesten der ganzen Welt (BFA Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia, Somaliland - Gesamtaktualisierung 12.01.2018; Update: 17.09.2018). Die Förderung von Gesundheitsprogrammen ist gering. Erhebliche Teile der Bevölkerung haben keinen Zugang zu hinreichenden sanitären Einrichtungen. Medizinische Grunddienste stehen nicht ausreichend zur Verfügung. Allerdings variiert der Zugang zu medizinischer Versorgung. Da es kein staatliches Gesundheitssystem gibt, ist die Versorgungslage maßgeblich davon abhängig, wie sehr der Zugang für lokale und internationale Hilfsorganisationen in einem Gebiet gewährleistet ist. Folglich ist die Versorgungslage in den größeren Städten besser. Schätzungsweise 80% der Bevölkerung haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Die öffentlichen Krankenhäuser sind mangelhaft ausgestattet, was Ausrüstung/medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht. Zudem behindert die unzureichende Sicherheitslage ihre Arbeit. Versorgungs- und Gesundheitsmaßnahmen internationaler Hilfsorganisationen mussten auch immer wieder wegen Kampfhandlungen oder aufgrund von Anordnungen örtlicher (islamistischer) Machthaber unterbrochen werden. Gesundheitspersonal ist rar und Spitäler sind aufgrund von Unterfinanzierung von Schließungen gefährdet. Allerdings sind z.B. in Mogadischu seit 2014 einige Gesundheitseinrichtungen, Spitäler und Kliniken neu eingerichtet worden.
45 
Nicht besser stellt sich die Situation psychisch Kranker dar. Zur Betreuung psychischer Erkrankungen gibt es insgesamt lediglich fünf Zentren. Diese befinden sich in Berbera, Bossaso, Garoowe, Hargeysa und Mogadischu. Allerdings arbeiten insgesamt nur drei Psychiater an diesen Einrichtungen (BFA Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia, Somaliland - Gesamtaktualisierung 12.01.2018; Update: 17.09.2018).
46 
Nach den Erkenntnissen des „Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation - ACCORD“ halten die kulturellen Normen Menschen davon ab, psychische Gesundheitsprobleme einzugestehen oder sich mit diesen auf konstruktive Weise auseinanderzusetzen. Psychische Störungen sind in Somalia aufgrund eines fehlenden Bewusstseins und fehlender Bildung hinsichtlich dieser Angelegenheit in der Bevölkerung mit einem Stigma belegt. Aufgrund des Mangels an Behandlungseinrichtungen und Ausbildung in psychischen Gesundheitsdiensten sind die Familien gezwungen, mit diesen Erkrankungen selbst fertig zu werden, was zu einer Falschdiagnose und grausamen Behandlungsmethoden wie „in Ketten legen“ und Inhaftierung führt. Der Großteil der „Behandlung“ in Somalia beruht nicht auf wissenschaftlicher Forschung oder standardisierter medizinischer Praxis, sondern ist eher ein Bewältigungsmechanismus, um die Patienten davon abzuhalten, sich selbst oder andere zu verletzten. Viele Somali mit psychischen Erkrankungen sind gesellschaftlich abgeschottet und gefährdet. Die Qual dieser Abschottung wird stark verspürt, da die somalische Kultur traditionell kommunal und familiär orientiert ist. Psychisch Kranke werden im Allgemeinen in Ketten gelegt oder eingesperrt und laut einem Bericht der WHO vom Oktober 2010 zur psychischen Gesundheit in Somalia stigmatisiert, diskriminiert und gesellschaftlich abgeschottet. Erniedrigende und gefährliche kulturelle Praktiken wie das „in Ketten legen“ sind sogar gesellschaftlich und medizinisch akzeptiert. Traditionelle Heiler spielen eine wichtige Rolle. Dienste zur psychischen Gesundheitsversorgung stehen in Somalia nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung, weisen einen Mangel an angemessener Ausrüstung auf und können geografisch nur eingeschränkt die Bedürfnisse des Landes abdecken (ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu Somalia: Lage von Personen mit psychischen Störungen, Erkrankungen oder Einschränkungen sowie zum psychischen Gesundheitssystem vom 23.02.2017).
47 
Dass die Praxis, psychisch Kranke wegzusperren und in Ketten zu legen, immer noch ein Problem darstellt, wird auch in einem Bericht der WHO aus dem Jahr 2017 (WHO 2017a: Somalia – Mental Health, http://www.emro.who.int/som/programmes/mental-health.html) erwähnt, auch wenn es hiernach mittlerweile „Chain-Free“-Initiativen gibt:
48 
„The practice of keeping mentally ill people in chains is common in Somalia, a sign of a lack of adequate mental health care services. The Chain-Free Initiative aims to restore the rights and dignity of mentally-ill persons by advocating for chain-free hospitals, chain-free homes and a chain-free environment where mentally ill patients can receive treatment and care. With the support of WHO, the Initiative has been implemented at the Habeeb Hospital in Mogadishu and at the Hargeisa Group Hospital mental health ward.“
49 
Angesichts der in Somalia nicht gewährleisteten Behandlung, der erheblichen gesellschaftlichen Diskriminierung psychisch Kranker sowie der im Falle einer Abschiebung, die einen erhebliche „Stressor“ darstellen würde, zu befürchtenden Verschlimmerung der psychotischen Symptomatik ist davon auszugehen, dass eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers bereits in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Rückkehr nach Somalia eintreten würde.
