Urteil vom Verwaltungsgericht Halle (1. Kammer) - 1 A 374/16 HAL
Tenor
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid der Beklagten vom 28. Juli 2016 wird insoweit aufgehoben, als er dem entgegensteht.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzes sowie die Feststellung eines Abschiebungsverbots.
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Der am 1. Januar 1995 in Parwan geborene Kläger ist nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Er reiste am 27. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 03. Mai 2016 einen Asylantrag.
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Im Rahmen seiner Anhörung bei der Beklagten am 06. Juli 2016 gab der Kläger zu seinen Asylgründen im Wesentlichen an, er habe seine gesamten Papiere wie die Taskira, seinen Führerschein, Auszeichnungen von der Regierung und Arbeitsdokumente bei der Bootsüberfahrt verloren. Das Boot sei überladen gewesen, sie hätten alle Taschen über Bord werfen müssen. Auch er selber sei ins Wasser gesprungen und habe sich außen an Seilen an dem Boot festhalten müssen. In Afghanistan habe er als Bodyguard und Fahrer für den afghanischen Abgeordneten Hamdullah M. gearbeitet. Sie seien 5 bis 6 Bodyguards gewesen und hätten den Abgeordneten 24 Stunden am Tag zur Verfügung gestanden. Dabei hätten sie sich abgewechselt. Er sei zudem jeden Tag um 16.00 Uhr zur Universität gegangen, dabei sei er von Herrn M. unterstützt worden. Die Privatuniversität habe Geld gekostet. Herr M. habe ihm aber eine Bescheinigung vom Bildungsministerium gegeben, aufgrund derer er keine Studiengebühren habe zahlen müssen. Jede zweite Woche habe er drei Tage frei gehabt. Herr M. sei bis Anfang 2015 Mitglied des afghanischen Parlaments gewesen, und zwar in der Meshrano Jirga. Er sei Vorsitzender der Kommission für höhere Bildung gewesen. Nach der Wahl sei Herr M. aus dem Parlament ausgeschieden, nunmehr sei er im Provinzrat von Parwan. Mit seinem Studium habe er 2013 begonnen, im August 2015 habe er die Studien wegen der Drohungen durch die Taliban abbrechen müssen. Er sei dann im November 2015 aus Afghanistan ausgereist. Zuhause würden noch seine Eltern, Geschwister, Tanten und Onkel leben. Vor dem Studium habe er als Stahlbetonbauer gearbeitet, diesen Beruf habe er erlernt. Als Bodyguard habe er von 2012 bis Juni 2015 gearbeitet. Er habe damit aufhören müssen, da sein Leben in Gefahr gewesen sei. Er sei nie direkt bedroht worden, es habe aber Flugblätter an die Allgemeinheit gegeben. Darin habe gestanden, dass die Leute, die mit der Regierung zusammenarbeiten würden, entweder mit der Taliban kooperieren müssten oder sie würden umgebracht. Er habe auch seine Uni nicht abschließen können, weil es so viele Probleme gegeben habe. Die Taliban habe gesagt, entweder er müsste sich ihnen anschließen oder er würde erschossen werden. Wenn man Geld habe, würde man gleich erschossen werden, damit einem das Geld weggenommen werden könne. Es sei auch sein Auto geklaut worden und man habe ihm mit dem Colt auf den Kopf gehauen. Dann habe er die Worte "Allah sei der Einzige und Mohamed sei sein Prophet" sagen müssen. Diese Leute seien aber nur einfache Diebe gewesen.
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Mit Bescheid vom 28. Juli 2016, dem Kläger am 03. August 2016 mit Postzustellungsurkunde zugestellt, lehnte die Beklagte sowohl den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf Asylanerkennung als auch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Zugleich forderte sie den Kläger unter Androhung der Abschiebung nach Afghanistan auf, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und befristete das gesetzliche Einreise und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, der Kläger habe im Rahmen der Anhörung kein aktuelles individuelles Verfolgungsschicksal darlegen können. Der Kläger habe vorgetragen, er sei geflohen, da er seine Uni nicht habe abschließen können. Es gäbe Probleme in Afghanistan. Man würde gleich von den Taliban erschossen, wenn man Geld habe, damit einem das Geld wegegenommen werden könne. Aus diesem Vorbringen sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich. Auch unter Zugrundelegung des Bestehens eines innerstaatlichen Konfliktes müsse der Kläger keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit befürchten, da das Risiko, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt liege. In der Provinz Parwan sei im Übrigen von einer niedrigen Bedrohungslage auszugehen. Abschiebungsverbote lägen auch nicht vor. Auch unter Berücksichtigung der derzeitigen humanitären Bedingungen in Afghanistan sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Der Kläger habe keine individuellen Gefahren geltend gemacht. Er sei ein junger, arbeitsfähiger und gesunder Mann, der im Falle der Rückkehr nach Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten wenigsten ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums finanzieren könne.
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Der Kläger hat am 17. August 2016 Klage vor dem erkennenden Gericht erhoben.
