Urteil vom Verwaltungsgericht Greifswald (3. Kammer) - 3 A 1865/19 HGW
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 02.12.2019 – Az.: – wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
- 1
Der Kläger, ein afghanischer Staatsangehöriger, begehrt die Aufhebung eines „Dublin-Bescheides“ mit dem u.a. sein Asylantrag als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Griechenland angeordnet wurde.
- 2
Der Kläger beantragte am 04.10.2019 im Bundesgebiet Asyl. Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gab er an, im Dezember 2018 in Griechenland erfolglos Asyl beantragt zu haben. Auf das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamtes erklärte Griechenland mit Schreiben vom 28.11.2019 seine Aufnahmebereitschaft nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin-III-VO und gab an, der Asylantrag des Klägers sei am 25.02.2019 abgelehnt worden und das Rechtsmittelverfahren sei noch nicht abgeschlossen.
- 3
Mit Bescheid vom 02.12.2019 – Az.: –, zugestellt am 06.12.2019, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab, stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen, ordnete die Abschiebung nach Griechenland an und ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an, welches es auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristete. Wegen des Inhalts der Begründung wird auf den Bescheid Bezug genommen.
- 4
Der Kläger hat am 11.12.2019 Klage erhoben. Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat er nicht beantragt.
- 5
Mit Schreiben vom 06.04.2020 setzte das Bundesamt die Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO aus. Zur Begründung führte es u.a. aus: „Im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise sind derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten. Daher setzt das Bundesamt bis auf weiteres Dublin-Überstellungen aus. Die zeitweise Aussetzung des Überstellungsverfahrens impliziert nicht, dass der zuständige Dublin-Staat nicht mehr zur Aufnahme bereit und verpflichtet wäre. Vielmehr ist der Vollzug vorübergehend nicht möglich. Die abgegebene Erklärung gilt unter dem Vorbehalt des Widerrufs.“ Das Bundesamt teilte Griechenland mit Schreiben vom 07.04.2020 mit, dass eine Überstellung wegen eines Rechtmittels mit aufschiebender Wirkung derzeit nicht möglich sei.
- 6
Mit Schreiben vom 20.08.2020 widerrief das Bundesamt die Aussetzung der Vollziehung. Im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise seien Dublin-Überstellungen nach Griechenland wieder zu vertreten. Der Grund für die Aussetzung sei entfallen. Reisebeschränkungen nach Griechenland zur Eindämmung des Covid-19-Virus seien weitestgehend aufgehoben und die Ausbreitung des Virus sei eingedämmt worden.
- 7
Der Kläger trägt im Wesentlichen vor: Das Asylsystem Griechenlands weise systemische Schwachstellen auf. Weder sei dort eine angemessene Unterbringung noch eine elementare Versorgung gewährleistet. Die Überstellungsfrist sei abgelaufen. Die Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes sei unwirksam und habe den Lauf der Überstellungsfrist nicht unterbrochen.
- 8
Der Kläger hat zunächst mit der Klageschrift beantragt, den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Az: ) vom 02.12.2019, erhalten am 06.12.2019, aufzuheben und, hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
- 9
Der Kläger beantragt nunmehr – „gemäß § 91 Abs. 1 VwGO, unter Berücksichtigung der aktuellen Sach- und Streitlage“ –
- 10
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Az: ) vom 02.12.2019, erhalten am 06.12.2019, aufzuheben.
- 11
Die Beklagte beantragt,
- 12
die Klage abzuweisen.
- 13
Die Beklagte trägt im Wesentlichen vor: Die Überstellungsfrist sei nicht verstrichen. Die Aussetzungsentscheidung habe die Überstellungsfrist unterbrochen, da sie auf sachlichen Erwägungen beruhe, ohne die Willkür- oder Missbrauchsschwelle zu überschreiten. Das Vorgehen diene dem Rechtsschutz des Klägers. Solange die Aussetzung der Vollziehung angeordnet sei, könne der Kläger bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage nicht überstellt werden. Unerheblich sei, dass die Aussetzung unter dem Vorbehalt des Widerrufs erfolgt sei, da es dem Kläger im Fall eines Widerrufs vor Abschluss des Klageverfahrens unbenommen bleibe, einen erneuten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu stellen. Für ein Überschreiten der Willkür- und Missbrauchsschwelle sei im Hinblick auf die nicht absehbare Entwicklung der SARS-CoV-2-Pandemie mit umfangreichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens einschließlich des Reiseverkehrs aus Infektionsschutzgründen nichts ersichtlich.
