Urteil vom Verwaltungsgericht Halle (3. Kammer) - 3 A 213/16
Tatbestand
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Die Kläger begehren mit ihrer Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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Die Kläger sind syrische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie lebten eigenen Angaben zufolge zuletzt in Abu Raseen nahe der Stadt Ra’s al-Ain, in dem Gouvernement al Hassaka in der Arabischen Republik Syrien.
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Am 1. Oktober 2015 reisten die Kläger aus Syrien aus und am 3. November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie stellten am 19. April 2016 den Antrag auf Asyl (Az. …).
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Bei ihrer persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 19. April 2016 führte der Kläger zu 1. sowie die Klägerin zu 2. auch in Vertretung der übrigen Kläger im Wesentlichen aus, dass sie aus Syrien ausgereist seien, da sie aufgrund des Bürgerkrieges und der daraus resultierenden Unsicherheit Angst gehabt hätten. Die Kläger zu 3. bis 5. hätten nicht mehr zu Schule gehen können. Der Kläger zu 1. habe seinen Wehrdienst in den Jahren 1997 bis 1999 geleistet. Er habe Angst, entweder von der Syrischen Armee oder von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in die Reserve eingezogen zu werden.
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In der Anhörung vom 19. April 2016 beschränkten die Kläger ihren Asylantrag auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 28. April 2016, den Klägern am 25. Mai 2016 zugestellt, erkannte die Beklagte den Klägern den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab. Zur Begründung führte sie aus, dass die Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen. Den Klägern drohe bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung i. S. d. §§ 3 ff. AsylG. Wegen der weiteren Begründung wird auf den Bescheid verwiesen (Bl. 75 ff. der Beiakte A).
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Am 2. Juni 2016 haben die Kläger Klage erhoben.
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Zur Begründung führen sie aus, dass der Kläger zu 1. seit ca. 1994 Mitglied der kurdischen Partei in Syrien gewesen sei. Am 26.10.2011 sei die Nationalversammlung für Kurden, abgekürzt ENKS, erstmalig gewählt worden. Der Kläger sei als Mitglied der Nationalversammlung für die Linke Partei in Syrien in die Nationalversammlung gewählt worden. Etwa im Juli 2012 habe sich diese Partei der PKK angeschlossen. Daraufhin habe der Kläger die Linke Partei in Syrien verlassen, aber sein Mandat in der Nationalversammlung behalten. Zusätzlich sei er Mitglied im Kommunalrat des Ortes Ra’s al-Ain gewesen. Dieser Kommunalrat sei ebenfalls von der Bevölkerung gewählt worden und habe aus zwölf Personen bestanden. Die Aufgabe des Kommunalrates habe in der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln gelegen. Aufgrund der Mitgliedschaft in der Nationalversammlung sowie im Kommunalrat sei der Kläger von Milizen der Regierung bedroht worden. Ihm sei gesagt worden, er solle sich nicht weiter engagieren. Etwa im März 2013 habe die Regierung seinen Ort dann verlassen und er sei von radikalen Kämpfern eingenommen worden. Diese hätten den Kläger zu 1. befragt, woher die Lebensmittel, die er an die Bevölkerung verteilt habe, gekommen seien. Die radikalen Kämpfer hätten Kontrollpunkte errichtet und hätten den Kläger mehrmals festnehmen wollen. Ein Ratsmitglied sei in dieser Zeit spurlos verschwunden. Im August 2013 hätten die radikalen Kämpfer seinen Ort dann verlassen und dieser wurde von der YPG eingenommen. Diese hätten den Kläger zu 1. aufgefordert, für ihn im Militärdienst zu arbeiten. Der Kläger zu 1. habe aber nur humanitär helfen wollen. In der Folge habe man ihm erstmal am 15. August 2013 ein Ultimatum gestellt, dass er sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt hätte entscheiden müssen, ob er für das Militär der YPG arbeiten wolle, ansonsten hätten sie ein Familienmitglied von ihm als Geisel genommen. In dieser Zeit gab es mehrere Hausdurchsuchungen, man habe auch nach dem Kläger zu 1. gesucht. Er habe sich zu dieser Zeit aber nicht zu Hause befunden. Als Mitglied des Rates habe er sich als Feind aller anderen Gruppierungen gefühlt und viele Drohungen erhalten. Die YPG habe ihm angeboten, auf Repression zu verzichten, wenn er sich dem Wehrdienst anschließen würde. Daraufhin hätten sich die Kläger an verschiedenen Orten bis zu ihrer Ausreise aus Syrien versteckt. Klägerin zu 2. sei einmal von Mitgliedern der YPG geschlagen worden. Dies sei gewesen, als das Haus nach ihrem Ehemann durchsucht worden sei, ca. im Jahr 2014. Sie hätte sich gegenüber den Milizionären darüber beschwert, dass die YPG das Haus durchsuche, obwohl ihre Kinder anwesend gewesen seien und geschrien hätten. Daraufhin habe man sie ins Gesicht geschlagen. Ihr sei mehrfach damit gedroht worden, dass wenn sie den Aufenthaltsort ihres Mannes nicht preisgebe, man dann ihre Kinder mitnehmen würde. Die Kläger