50 
b) Ferner ist ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben.
51 
aa) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf.
52 
Der in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verwendete strengere Maßstab der „Extremgefahr“ zur Rechtfertigung der Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG lässt sich von Vornherein nicht auf die in § 60 Abs. 5 EMRK i.V.m. Art. 3 EMRK getroffene Regelung übertragen (vgl. zum Ganzen: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.07.2019 - A 9 S 1566/18 - juris, vgl. auch BVerwG, Beschlüsse vom 08.08.2018 - 1 B 25.18 - NVwZ 2019, 61 und vom 21.08.2018 - 1 B 40.18 - juris-Rn. 11). Um ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art 3 EMRK zu begründen, müssen die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren jedoch ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) erreichen. Dies kann der Fall sein, wenn er seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist danach relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenden körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen (BVerwG, Beschlüsse vom 08.08.2018, a.a.O., Rn. 9 und vom 21.08.2018, a.a.O., jeweils m.w.N. zur Rspr. des EGMR und des EUGH). Im Rahmen der hiernach anzustellenden Gesamtschau können neben der Möglichkeit, eine Unterkunft zu finden, insbesondere auch Faktoren von Bedeutung sein wie der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen (vgl. hierzu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2017 -A 11 S 1704/17 - juris m.w.N. zur Rspr. des BayVGH). Schließlich ist naturgemäß in diesem Zusammenhang von besonderer Relevanz, inwiefern Rückkehrer auf den Rückhalt im Herkunftsland verbliebener Familienmitglieder, zurückgreifen können (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.07.2019 - A 9 S 1566/18 - juris).
53 
bb) Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen dieser Regelung für den Kläger vor.
54 
Die schlechten Lebensbedingungen in Somalia führen allerdings für sich allein genommen nicht dazu, dass Abschiebungen wegen eines Verstoßes gegen § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK stets unzulässig sind. Das Gericht ist indes aufgrund der individuellen Umstände im Falle des Klägers davon überzeugt, dass sich die ohnehin schwierige Situation in Somalia für den Kläger derart zuspitzten würde, dass die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegen.
55 
Es bestehen individuelle gefahrerhöhende Umstände im Falle des Klägers. Eine Abschiebung ist nur nach Mogadischu - theoretisch - denkbar. Dort hätte der psychisch kranke Kläger, wenn man von seinen aktuellen Angaben ausgeht, wonach in Somalia keine Angehörigen mehr leben, aber keine Unterstützung durch seine Familie und auch sonst keinen Anlaufpunkt. Deshalb dürfte bei lebensnaher Betrachtungsweise zu erwarten sein, dass er nur in einem der überbevölkerten Flüchtlingslager in oder bei Mogadischu unterkommen könnte, in denen aber letztlich - auch für psychisch Gesunde - untragbare Zustände herrschen. Es kommt dort durch das sog. Gatekeeper-System zu Unterdrückung und schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Lager, insbesondere dann, wenn jemand wie der Kläger allein und damit schutzlos ist (vgl. im Einzelnen SFH - Situation intern Vertriebener, 25.10.2013). Die Zahl der Binnenvertriebenen in Süd- und Zentralsomalia beträgt mehr als 1,5 Millionen; viele von ihnen sind akut von Nahrungsmittelknappheit bedroht (ACCORD, Länderkurzübersicht Somalia, September 2016; BFA Österreich, Länderinformationsblatt Somalia vom 12.01.2018 sowie Kurzinformation, 20.09.2016; IDMC und NRC - Somalia: Over a million IDP’s need support for local solutions; Humanitarian Bulletin Somalia, 16.07.2015). Rückkehrer aus dem Ausland konkurrieren mit dieser großen Zahl an intern Vertriebenen um die ohnehin nicht ausreichenden Ressourcen des Landes. Wenn eine Person in einem Gebiet weder über eine Kernfamilie noch über Verwandte verfügt, wird sie sich in einem IDP-Lager wiederfinden und sich keinen Lebensunterhalt sichern können; eine erfolgreiche Reintegration hängt also in erheblichem Maße von den lokalen Beziehungen der rückkehrenden Person ab (BFA Österreich, Länderinformationsblatt vom 04.03.2018; VG Halle, Urteil vom 21.02.2019 - 4 A 58/17 - juris). Diese Situation dürfte sich durch die aktuell drohende schwere Hungersnot aufgrund einer ausgeprägten Dürreperiode noch weiter verschärft haben (vgl. BFA Österreich, Kurzinformation vom 20.09.2016). Ein wesentlicher Grund für diese humanitäre Krise besteht weiterhin darin, dass bewaffnete Gruppen die Arbeit von Hilfsorganisationen behindern. Er ist also letztlich in dem in Somalia bestehenden innerstaatlichen Konflikt zu sehen. Die prekären humanitären Verhältnisse sind mithin mit anderen Worten nicht nur auf Dürreperioden zurückzuführen, sondern werden maßgeblich von den Konfliktparteien verursacht und ausgenutzt (VG Halle, Urteil vom 21.02.2019 - 4 A 58/17 - juris). Durch die jetzt drohende Heuschreckenplage dürfte sich die allgemeine Situation sogar noch weiter verschlimmert haben. Im Falle des Klägers stellt sich die hiernach ohnehin schon äußerst prekäre allgemeine Situation in Somalia aufgrund seiner psychischen Erkrankung sogar noch weit drastischer dar.