- 14
Mit Beschluss vom 27.08.2020 hat die Kammer den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamtes.
Entscheidungsgründe
- 15
1. Das Gericht konnte nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung
).
- 16
Das Fallenlassen des ursprünglich gestellten Hilfsantrags ist eine nach § 173 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) zulässige Klagebeschränkung und keine Klageänderung i.S.d. § 91 VwGO oder Teilklagerücknahme i.S.d. § 92 VwGO. Nach § 264 Nr. 2 ZPO ist es nicht als Änderung der Klage anzusehen, wenn ohne Änderung des Klagegrundes der Klageantrag in der Hauptsache oder in Bezug auf Nebenforderungen erweitert oder beschränkt wird. Hier wird der Klageantrag ohne Änderung des Klagegrundes beschränkt. Der Hauptantrag umfasst auch die Aufhebung von Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides zur Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und damit die Prüfung, ob solche Abschiebungsverbote bestehen. Der Hilfsantrag, der hier nicht auf behördliche Verpflichtung des Bundesamtes, sondern auf gerichtliche Feststellung von Abschiebungsverboten gerichtet ist (vgl. § 42 Satz 1 AslyG), enthält keinen weitergehenden Klagegrund.
- 17
2. Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet, da der Bescheid rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
- 18
a. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Asylgesetz (AsylG) ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) rechtswidrig, da die Beklagte für die Durchführung des Asylverfahrens (nunmehr) nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO), wegen Ablaufs der Überstellungsfrist zuständig ist. Der Zuständigkeitswechsel nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO begründet ein rügefähiges subjektives Recht des Klägers (vgl. EuGH, Urt. v. 25.10.2017 – C-201/16 –, Rn. 46 juris).
- 19
Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn dieser die Überstellung nicht innerhalb von sechs Monaten durchführt. Die sechsmonatige Überstellungsfrist ist vorliegend verstrichen. Nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO hat die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat zu erfolgen, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Annahme des (Wieder-)Aufnahmegesuchs oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn dieser gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat.
- 20
Der ersuchte Mitgliedstaat, Griechenland, hat vorliegend das Wiederaufnahmegesuch am 28.11.2019 angenommen. Die sechsmonatige Überstellungsfrist endete damit am 28.05.2020 (vgl. Art. 42 Buchst. b Dublin-III-VO).
- 21
Die Entscheidung des Bundesamtes vom 06.04.2020, die Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO Corona-bedingt auszusetzen, ist rechtswidrig und daher nicht geeignet, den Lauf der Überstellungsfrist zu unterbrechen (vgl. OVG Schleswig, B. v. 09.07.2020 – 1 LA 120/20 –, Rn. 8, juris; VG Münster, B.v. 28.07.2020 – 8 L 523/20.A –, Rn. 14, juris; VG Kassel, B.v. 27.07.2020 – 1 L 3056/18.KS.A –, Rn. 16, juris; VG Ansbach, B.v. 23.07.2020 – AN 17 E 20.50215 –, Rn. 23, juris; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 13.07.2020 – 2a K 5573/19.A –, Rn. 19, juris; VG Aachen, Urt. v. 08.07.2020 – 7 K 436/19.A –, Rn. 28, juris; VG München, Urt. v. 07.07.2020 – M 2 K 19.51274 –, Rn. 13, juris; VG Schleswig, Gerichtsbescheid v. 18.05.2020 – 5 A 255/19 –, Rn. 14 ff., juris; Urt. v. 15.05.2020 – 10 A 596/19 –, Rn. 17 ff., juris; Pettersson, ZAR 2020, 230 [232]; a.A. VG Cottbus, B. v. 04.08.2020 – 5 L 327/20.A –, Rn. 10, juris; VG Düsseldorf, Urt. v. 21.07.2020 – 22 K 8760/18.A –, Rn. 92, juris; VG Berlin, B. v. vom 16.07.2020 – 28 L 203/20 A –, Rn. 7, juris).