gingen davon aus, die YPG wollte, dass alles im Ort über sie laufe, daher hätten sie sich an der Arbeit des Klägers zu 1. gestört. Die YPG habe die absolute Kontrolle im kurdischen Gebiet gewollt und wolle sie noch heute. Die Kläger hätten sich großenteils bei ihren Eltern und Bekannten versteckt. In dieser Zeit sei es schwierig gewesen, die Familie zu versorgen, da der Kläger zu 1. nicht mehr hätte arbeiten können. Die Kläger zu 3. bis 5. hätten sie nicht mehr zur Schule geschickt, da sie Angst gehabt hätten, dass ihnen etwas zustoßen würde. Irgendwann habe die Klägerin zu 2. gehört, dass ihr Ehemann erneut gesucht werde, woraufhin sie mit den Kindern das Haus verlassen habe und im Freien genächtigt hätte. Dies sei eine sehr schwierige Zeit gewesen, da man kaum Essen gehabt habe. Das Haus sei danach schwer verwüstet gewesen. Das Geld für den Schleuser hätten sie durch den Verkauf des Hauses erwirtschaftet, welches sich aber aufgrund der Geschehnisse auch als schwierig erwies. Die Kläger hätten Syrien dann mit Hilfe von Schleusern verlassen, indem sie die Grenze zwischen dem kurdischen Gebiet und der Türkei passiert hätten.
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Seine Mitgliedschaft in der Nationalversammlung und im Kommunalrat und die diesbezüglichen Geschehnisse habe der Kläger zu 1. in seiner Anhörung vor dem Bundesamt nicht geschildert, da er nicht gewusst habe, was man in Deutschland – einem für ihn fremden Land – sagen dürfe und was nicht. Er habe sich nicht getraut, diesen Sachverhalt offen zu legen. Daneben sei den Klägern vor der Anhörung gesagt worden, sie müssten in der Anhörung vor dem Bundesamt nicht viel vortragen und keine Details nennen, da man ohnehin als Flüchtling anerkannt werde.
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Die Kläger beantragen (sinngemäß),
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die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 2. des Bescheides vom 28. April 2016 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie bezieht sich auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides.
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Wegen der näheren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung sowie der Entscheidungsfindung des Gerichts.
Entscheidungsgründe
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Die Kammer kann durch die Einzelrichterin entscheiden, weil der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG mit Beschluss vom 6. Dezember 2016 auf die bestellte Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen wurde.
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Bescheid der Beklagten vom 28. April 2016 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO. Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 1 AufenthG. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK -, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren (Nr. 3), sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, vgl. § 3e AsylG.
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Die Kläger berufen sich vorliegend darauf, Verfolgung aufgrund einer ihnen unterstellten politischen Überzeugung i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu fürchten. Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob er diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es nach § 3b Abs. 2 AsylG aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
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Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnismitteln drohen den Klägern Verfolgung im geltend gemachten Sinne. Ob Bedrohungen der vorgenannten Art und damit eine politische Verfolgung drohen, ist anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat (BVerwG, Urt. v. 06.03.1990 - 9 C 14/89 -, BVerwGE 85, 12, m. w. N.). Ausgangspunkt der zu treffenden Prognoseentscheidung ist das bisherige Schicksal des Schutzsuchenden. Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war (Vorverfolgung), ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein ernsthafter Hinweis auf die Begründetheit seiner Furcht vor Verfolgung (BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, juris, m. w. N.). Dies gilt nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Antragsteller im Falle der hypothetischen Rückkehr erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte orientierende, auf die „reale Möglichkeit“ der Gefahr (real risk) abstellende, Verfolgungsprognose hat in Umsetzung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie, ABl. EU L 337 v. 20.12.2011, S. 9 ff.) anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urt. v. 01.03.2012 - 10 C 7/11 -, juris, m. w. N.). Im Rahmen dieser Prognose ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es ist maßgebend, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Kläger Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der im Rahmen der Prognose vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage der Kläger nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 -; Urt. v. 5.11.1991 - 9 C 118/90 -, beide: juris).