56 
Wenn man davon ausgeht, dass der Kläger in Somalia keine Familienangehörige hat, würde auch außerhalb eines Flüchtlingslagers seine infolge seiner psychischen Erkrankung eingeschränkte Arbeitskraft offenkundig nicht ausreichen, um das Existenzminimum zu sichern. Er ist aufgrund seiner schweren psychischen Erkrankung auf absehbare Zeit nicht in der Lage, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen. Hieran bestehen gerade auch angesichts der Bestellung eines gesetzlichen Betreuers in Deutschland keine Zweifel. Der Kläger ist weder gesund noch arbeitsfähig, sondern gehört einer vulnerablen Gruppe an. Hinzu kommt, dass damit zu rechnen ist, dass sich die Erkrankung des Klägers mangels Erreichbarkeit der erforderlichen medizinischen Versorgung in Somalia deutlich und zeitnah verschlechtern wird.
57 
Selbst wenn der Kläger noch über familiäre Bindungen in Somalia verfügen sollte, wie die Beklagte annimmt, ist angesichts seiner individuellen Situation anzunehmen, dass er dennoch nicht in der Lage sein wird, in dem äußerst prekären sozialen und wirtschaftlichen Umfeld in Mogadischu seine humanitären Grundbedürfnisse in einer Weise zu decken, die ihn vor einer Verelendung und äußerster Verarmung bewahren kann (vgl. VG Hannover, Urteil vom 07.06.2019 - juris/BAMF). Auch der Gerichtsgutachter hat schlüssig, nachvollziehbar und damit überzeugend festgestellt, dass der Kläger aufgrund der Schwere seiner Erkrankung bei einem unterstellten Abbruch der Behandlung selbst im Falle einer umfangreichen Unterstützung durch Familienangehörige nicht in der Lage wäre, seine Existenz eigenständig zu sichern (Gutachten Prof. E., S. 14). Bei der paranoiden Schizophrenie handle es sich um eine schwere psychische Erkrankung, die medikamentös behandelt, aber nicht geheilt werden könne. Bei dem Kläger spreche das Fortbestehen der halluzinatorischen Symptomatik trotz antipsychotischer Medikation ihr für einen komplizierten Verlauf. Es sei schwer vorstellbar, dass er in seinem jetzigen psychischen Zustand in einer schwierigen Gesamtsituation in Somalia sich selbst ernähren könne. Die Unterstützung von Familienangehörigen würde sich positiv auf die psychische Erkrankung auswirken. Dennoch sei der Kläger primär auf eine adäquate psychiatrische Behandlung und Pharmakotherapie angewiesen. Ohne diese sei es ihm auch mit umfangreicher Unterstützung nicht möglich, seine Existenz zu sichern. Auch diese Schlussfolgerung des Gerichtsgutachters ist überzeugend, da sie schlüssig und auf der Grundlage der gestellten Diagnose ohne weiteres nachvollziehbar ist.
58 
c) Eine Ausnahme vom Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 8 AufenthG greift hier trotz der - früheren - Straffälligkeit des Klägers nicht ein.
59 
Nach dieser Vorschrift findet Absatz 1 (des § 60 AufenthG) keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist (Satz 1). Ferner kann von der Anwendung des Absatzes 1 (des § 60 AufenthG) abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
60 
Die Anwendung dieser Vorschrift scheitert hier schon von vornherein daran, dass sie nach ihrem klaren Wortlaut lediglich den Abschiebungsschutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention nach § 60 Abs. 1 AufenthG und nicht die hier relevanten nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG betrifft (vgl. Hailbronner, AuslR, § 60 AufenthG, Rn. 102). Abgesehen davon weisen die Straftaten des Klägers, soweit sie dem Gericht bekannt sind, nicht die für die Anwendung des § 60 Abs. 8 Sätze 1 oder 3 AufenthG erforderliche Schwere auf.
61 
d) Infolge dessen sind auch die Ziffern 5 und 6 des angefochtenen Bescheids aufzuheben, in denen die Abschiebungsandrohung nach Somalia und das Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 - juris).
62 
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83 b AsylG gerichtskostenfrei.

Gründe

 
24 
Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch den Vorsitzenden als Berichterstatter (§ 87a Abs. 2 VwGO) und nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.
25 
1. Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
26 
2. Hinsichtlich des noch zur Entscheidung verbleibenden Verfahrensgegenstandes ist die zulässige Klage begründet. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass ein nationales Abschiebungsverbot in Bezug auf Somalia festgestellt wird, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 18.07.2017 ist aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
27 
a) Es liegt ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vor.
28 
aa) Nach § 60 Abs. 7 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben und Freiheit besteht.