- 22
§ 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO stellt im Grundsatz eine hinreichende Rechtsgrundlage für die Aussetzung der Vollziehung einer Überstellungsentscheidung i.S.d. der Dublin-III-Verordnung dar. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO ermächtigt die Mitgliedstaaten ausdrücklich zu nationalen Regelungen, nach denen die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Dass § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO nicht in Umsetzung des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO geschaffen wurde, sondern vorbestehendes nationales Recht ist – die geltende Fassung des § 80 Abs. 4 Satz 1 wurde mit dem 4. VwGOÄndG vom 17.12.1990 eingefügt (BGBl. I, S. 2809 [2811]) –, ist unschädlich. Bei der Anwendung und Auslegung des § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO auf Sachverhalte, die in den Anwendungsbereich der Dublin-III-Verordnung fallen, sind jedoch die begrenzenden Vorgaben dieser Verordnung zu beachten (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, Rn. 21 und 25, juris). Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO lässt eine behördliche Aussetzung nur zu, wenn sie zumindest auch auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes gerichtet ist. Dies ist hier nicht der Fall.
- 23
aa. Zwar nennt Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO keine ausdrücklich näher bezeichneten tatbestandlichen Voraussetzungen, unter denen eine Aussetzung der Vollziehung der Überstellungsentscheidung zulässig ist, jedoch ergibt sich im Wege der Auslegung, dass eine Aussetzung auf der Grundlage des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO zumindest auch der Gewährung effektiven Rechtsschutzes dienen muss. Eine Aussetzung allein zur Unterbrechung des Laufs der Überstellungsfrist ist unzulässig.
- 24
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. z.B. EuGH, Urt. v. 06.06.2013 – C-648/11 –, Rn. 50, juris; Urt. v. 15.03.2017 – C-528/15 –, Rn. 30, juris).
- 25
Schon der Wortlaut bringt zum Ausdruck, dass eine behördliche Aussetzung i.S.d. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO nur im Hinblick auf ein anhängiges Hauptsacheverfahren zur Überprüfung der Überstellungsentscheidung erfolgen kann, da die zuständigen Behörden tätig werden können, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung i.S.d. Art. 26 Abs. 1 Dublin-III-VO „bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen“.
- 26
Auch der engere Regelungszusammenhang des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO zeigt, dass eine behördliche Aussetzung (auch) auf die Sicherung effektiven Rechtsschutzes gerichtet sein muss. Die Vorschrift ist Teil des Art. 27 Dublin-III-VO, der ausweislich der amtlichen Überschrift („Rechtsmittel“) rechtsschutzgerichtete Regelungen enthält. Sie ist eingebettet zwischen Vorgaben zur Gewährung und Flankierung des subjektiven Rechtsschutzes. Nach Art. 27 Abs. 1 Dublin-III-VO hat der Betroffene einer Überstellungsentscheidung das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht. Der durch Art. 27 Abs. 1 Dublin-III-VO gewährleistete Hauptsacherechtsschutz ist zwingend zu flankieren durch Interimsmaßnahmen, die den Aufenthalt des Betroffenen im überstellenden Mitgliedstaat bis zur Entscheidung über den (Hauptsache)Rechtsbehelf sichern können. Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO verpflichtet die Mitgliedstaaten, ein System der aufschiebenden Wirkung (vgl. Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 und Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO) vorzusehen, wobei sie die Wahl zwischen den drei in Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO genannten Modellen haben. Die Absatz 5 und 6 des Art. 27 Dublin-III-VO regeln Gewährleistungen in Bezug auf die rechtliche Beratung, sprachliche Hilfe und Prozesskostenhilfe. Vor diesem Hintergrund ist nichts dafür erkennbar, dass eine behördliche Aussetzung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO losgelöst vom Ziel der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes ergehen kann.