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Der die Flüchtlingsanerkennung Begehrende hat dabei aufgrund seiner Mitwirkungspflicht seine Gründe für eine politische Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung die drohende Verfolgung ergibt (BVerwG, Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321/85 -, juris). Das Gericht hat sich die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Schutzsuchenden behaupteten Sachverhalts zu verschaffen, wobei für diese Überzeugungsbildung wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich ein Schutzsuchender bezüglich der Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, nicht die volle Beweiserhebung notwendig, sondern die Glaubhaftmachung ausreichend ist (OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 18.07.2012, a. a. O.). In seine eigene Sphäre fallende Ereignisse, insbesondere persönliche Erlebnisse, muss der Asylsuchende so schildern, dass sie seinen Anspruch lückenlos tragen.
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Nach den zugrunde zu legenden Erkenntnismitteln der Kammer droht den Klägern nach diesem Maßstab bei einer hypothetischen Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im vorgenannten Sinne.
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Die Kläger sind nach der Überzeugung des Gerichts bereits vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass den Klägern eine Verletzung ihrer Menschenrechte i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG durch die YPG, einer Organisation, die einen wesentlichen Teil Syriens i. S. d. § 3c Nr. 2 AsylG beherrscht, aufgrund einer ihnen unterstellten politischen Überzeugung nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG gedroht hat und noch immer droht. Das Gericht ist nach der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger zu 1. als Mitglied des Kurdischen Nationalrates (KNC) – auch ENKS abgekürzt – wie auch des Kommunalrates Ra’s al-Ains, der sich politisch wie humanitär engagierte, durch die YPG als militärischer Arm der Democratic Union Party (PYD) in einem Belang nach § 3a AsylG bedroht wurde, um somit seinen politischen Widerstand zu brechen bzw. gänzlich zu beseitigen, um dadurch den Machtanspruch der PYD/ YPG auszubauen und zu sichern und anderenfalls einen der Kläger zu 2. bis 5. unrechtmäßig zu entführen oder andere Repressionen den Klägern gegenüber anzuwenden.
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Nach den Erkenntnissen des Gerichts befindet sich Ra’s al-Ain wie auch sein Umland im von Kurden dominierten Gebiet. Im Norden Syriens sind die Kurden sich weitgehend selbst überlassen und haben in den von ihnen kontrollierten Gebieten de facto ein eigenes staatsähnliches Gebilde im Sinne eines autonomen Selbstverwaltungsgebietes geschaffen, genannt Rojava. Die syrische Regierung toleriert diese Strukturen bisher, auch wenn sie der Ausrufung der autonomen Region am 18. März 2016 keine rechtlichen, politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Auswirkungen beigemessen hat. Dieses Gebiet umfasst im Wesentlichen die drei kurdischen Kantone Kobane, Afrin und Hassaka. Auch wenn diese Regionen nicht durchgängig räumlich zusammenhängen, werden sie durch die PYG/ YPG zentral verwaltet (vgl. Amnesty International: ‚We had nowhere else to go‘ - Forced Displacement in Northern Syria, Oktober 2015, S. 5, 8; UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, Stand: November 2015, S. 4 f.). Der Kläger zu 1. hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass er Mitglied des Kurdischen Nationalrates (KNC) – auch ENKS abgekürzt – für die Linke Partei in Syrien war und als dieses sowie die gesamte Familie (zuletzt) von der YPG in einem den § 3 AsylG betreffenden Belang bedroht wurde. Dabei decken sich die Schilderungen und Ausführungen des Klägers mit den Erkenntnissen des Gerichts:
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Das Gericht geht davon aus, dass der KNC in Syrien mit der PYD und deren bewaffnetem Arm YPG in Konkurrenz um Macht und Einfluss in den kurdischen Gebieten steht (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 9. Mai 2016 zu Syrien: Übergriffe der PYD auf KDP-S-Mitglieder, S. 1). Dabei werden Mitglieder rivalisierenden kurdischen Parteien und auch deren Familienangehörige durch die PYD bedroht, entführt, inhaftiert oder getötet (Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., S. 1 f.). Auch Parteibüros rivalisierender kurdischer Parteien wurden von PYD-Anhängern angegriffen. Hochrangige Mitglieder von Parteien, die in Opposition zur PYD stehen, werden inhaftiert oder des Landes verwiesen. Dabei handelt es sich meisten um ältere Personen. Junge, kurdische Männer, auch wenn sie einer anderen Partei angehören, werden