29 
Der Begriff der Gefahr im Sinne dieser Vorschrift ist im Ansatz kein anderer als der im allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angelegte, wobei allerdings das Element der Konkretheit der Gefahr für diesen Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert (BVerwG, Urteil vom 29.03.1996 - 9 C 116.95 - juris-Rn. 9). In der Sache entspricht der Begriff der beachtlichen Wahrscheinlichkeit dem der konkreten Gefahr im Sinne des allgemeinen Polizeirechts, d.h. der notwendige Grad der Wahrscheinlichkeit hat sich an der Schwere der zu erwartenden Beeinträchtigung auszurichten. Je schwerwiegender die zu erwartende Rechtsgutbeeinträchtigung ist, je geringer muss der Grad der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Gefahr sein (VG Sigmaringen, Urteil vom 22.06.2004 - A 7 K 10787/01 - juris-Rn. 23; vgl. auch Urteile der Kammer vom 24.03.2017 - A 1 K 17/16 - und vom 17.07.2019 - A 1 K 1705/16).
30 
Eine Gesundheitsgefahr ist erheblich, wenn aufgrund zielstaatsbezogener Umstände eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist, namentlich, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde (BVerwG, Urteil vom 25.11.1997 - 9 C 58.96, juris-Rn. 13s; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30.11.2006 - A 6 S 674/05, juris-Rn. 39). Eine existentielle oder extreme Gefahr, die den betroffenen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, ist indes nicht erforderlich (BVerwG, Urteil vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris-Rn. 18; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30.11.2006 - A 6 S 674/05 - juris-Rn. 39). Vorliegend geht es um eine individuelle Gefahr, zumal es sich bei psychischen Erkrankungen grundsätzlich um ein individuelles Schicksal handelt, dem kein einheitliches Krankheitsbild zugrunde liegt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.11.2006 - A 6 S 971/05 -; OVG Nordrh.-Westf., Beschluss vom 19.11.1996 - 19 B 1599/98 - juris; Gerichtsbescheid der Kammer vom 24.03.2017 - A 1 K 17/16 -).
31 
Konkret ist die Gefahr, wenn diese Verschlechterung alsbald - d.h. zeitnah - nach der Rückkehr des Betreffenden in den Heimatstaat einträte. Sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, sind in die Beurteilung mit einzubeziehen (BVerwG, Urteil vom 17.08.2006 - 1 C 18.05 - juris).
32 
Insbesondere die unzureichende Behandlungsmöglichkeit eines Leidens stellt einen solchen Umstand dar (BVerwG, Urteile vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 - juris und vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 - juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30.11.2006 - A 6 S 674/05 - juris). Dabei ist es nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Behandlungsmöglichkeiten sind jedoch dann unzureichend, wenn eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Herkunftsstaat wegen des geringen Versorgungsstandards generell nicht verfügbar sind. Darüber hinaus ist dies auch der Fall, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer jedoch individuell - aus finanziellen oder sonstigen Gründen - nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.12.2002 - 1 C 1.02 - juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30.11.2006 - A 6 S 674/05 - juris).
33 
Bei der Einschätzung, ob sich die Gefahr für Leib oder Leben wesentlich verschlimmern wird, sind des Weiteren die Auswirkungen der Einreise in den Zielstaat auf die psychischen Leiden sowie die Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland zu berücksichtigen (BVerwG, Beschluss vom 01.10.2001 - 1 B 185.01, juris-Rn. 2; vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.01.2005 - 8 A 1242/03.A, juris-Rn. 65).
34 
Der Gesetzgeber hat durch die zum 17.03.2016 wirksam gewordene Einfügung der neuen Sätze 2 bis 4 in § 60 Abs. 7 AufenthG diese in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze im Kern in das Gesetz übernommen und damit deren Voraussetzungen präzisiert (vgl. BT Drs. 18/7685). Hiernach heißt es jetzt:
35 
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist.
36 
bb) Dies zugrunde gelegt besteht für den Kläger nach § 60 Abs. 7 Satz 1 bis 4 AufenthG eine erhebliche und konkrete Gefahr für Leib und Leben im Falle einer Rückkehr nach Somalia. Er leidet unter einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung, die sich im Falle seiner Abschiebung nach Somalia alsbald wesentlich verschlechtern würde.
37 
Nach dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des Prof. Dr. E. vom 23.03.2020 leidet der Kläger allerdings nicht an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Er habe zwar traumatische Ereignisse geschildert, die für die Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung infrage kämen, aber das für die Diagnose notwendige intensive Wiedererleben von traumatischen Inhalten habe nicht exploriert werden können. Aufgrund von akustischen Halluzinationen in Form von Gedankenlautwerden in der klinischen Untersuchung könne als psychische Störung mit Krankheitswert ein halluzinatorisches Syndrom festgestellt werden. Weiterhin bestehe aufgrund einer niedergestimmten Affektlage, diffusen Ängsten, Antriebsminderung, einem verminderten Freudeempfinden, Ein- und Durchschlafstörungen ein ängstlich-depressives Syndrom. Dieses ängstlich depressive halluzinatorische System erfülle nach ICD-10 die Diagnosekriterien einer paranoiden Schizophrenie (F 20.0), wobei als Ursache eine organische Krankheit ausgeschlossen werden müsse. Bei unauffälliger Computertomographie des Schädels 2016 sowie der unauffälligen körperlichen Untersuchung im Rahmen des Gutachtens sei eine organische Ursache ihr unwahrscheinlich. Generell sei bei der paranoiden Schizophrenie von einer schweren psychischen Erkrankung auszugehen. Der Krankheitsverlauf sei im Falle des Klägers als mittelgradige bis schwer einzuschätzen. Weiterhin könne ein Alkoholmissbrauch (ICD-10: F 10.1) mit deutlichen psychischen und sozialen Beeinträchtigungen aus der Anamnese und den vorliegenden Akten nachvollzogen werden. Bei mehrmonatige Alkoholabstinenz spiele dieser allerdings bei der gutachterlichen Untersuchung eine untergeordnete Rolle.