- 27
Dass allein ein anhängiger Hauptsacherechtsbehelf für sich nicht genügt, um eine behördliche Aussetzung zu tragen, sondern der Aussetzungsgrund einen spezifischen Bezug zur Überprüfung der Überstellungsentscheidung aufweisen muss, zeigt Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin-III-VO. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Annahme des (Wider-)Aufnahmegesuchs oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, der aufschiebende Wirkung hat, durchgeführt wird. Der Lauf der Überstellungsfrist ist grundsätzlich nicht davon abhängig, dass die Überstellung tatsächlich möglich wäre. Dies bringt Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO unzweideutig zum Ausdruck, da die Überstellungsfrist nicht erst mit der praktischen Möglichkeit der Überstellung anläuft: Die Überstellung ist durchzuführen, „sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten“. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO kann „ausnahmsweise“ (vgl. EuGH, Urt. v. 19.03.2019 – C-163/17 –, Rn. 60, juris) die Überstellungsfrist verlängert werden wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Überstellung, nämlich bei Haft oder Flucht. Die Vorschrift zur Fristverlängerung würde sinnentleert, wenn jedes sonstige tatsächliche Vollziehungshindernis über das Vehikel einer behördlichen Aussetzungsentscheidung i.S.d. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO zur Unterbrechung der Überstellungsfrist führte (vgl. auch Kommission, Mitteilung vom 17.04.2020, COVID-19: Hinweise zur Umsetzung der einschlägigen EU-Bestimmungen im Bereich der Asyl- und Rückführungsverfahren und zur Neuansiedlung, EU-Amtsbl. C 126, S. 12, 16: „Wird die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat nicht innerhalb der geltenden Frist durchgeführt, so geht die Zuständigkeit nach Artikel 29 Absatz 2 der Dublin-Verordnung auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Keine Bestimmung der Verordnung erlaubt es, in einer Situation wie der, die sich aus der COVID-19-Pandemie ergibt, von dieser Regel abzuweichen.“).
- 28
Auch dass mit der Dublin-III-Verordnung verfolgte Ziel einer raschen Zuständigkeitsklärung, dem auch Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO dient, würde beeinträchtigt, wenn jedes vorübergehende Vollzugshindernis zu einer die Überstellungsfrist unterbrechenden behördlichen Aussetzung berechtigen würde. Dies gilt insbesondere für nach Erlass der Überstellungsentscheidung eintretende vorübergehende Vollzugshindernisse, die – wie vorliegend – nicht der Risikosphäre des Antragstellers zugerechnet werden können und die ohne Einfluss auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten sind.
- 29
bb. Die vorstehende Auslegung steht nicht in Widerspruch zu den tragenden Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 08.01.2019 – 1 C 16.18 –.
- 30
Das Bundesverwaltungsgericht hat dort ausgeführt, unionsrechtliche Grenzen der Aussetzungsbefugnis nach § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO ergäben sich aus dem von Art. 27 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO angestrebten Ziel eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats und andererseits dem Ziel zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung ihres Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat aussuchen (Verhinderung von Sekundärmigration). Eine behördliche Aussetzungsentscheidung sei unionsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn sie sachlich geboten, frei von Willkür und nicht rechtsmissbräuchlich sei (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, Rn. 32 und 27, juris). Eine behördliche Aussetzungsentscheidung dürfe unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestünden, dann die Belange eines Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes hätten dann offenkundig Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken (BVerwG, Urt. V. 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, Rn. 27, juris). Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes erlaube eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssten, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich seien (BVerwG, Urt. V. 08.01.2019 – 1 C 16.18 –, Rn. 27, juris).
- 31
Auch das Bundesverwaltungsgericht stellt heraus, dass Bezugspunkt der behördlichen Aussetzung die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes bzw. die Gewährung effektiven Rechtsschutzes ist. Zudem hatte das Bundesverwaltungsgericht in tatsächlicher Hinsicht nicht über eine Aussetzungsentscheidung zu befinden, die anlässlich und für die Dauer eines temporären Vollzugshindernisses ausgesprochen wurde.
- 32
cc. Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung diente hier allein der Verhinderung des Ablaufs der Überstellungsfrist und nicht (zumindest auch) der Ermöglichung eines effektiven Rechtsschutzes. Sie zielte nicht darauf ab, dem Kläger den vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet bis zur gerichtlichen Klärung der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung zu sichern. Die Aussetzung der Vollziehung war von vornherein nicht für die Dauer das Rechtsbehelfsverfahrens beabsichtigt, sondern nur für die Dauer des Corona-bedingten Hindernisses. In der Begründung der Aussetzungsentscheidung stellt das Bundesamt deutlich heraus, dass lediglich eine vorübergehende Aussetzung bis zum Wegfall der Corona-bedingten Hindernisse gewollt ist („sind derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten“; „zeitweise Aussetzung des Überstellungsverfahrens“; „Vollzug vorübergehend nicht möglich“; „unter Vorbehalt des Widerrufs“). Auch das spätere Vorgehen bestätigt dies, da das Bundesamt während des laufenden Klageverfahrens nach Wegfall der Corona-bedingten Hindernisse die Aussetzung der Vollziehung widerrief.