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Er verweist auf seine Ausführungen im Rahmen der Anhörung und ergänzt im Laufe des Klageverfahrens, dass die Beklage aufgrund der aktuellen Entwicklungen in Afghanistan dazu übergegangen sei, zumindest ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufhentG in Verbindung mit Art. 3 ERMK festzustellen. Er verweise auf die Bescheide der Beklagten vom 29. Juli 2016 mit dem Aktenzeichen 6173871-423 und vom 07. April 2017 mit dem Aktenzeichen . Des Weiteren verweise er auf die Rechtsprechung des VG Magdeburg, wonach langjährig für Nichtregierungsorganisationen oder für Politiker tätigen Personen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei.
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In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger zu seinen Fluchtgründen ergänzend vorgetragen. Er hat seine Geburtsurkunde sowie ein Schreiben der National Assembly of the Islamic Republic of Afghanistan vom 06. September 1395 im Original sowie eine Übersetzung hiervon ins Englische als Beiakte zu den Gerichtsakten gereicht.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 28. Juli 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz zu gewähren, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte beantragt schriftlich,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verweist auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
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Die Kammer kann durch die Einzelrichterin entscheiden, weil der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG mit Beschluss der Kammer vom 12. April 2017 auf die bestellte Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen wurde.
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Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
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Die zulässige Klage begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 28. Juli 2016 ist hinsichtlich der Ziffern 1 und 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im Sinne von Abs. 1 der Regelung ist und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Ausländer dann die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Dabei ist unerheblich, ob er ein zur Verfolgung führendes Merkmal tatsächlich aufweist, sofern ihm ein solches Merkmal von seinem Verfolger zugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten dabei u.a. Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1, § 3b AsylG und der Verfolgungshandlung oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
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Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von (1.) dem Staat, (2.) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, oder (3.) von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (interner Schutz).
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Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal "aus der begründeten Furcht vor Verfolgung" des Art. 2 Buchstabe d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EU L 337/9 S. 9 ff., sog. Qualifikationsrichtlinie – QRL –) abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – BVerwG 10 C 23.12 –, juris Rn. 32). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die "reale Möglichkeit" einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z. B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 02. Mai 2017 – A 11 S 562/17 – juris).
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Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit – wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt – eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein "voller Beweis" nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 02. Mai 2017, a.a.O.).
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Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob bereits Vorverfolgung oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG (vgl. Art. 15 QRL) vorliegt. Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 QRL); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften.
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Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG aber auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat. Ist der Schutzsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung ebenfalls dann vor, wenn ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.
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Die Glaubhaftmachung der Asylgründe setzt – entsprechend der Mitwirkungspflicht des Schutzsuchenden im Asylverfahren - eine schlüssige, nachprüfbare Darlegung voraus. Der Schutzsuchende muss unter Angaben genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Jedenfalls in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse hat er eine Schilderung abzugeben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen. Daher kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung besondere Bedeutung zu (vgl. BVerwG, Urteil v.om 8.Mai 1984 – 9 C 141/83 – juris Rn. 11). Das Gericht hat sich die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Schutzsuchenden behaupteten Sachverhalts zu verschaffen, wobei für diese Überzeugungsbildung wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich ein Schutzsuchender bezüglich der Vorgänge in seinem Heimatland regelmäßig befindet, nicht die volle Beweiserhebung notwendig, sondern die Glaubhaftmachung ausreichend ist (OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. Juli 2012, - 3 L 147/12 - juris.).
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Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zwar konnte der Kläger eine bereits vor seiner Ausreise erfolgte konkrete Bedrohung durch die Taliban oder regierungsfeindlichen Gruppen nicht glaubhaft machen, so dass ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL nicht zu gute kommt (dazu unter 1.). Allerdings begründet der Umstand, dass der Kläger in Afghanistan Personenschützer eines Parlamentsabgeordneten war und aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, nunmehr eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine an seine politische Überzeugung anknüpfende Verfolgung des Klägers durch die Taliban in seinem Heimatland (dazu unter 2.).
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1. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger nicht vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist ist. Er hat nicht glaubhaft darlegen können, dass er aufgrund seiner dreijährigen Tätigkeit als Personenschützer für den Parlamentsabgeordneten Hamdullah Monib verfolgt wurde. Zwar kann dem Kläger aufgrund seiner Angaben vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung sowie der vorgelegten schriftlichen Bestätigung der National Assembly of the Islamic Republic of Afghanistan vom 06. September 1395 (= 26. November 2016) - an deren Echtheit für das Gericht keine Zweifel bestehen – abgenommen werden, dass er vom 01. Januar 2012 bis zum 06. Juli 2015 der behaupteten Tätigkeit nachgegangen ist. Aufgrund der Erkenntnismittel ist auch bekannt, dass afghanische Zivilisten, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft verbunden sind bzw. diese unterstützen oder unterstützt haben, bedroht, angegriffen oder getötet worden sind (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, S. 41, 48 m.w.N.). Allerdings ergibt sich hieraus keine flächendeckende Verfolgung dieses Personenkreises (vgl. Bay.VGH, Beschluss vom 30. Oktober 2014 - 13a ZB 14.30371 -, juris Rn. 4; VG Lüneburg, Urteil vom 21. November 2016 – 3 A 109/16 -, juris m.w.N.) Der Kläger vermochte vorliegend keine vorangegangene eigene individuelle Verfolgung aufgrund seiner Tätigkeit glaubhaft zu machen.