38 
Diese Diagnose ist nachvollziehbar und überzeugend, da deren Kriterien nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen der WHO ICD-10 erfüllt sind. Bestärkt wird die Diagnose des Prof. Dr. E. zudem durch die im Betreuungsverfahren eingeholten fachärztlichen Stellungnahmen, die ebenfalls Krankheitssymptome einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung attestieren, auch wenn die behandelnden Fachärzte primär von einer Posttraumatischen Belastungsstörung ausgegangen sind. Von besonderem Gewicht ist - angesichts der gerichtsbekannten hohen fachlichen Kompetenz dieser Einrichtung - in diesem Zusammenhang auch, dass der Kläger mehrfach stationär in dem Zentrum für Psychiatrie R. aufgenommen und behandelt worden ist.
39 
Letztlich kann dahinstehen, welche dieser Diagnosen tatsächlich zutrifft. Denn die diagnostizierten Erkrankungen stellen allesamt schwerwiegende psychische Krankheiten dar.
40 
Eine organische Ursache dieser Krankheit(en) kann mit der erforderlichen Gewissheit ausgeschlossen werden. Die von dem Gerichtsgutachter angeregte weitere Abklärung, ob eine organische Erkrankung die Symptomatik verursacht, ändert daran nichts. Das Gericht versteht seine Ausführungen, es sei nicht ersichtlich, ob die empfohlene Kernspintomographie durchgeführt und ein „umfangreiches Labor“ abgenommen worden sei, um eine behandlungsbedürftige organische Erkrankung auszuschließen, in der Weise, dass diese Untersuchungen höchstens dem Ausschluss theoretischer Restzweifel an der gefundenen Diagnose dienen sollen. Denn der Gutachter betont zugleich, dass sich in einer Computertomographie des Schädels vor Aufnahme in das Zentrum für Psychiatrie R. 2016 sowie in der gutachterlichen körperlichen Untersuchung keine Hinweise auf eine organische Ursache der psychischen Erkrankung gefunden hätten. Es gebe keinen Hinweis auf neurologische Defizite. Bei dieser Sachlage ist nach der Überzeugung des Gerichts die Diagnose einer schweren und behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung als hinreichend gesichert anzusehen. Durch rein theoretische Restzweifel ist die Bildung einer entsprechenden Überzeugung des Gerichts nicht ausgeschlossen. Das Gericht würde im Gegenteil den Begriff der Überzeugung verkennen und § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzen, wenn es sich wegen der - eigentlich immer gegebenen - lediglich theoretischen Möglichkeit eines anderen Sachverhalts gehindert sähe, von einem bestimmten Sachverhalt überzeugt zu sein (Dawin in Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, § 108 Rn. 41). Die Überzeugung von der Wahrheit erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit, da eine solche nicht zu erreichen ist. Das Gericht darf also nicht darauf abstellen, ob jeder Zweifel und jede Möglichkeit des Gegenteils ausgeschlossen ist (BGH, Urteil vom 14.12.1993 - VI ZR 221/92 - NJW-RR 1994, 567).
41 
Ferner steht die derzeit durchgeführte Behandlung in Einklang mit dem gerichtlichen Gutachten vom 23.03.2020. Aufgrund der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie soll nach Auffassung des Gutachters primär eine medikamentöse Behandlung mit einem Antipsychotikum erfolgen. Diese erfolge bereits durch die Verschreibung von Risperidon und Quetiapin. Da weiterhin ein halluzinatorisches Syndrom bestehe, hält der Gutachter lediglich eine Anpassung der Medikation, die der Kläger bereits erhält, für erforderlich. Damit meint er, dass beide Medikamente nicht nur bei Bedarf, sondern sogar regelmäßig eingenommen werden sollen (Gutachten Prof. E. S. 10). Das Gericht versteht dies so, dass bereits die derzeit durchgeführte Therapie zur Behandlung der Erkrankung des Klägers geeignet ist, aber im Sinne einer Optimierung sogar noch intensiviert werden sollte.
42 
Bei einer Rückkehr des Klägers nach Somalia wäre alsbald mit einer wesentlichen Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes zu rechnen, da in diesem Fall die bei ihm durchgeführte Behandlung abgebrochen werden müsste, ohne dass dies in Somalia wirkungsvoll aufgefangen werden könnte. Damit wäre eine baldige wesentliche Verschlimmerung seines Gesundheitszustands ernsthaft zu befürchten. Dies wird nachvollziehbar und übereinstimmend in dem Gerichtsgutachten vom 23.03.2020 und den vom Kläger vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen und den im Betreuungsverfahren eingeholten fachärztlichen Stellungnahmen ausgeführt. Nach dem Gerichtsgutachten würde eine erzwungene Rückkehr des Klägers nach Somalia einen erheblichen psychosozialen Stressfaktor darstellen und, wie auch der Abbruch der psychiatrischen Behandlung und der medikamentösen Therapie, zu einer deutlichen Verschlechterung des psychischen Zustands führen. Es sei mit der Zunahme der halluzinatorischen Symptomatik bis zu Realitätsverkennung und verminderter Steuerungsfähigkeit zu rechnen. Weiter sei anzunehmen, dass sich das ängstlich depressives Syndrom aggraviere und es erneut zu selbstschädigenden Verhalten komme wie im Vorfeld der stationären Aufnahme in das Zentrum für Psychiatrie R. 2016-2018 beschrieben.