- 33
Auch ist ein praktisches rechtsschutzbezogenes Bedürfnis für die Aussetzung nicht erkennbar. Dass Bundesamt ging offenbar davon aus, dass eine Überstellung wegen bestehender Einreisesperren – und damit temporärer Nichtaufnahmebereitschaft des zuständigen Mitgliedstaates – tatsächlich nicht durchzuführen ist. Insoweit war der Verbleib des Klägers im Bundesgebiet für die Dauer der Corona-bedingten Hindernisse aber bereits de facto gesichert.
- 34
Dass die Aussetzung nicht unter Rechtsschutzgesichtspunkten erfolgte, zeigt sich auch an der allgemeinen Verwaltungspraxis des Bundesamtes im Zuge der Pandemie. Das Bundesamt hat mit Stand 01.06.2020 an 21.735 Personen Schreiben bezüglich der Aussetzung der Durchsetzung der Überstellungsentscheidung versendet, wobei nur bei 9.303 Personen ein Klageverfahren anhängig war (vgl. BT-Dr. 19/20299, S. 3, Antwort auf Frage 3.).
- 35
dd. Da die Aussetzungsentscheidung bereits aus dem vorgenannten Grund rechtswidrig ist, bedarf es keiner abschließenden Klärung, ob die Aussetzungsentscheidung auch an Ermessensfehlern leidet. Unabhängig von der Frage, ob die Aussetzung nach § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO ein Verwaltungsakt ist – dies dürfte im Hinblick auf die fehlende VA-Qualität der spiegelbildlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.05.1966 – II C 197.62 –, Rn. 40, juris) zu verneinen sein – steht die Entscheidung im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde und ist auf Ermessensfehler zu prüfen (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.02.2020 – 1 C 19.19 –, Rn. 60, juris). Eine pflichtgemäße Ermessenbetätigung ist hier zweifelhaft, da sich weder aus der Aussetzungsentscheidung noch aus dem Verwaltungsvorgang die Ermessensausübung hinreichend nachvollziehen lässt. Unklar bleibt schon der konkrete Aussetzungsanlass. Der Verweis auf die „Entwicklung der Corona-Krise“ in der Aussetzungsentscheidung gibt nicht zu erkennen, ob die Aussetzung im Hinblick auf eine Einreisesperre des zuständigen Mitgliedstaates, infektionsschutzbezogene Gesichtspunkte, die medizinische Versorgungslage im zuständigen Mitgliedstaat und/oder weitere Umstände erfolgte. Zudem ist nicht erkennbar, dass in die Ermessensbetätigung schutzwürdige Belange des Klägers eingestellt wurden.
- 36
b. Da die Unzulässigkeitsentscheidung rechtswidrig ist, können auch die übrigen Regelungen des angefochtenen Bescheides keinen Bestand haben.
- 37
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG. Die Vollstreckungsentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- VwGO § 173 1x
- VwGO § 91 2x
- VwGO § 92 1x
- § 83b AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 711 Abwendungsbefugnis 1x
- VwGO § 80 8x
- § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 264 Keine Klageänderung 1x
- § 42 Satz 1 AslyG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 1x
- § 77 Abs. 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- § 80 Abs. 4 Satz 1 wurde mit dem 4. VwGOÄndG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- VwGO § 167 1x
- 1 LA 120/20 1x (nicht zugeordnet)
- 8 L 523/20 1x (nicht zugeordnet)
- 1 L 3056/18 1x (nicht zugeordnet)
- 2a K 5573/19 1x (nicht zugeordnet)
- 7 K 436/19 1x (nicht zugeordnet)
- 5 A 255/19 1x (nicht zugeordnet)
- 10 A 596/19 1x (nicht zugeordnet)
- 5 L 327/20 1x (nicht zugeordnet)
- 22 K 8760/18 1x (nicht zugeordnet)
- 28 L 203/20 1x (nicht zugeordnet)