unter Druck gesetzt – wie vom Kläger zu 1. geschildert –, als Kämpfer der YPG beizutreten. Auf dem Internetportal Kurdwatch wurde über unzählige Entführungen und Verhaftungen von KNC-Mitgliedern und Mitgliedern von weiteren Parteien, die zur PYD in Opposition stehen, berichtet. Auch die International Crisis Group wies bereits im Januar 2013 darauf hin, dass die PYD in Kämpfe, Tötungen, Entführungen und andere Formen von Gewalt gegen KNC-Mitglieder und deren Familienangehörige involviert ist (International Crisis Group, Syria’s Kurds, A Struggle Within a Struggle, Crisis Group Middle East Report N°136, 22.01.2013, S.32). Im Jahr 2015 dokumentierte Kurdwatch eine Vielzahl von Entführungen und willkürlichen Verhaftungen von Parteimitgliedern. Dabei handelte es sich um Parteimitglieder, Mitglieder von Lokalkomitees und auch Mitglieder des Zentralkomitees. Auch Verwandte solcher Mitglieder wurden verhaftet. Aus den UNHCR-Erwägungen (a.a.O., S. 11 ff.) geht hervor, dass nach Berichten der unabhängigen UN-Untersuchungskommission und mehrerer Menschenrechtsorganisationen die YPG an Menschenrechtsverletzungen beteiligt ist, einschließlich an willkürlichen Verhaftungen, Rechtsverstößen während der Untersuchungshaft und Nichteinhaltung ordnungsgemäßer Verfahren sowie Nichtverfolgung von Tötungen und Verschleppungen. Berichten zufolge hat die YPG mehrere Proteste aufgelöst, die sich gegen die Regierung und die PYD richteten, und dabei Demonstranten und politische Gegner verhaftet. Eine Erkundungsmission von Amnesty International in den Gouvernements Raqqa und Hassaka dokumentierte Fälle von Zwangsverschleppung von Zivilisten aus zehn Dörfern sowie die Zerstörung von zwei ganzen Dörfern durch kurdische Kräfte. Aus diesem Grund qualifizierte der UNCHR in seinen Erwägungen Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner von PYD/ YPG sind und sich in Gebieten aufhalten, in denen PYD/ YPG de facto die Kontrolle ausüben, als besonders risikobehaftet (a.a.O., S. 26).
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Den Klägern steht auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG offen. Danach wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Ein Ausländer darf dabei nur dann auf ein verfolgungsfreies Gebiet seines Heimatstaates als inländische Fluchtalternative verwiesen werden, wenn er dieses tatsächlich in zumutbarer Weise erreichen kann. Verlangt wird zum einen die auf verlässliche Tatsachenfeststellungen gestützte Prognose tatsächlicher Erreichbarkeit unter Berücksichtigung bestehender Abschiebungsmöglichkeiten und Varianten des Reisewegs bei freiwilliger Ausreise in das Herkunftsland. Der aufgezeigte Weg muss dem Betroffenen angesichts der humanitären Intention des Flüchtlingsrechts auch zumutbar sein, d. h. insbesondere ohne erhebliche Gefährdungen zum (verfolgungsfreien) Ziel führen, wobei auch nicht verfolgungsbedingte Gefahren zu berücksichtigen sind.
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Es kann dahin stehen, welche Gebiete innerhalb Syriens überhaupt geeignet sind, für die Kläger die festgestellte Verfolgung auszuschließen. Jedenfalls geht das Gericht davon aus, dass den Klägern vernünftiger Weise aus wirtschaftlichen wie persönlichen Gründen lediglich zugemutet werden kann, sich in einem von Kurden dominierten gebiet niederzulassen, da sie auf die wirtschaftliche Unterstützung ihrer Familie bzw. des sozialen Umfeldes angewiesen sind. Das Gericht vermag zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht festzustellen, dass die Kläger ein solches Gebiet in zumutbarer Weise und sicher erreichen könnten. Denn selbst eine Einreisemöglichkeit nach Syrien unterstellt (dies dürfte wegen der Schließung des Flughafen Damaskus für den zivilen Flugverkehr im Jahr 2012 nur über den Flughafen Beirut möglich sein, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Flughafen_Damaskus, abgerufen am 12.12.2016), ergibt sich aus den übereinstimmenden Angaben dem Gericht vorliegender Erkenntnisse, dass die PYD Politikern, die in Opposition zur PYD stehen, die Einreise nach Syrien verweigert. Diejenigen, die sich in Syrien aufhalten, werden bedroht: Sie sollen das Land verlassen, sollten sie weiterhin politisch aktiv bleiben (Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., S. 2).
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Nach dem Vorstehenden war den Klägern Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten zu bewilligen, da die Klage gemäß § 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint und die Kläger i. S. d. § 114 ZPO wirtschaftlich bedürftig sind.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO sowie § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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