43 
Bei realistischer Betrachtungsweise kann der Kläger keine adäquate ärztliche Behandlung in Somalia erwarten. Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft. Die öffentlichen Krankenhäuser sind unzureichend ausgestattet, was Ausrüstung/medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht. Zudem behindert die unzureichende Sicherheitslage ihre Arbeit. Versorgungs- und Gesundheitsmaßnahmen internationaler Hilfsorganisationen mussten auch immer wieder wegen Kampfhandlungen oder aufgrund von Anordnungen örtlicher (islamistischer) Machthaber unterbrochen werden (AA, Lagebericht vom 04.03.2019).
44 
Auch nach den Erkenntnissen des österreichischen Bundesamts für Asyl zählt die Gesundheitslage in Somalia zu den schlechtesten der ganzen Welt (BFA Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia, Somaliland - Gesamtaktualisierung 12.01.2018; Update: 17.09.2018). Die Förderung von Gesundheitsprogrammen ist gering. Erhebliche Teile der Bevölkerung haben keinen Zugang zu hinreichenden sanitären Einrichtungen. Medizinische Grunddienste stehen nicht ausreichend zur Verfügung. Allerdings variiert der Zugang zu medizinischer Versorgung. Da es kein staatliches Gesundheitssystem gibt, ist die Versorgungslage maßgeblich davon abhängig, wie sehr der Zugang für lokale und internationale Hilfsorganisationen in einem Gebiet gewährleistet ist. Folglich ist die Versorgungslage in den größeren Städten besser. Schätzungsweise 80% der Bevölkerung haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Die öffentlichen Krankenhäuser sind mangelhaft ausgestattet, was Ausrüstung/medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht. Zudem behindert die unzureichende Sicherheitslage ihre Arbeit. Versorgungs- und Gesundheitsmaßnahmen internationaler Hilfsorganisationen mussten auch immer wieder wegen Kampfhandlungen oder aufgrund von Anordnungen örtlicher (islamistischer) Machthaber unterbrochen werden. Gesundheitspersonal ist rar und Spitäler sind aufgrund von Unterfinanzierung von Schließungen gefährdet. Allerdings sind z.B. in Mogadischu seit 2014 einige Gesundheitseinrichtungen, Spitäler und Kliniken neu eingerichtet worden.
45 
Nicht besser stellt sich die Situation psychisch Kranker dar. Zur Betreuung psychischer Erkrankungen gibt es insgesamt lediglich fünf Zentren. Diese befinden sich in Berbera, Bossaso, Garoowe, Hargeysa und Mogadischu. Allerdings arbeiten insgesamt nur drei Psychiater an diesen Einrichtungen (BFA Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia, Somaliland - Gesamtaktualisierung 12.01.2018; Update: 17.09.2018).
46 
Nach den Erkenntnissen des „Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation - ACCORD“ halten die kulturellen Normen Menschen davon ab, psychische Gesundheitsprobleme einzugestehen oder sich mit diesen auf konstruktive Weise auseinanderzusetzen. Psychische Störungen sind in Somalia aufgrund eines fehlenden Bewusstseins und fehlender Bildung hinsichtlich dieser Angelegenheit in der Bevölkerung mit einem Stigma belegt. Aufgrund des Mangels an Behandlungseinrichtungen und Ausbildung in psychischen Gesundheitsdiensten sind die Familien gezwungen, mit diesen Erkrankungen selbst fertig zu werden, was zu einer Falschdiagnose und grausamen Behandlungsmethoden wie „in Ketten legen“ und Inhaftierung führt. Der Großteil der „Behandlung“ in Somalia beruht nicht auf wissenschaftlicher Forschung oder standardisierter medizinischer Praxis, sondern ist eher ein Bewältigungsmechanismus, um die Patienten davon abzuhalten, sich selbst oder andere zu verletzten. Viele Somali mit psychischen Erkrankungen sind gesellschaftlich abgeschottet und gefährdet. Die Qual dieser Abschottung wird stark verspürt, da die somalische Kultur traditionell kommunal und familiär orientiert ist. Psychisch Kranke werden im Allgemeinen in Ketten gelegt oder eingesperrt und laut einem Bericht der WHO vom Oktober 2010 zur psychischen Gesundheit in Somalia stigmatisiert, diskriminiert und gesellschaftlich abgeschottet. Erniedrigende und gefährliche kulturelle Praktiken wie das „in Ketten legen“ sind sogar gesellschaftlich und medizinisch akzeptiert. Traditionelle Heiler spielen eine wichtige Rolle. Dienste zur psychischen Gesundheitsversorgung stehen in Somalia nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung, weisen einen Mangel an angemessener Ausrüstung auf und können geografisch nur eingeschränkt die Bedürfnisse des Landes abdecken (ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu Somalia: Lage von Personen mit psychischen Störungen, Erkrankungen oder Einschränkungen sowie zum psychischen Gesundheitssystem vom 23.02.2017).
47 
Dass die Praxis, psychisch Kranke wegzusperren und in Ketten zu legen, immer noch ein Problem darstellt, wird auch in einem Bericht der WHO aus dem Jahr 2017 (WHO 2017a: Somalia – Mental Health, http://www.emro.who.int/som/programmes/mental-health.html) erwähnt, auch wenn es hiernach mittlerweile „Chain-Free“-Initiativen gibt:
48 
„The practice of keeping mentally ill people in chains is common in Somalia, a sign of a lack of adequate mental health care services. The Chain-Free Initiative aims to restore the rights and dignity of mentally-ill persons by advocating for chain-free hospitals, chain-free homes and a chain-free environment where mentally ill patients can receive treatment and care. With the support of WHO, the Initiative has been implemented at the Habeeb Hospital in Mogadishu and at the Hargeisa Group Hospital mental health ward.“
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Angesichts der in Somalia nicht gewährleisteten Behandlung, der erheblichen gesellschaftlichen Diskriminierung psychisch Kranker sowie der im Falle einer Abschiebung, die einen erhebliche „Stressor“ darstellen würde, zu befürchtenden Verschlimmerung der psychotischen Symptomatik ist davon auszugehen, dass eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers bereits in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Rückkehr nach Somalia eintreten würde.
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b) Ferner ist ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben.
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aa) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf.
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Der in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verwendete strengere Maßstab der „Extremgefahr“ zur Rechtfertigung der Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG lässt sich von Vornherein nicht auf die in § 60 Abs. 5 EMRK i.V.m. Art. 3 EMRK getroffene Regelung übertragen (vgl. zum Ganzen: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.07.2019 - A 9 S 1566/18 - juris, vgl. auch BVerwG, Beschlüsse vom 08.08.2018 - 1 B 25.18 - NVwZ 2019, 61 und vom 21.08.2018 - 1 B 40.18 - juris-Rn. 11). Um ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art 3 EMRK zu begründen, müssen die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren jedoch ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) erreichen. Dies kann der Fall sein, wenn er seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist danach relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenden körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen (BVerwG, Beschlüsse vom 08.08.2018, a.a.O., Rn. 9 und vom 21.08.2018, a.a.O., jeweils m.w.N. zur Rspr. des EGMR und des EUGH). Im Rahmen der hiernach anzustellenden Gesamtschau können neben der Möglichkeit, eine Unterkunft zu finden, insbesondere auch Faktoren von Bedeutung sein wie der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen (vgl. hierzu nur VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2017 -A 11 S 1704/17 - juris m.w.N. zur Rspr. des BayVGH). Schließlich ist naturgemäß in diesem Zusammenhang von besonderer Relevanz, inwiefern Rückkehrer auf den Rückhalt im Herkunftsland verbliebener Familienmitglieder, zurückgreifen können (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.07.2019 - A 9 S 1566/18 - juris).
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bb) Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen dieser Regelung für den Kläger vor.
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Die schlechten Lebensbedingungen in Somalia führen allerdings für sich allein genommen nicht dazu, dass Abschiebungen wegen eines Verstoßes gegen § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK stets unzulässig sind. Das Gericht ist indes aufgrund der individuellen Umstände im Falle des Klägers davon überzeugt, dass sich die ohnehin schwierige Situation in Somalia für den Kläger derart zuspitzten würde, dass die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegen.
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Es bestehen individuelle gefahrerhöhende Umstände im Falle des Klägers. Eine Abschiebung ist nur nach Mogadischu - theoretisch - denkbar. Dort hätte der psychisch kranke Kläger, wenn man von seinen aktuellen Angaben ausgeht, wonach in Somalia keine Angehörigen mehr leben, aber keine Unterstützung durch seine Familie und auch sonst keinen Anlaufpunkt. Deshalb dürfte bei lebensnaher Betrachtungsweise zu erwarten sein, dass er nur in einem der überbevölkerten Flüchtlingslager in oder bei Mogadischu unterkommen könnte, in denen aber letztlich - auch für psychisch Gesunde - untragbare Zustände herrschen. Es kommt dort durch das sog. Gatekeeper-System zu Unterdrückung und schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Lager, insbesondere dann, wenn jemand wie der Kläger allein und damit schutzlos ist (vgl. im Einzelnen SFH - Situation intern Vertriebener, 25.10.2013). Die Zahl der Binnenvertriebenen in Süd- und Zentralsomalia beträgt mehr als 1,5 Millionen; viele von ihnen sind akut von Nahrungsmittelknappheit bedroht (ACCORD, Länderkurzübersicht Somalia, September 2016; BFA Österreich, Länderinformationsblatt Somalia vom 12.01.2018 sowie Kurzinformation, 20.09.2016; IDMC und NRC - Somalia: Over a million IDP’s need support for local solutions; Humanitarian Bulletin Somalia, 16.07.2015). Rückkehrer aus dem Ausland konkurrieren mit dieser großen Zahl an intern Vertriebenen um die ohnehin nicht ausreichenden Ressourcen des Landes. Wenn eine Person in einem Gebiet weder über eine Kernfamilie noch über Verwandte verfügt, wird sie sich in einem IDP-Lager wiederfinden und sich keinen Lebensunterhalt sichern können; eine erfolgreiche Reintegration hängt also in erheblichem Maße von den lokalen Beziehungen der rückkehrenden Person ab (BFA Österreich, Länderinformationsblatt vom 04.03.2018; VG Halle, Urteil vom 21.02.2019 - 4 A 58/17 - juris). Diese Situation dürfte sich durch die aktuell drohende schwere Hungersnot aufgrund einer ausgeprägten Dürreperiode noch weiter verschärft haben (vgl. BFA Österreich, Kurzinformation vom 20.09.2016). Ein wesentlicher Grund für diese humanitäre Krise besteht weiterhin darin, dass bewaffnete Gruppen die Arbeit von Hilfsorganisationen behindern. Er ist also letztlich in dem in Somalia bestehenden innerstaatlichen Konflikt zu sehen. Die prekären humanitären Verhältnisse sind mithin mit anderen Worten nicht nur auf Dürreperioden zurückzuführen, sondern werden maßgeblich von den Konfliktparteien verursacht und ausgenutzt (VG Halle, Urteil vom 21.02.2019 - 4 A 58/17 - juris). Durch die jetzt drohende Heuschreckenplage dürfte sich die allgemeine Situation sogar noch weiter verschlimmert haben. Im Falle des Klägers stellt sich die hiernach ohnehin schon äußerst prekäre allgemeine Situation in Somalia aufgrund seiner psychischen Erkrankung sogar noch weit drastischer dar.
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Wenn man davon ausgeht, dass der Kläger in Somalia keine Familienangehörige hat, würde auch außerhalb eines Flüchtlingslagers seine infolge seiner psychischen Erkrankung eingeschränkte Arbeitskraft offenkundig nicht ausreichen, um das Existenzminimum zu sichern. Er ist aufgrund seiner schweren psychischen Erkrankung auf absehbare Zeit nicht in der Lage, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen. Hieran bestehen gerade auch angesichts der Bestellung eines gesetzlichen Betreuers in Deutschland keine Zweifel. Der Kläger ist weder gesund noch arbeitsfähig, sondern gehört einer vulnerablen Gruppe an. Hinzu kommt, dass damit zu rechnen ist, dass sich die Erkrankung des Klägers mangels Erreichbarkeit der erforderlichen medizinischen Versorgung in Somalia deutlich und zeitnah verschlechtern wird.
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Selbst wenn der Kläger noch über familiäre Bindungen in Somalia verfügen sollte, wie die Beklagte annimmt, ist angesichts seiner individuellen Situation anzunehmen, dass er dennoch nicht in der Lage sein wird, in dem äußerst prekären sozialen und wirtschaftlichen Umfeld in Mogadischu seine humanitären Grundbedürfnisse in einer Weise zu decken, die ihn vor einer Verelendung und äußerster Verarmung bewahren kann (vgl. VG Hannover, Urteil vom 07.06.2019 - juris/BAMF). Auch der Gerichtsgutachter hat schlüssig, nachvollziehbar und damit überzeugend festgestellt, dass der Kläger aufgrund der Schwere seiner Erkrankung bei einem unterstellten Abbruch der Behandlung selbst im Falle einer umfangreichen Unterstützung durch Familienangehörige nicht in der Lage wäre, seine Existenz eigenständig zu sichern (Gutachten Prof. E., S. 14). Bei der paranoiden Schizophrenie handle es sich um eine schwere psychische Erkrankung, die medikamentös behandelt, aber nicht geheilt werden könne. Bei dem Kläger spreche das Fortbestehen der halluzinatorischen Symptomatik trotz antipsychotischer Medikation ihr für einen komplizierten Verlauf. Es sei schwer vorstellbar, dass er in seinem jetzigen psychischen Zustand in einer schwierigen Gesamtsituation in Somalia sich selbst ernähren könne. Die Unterstützung von Familienangehörigen würde sich positiv auf die psychische Erkrankung auswirken. Dennoch sei der Kläger primär auf eine adäquate psychiatrische Behandlung und Pharmakotherapie angewiesen. Ohne diese sei es ihm auch mit umfangreicher Unterstützung nicht möglich, seine Existenz zu sichern. Auch diese Schlussfolgerung des Gerichtsgutachters ist überzeugend, da sie schlüssig und auf der Grundlage der gestellten Diagnose ohne weiteres nachvollziehbar ist.
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c) Eine Ausnahme vom Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 8 AufenthG greift hier trotz der - früheren - Straffälligkeit des Klägers nicht ein.
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Nach dieser Vorschrift findet Absatz 1 (des § 60 AufenthG) keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist (Satz 1). Ferner kann von der Anwendung des Absatzes 1 (des § 60 AufenthG) abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
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Die Anwendung dieser Vorschrift scheitert hier schon von vornherein daran, dass sie nach ihrem klaren Wortlaut lediglich den Abschiebungsschutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention nach § 60 Abs. 1 AufenthG und nicht die hier relevanten nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG betrifft (vgl. Hailbronner, AuslR, § 60 AufenthG, Rn. 102). Abgesehen davon weisen die Straftaten des Klägers, soweit sie dem Gericht bekannt sind, nicht die für die Anwendung des § 60 Abs. 8 Sätze 1 oder 3 AufenthG erforderliche Schwere auf.
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d) Infolge dessen sind auch die Ziffern 5 und 6 des angefochtenen Bescheids aufzuheben, in denen die Abschiebungsandrohung nach Somalia und das Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 - juris).
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83 b AsylG gerichtskostenfrei.

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