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Soweit der Kläger vor dem Bundesamt berichtet hat, dass er überfallen, mit der Waffe auf dem Kopf geschlagen und bedroht worden sei, die Täter dieses Überfalls aber nur Diebe gewesen seien, vermochte er diesen Vortrag in der mündlichen Verhandlung nicht zu entkräften. Dabei kommt es auf seine Behauptung, dass sein Vortrag in der Anhörung vor dem Bundesamt nicht vollständig übersetzt und dokumentiert worden sei, nicht an und muss deshalb auch nicht weiter nachgegangen werden. Denn auch in der mündlichen Verhandlung äußerte der Kläger lediglich die Vermutung, dass die Taliban oder regierungsfeindliche Gruppen ihn überfallen und geschlagen hätten. Von konkreten, während des Überfalls getätigten Äußerungen oder Drohungen der Täter, die regierungsfeindlichen Gruppen zugeordnet werden könnten, hat er in der mündlichen Verhandlung nicht berichtet. Den Satz, den er während des Überfalls habe nachsprechen müssen, stellt noch keinen Bezug zu regierungsfeindlichen Gruppen oder der Taliban her. Der Überfall und die – erstmals in der mündlichen Verhandlung "steigernd" erwähnte - Entführung könnten auch schlicht der in Afghanistan weit verbreiteten Straßenkriminalität zugeordnet werden.
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Darüber hinaus rechtfertigt der tatsächliche Vortrag des Klägers hinsichtlich des Überfalls in der mündlichen Verhandlung auch bei seiner Unterstellung als wahr die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht. Denn das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt grundsätzlich einen Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht voraus (BVerfG, Beschluss vom 12. Februar 2008 – 2 BvR 2141/06 -, juris Rn. 20). Die Ausreise muss folglich das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Dass dies vorliegend der Fall war, konnte die Einzelrichterin nicht erkennen. Der Kläger hat hierzu bei seiner informatorischen Anhörung durch das Gericht vorgetragen, nach dem besagten Überfall noch etwa einen Monat weiter für den Abgeordneten Monib als Personenschützer gearbeitet zu haben. Er hat sich folglich nicht versteckt gehalten, sondern ist weiterhin in der Öffentlichkeit aufgetreten. Er hat die Tätigkeit als Personenschützer nach eigener Aussage auch nicht aufgrund einer Bedrohungslage aufgegeben, sondern lediglich aufgrund dessen, dass ihm – nach der Nichtwiederwahl des Abgeordneten – mangels Bedarfs gekündigt wurde. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung weiter ausgeführt hat, er sei natürlich auch in dieser Zeit zur Preisgabe von Informationen aufgefordert und bedroht worden, er habe aber unter dem Schutz von Herrn Monib gestanden, ist dieser Verfolgungsvortrag so pauschal und substanzarm, dass ihm kein Glauben geschenkt werden kann. Überdies ist zu bedenken, dass Schutz vor der Taliban nach der Erkenntnislage (siehe S. 11 f.) nicht einmal der afghanische Staat geben kann, so dass der Vortrag hinsichtlich einer Schutzgewährung durch Herr Monib wenig überzeugend ist.
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2). Gleichwohl ist das Gericht davon überzeugt, dass dem Kläger nach verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles bei seiner Rückkehr nach Afghanistan wegen der durch ihm ausgeübten Tätigkeit für einen parlamentarischen Abgeordneten der Meshrano Jirga (Oberhaus der Nationalversammlung) und der Einreise aus Europa mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung droht.
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Es gibt zum einen ein systematisches und fortwährendes Vorgehen bewaffneter regierungsfeindlicher Truppen wie der Taliban gegen Zivilisten, welche die afghanische Regierung oder die internationale Gemeinschaft tatsächlich oder vermeintlich unterstützen. Es werden eine Vielzahl von Fällen dokumentiert, in denen regierungsfeindliche Kräfte Personen, die der Zusammenarbeit mit regierungstreuen Kräften verdächtigt wurden, ermordet oder verstümmelt worden sind (vgl. UNHCR-Richtlinien, a.a.O, S. 38 f., 43 m.w.N.). Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) geht davon aus, dass diese Personen ein besonderes Risikoprofil aufweisen (UNHCR-Richtlinien, a.a.O, S. 48). Die Taliban verfolgt die Strategie der gezielten Verfolgung deklarierter Feinde, um so die Kontrolle über Gebiete und Bevölkerungsgruppen zu erlangen. Die Bevölkerung wird durch Drohungen oder auch durch Anwendung von Gewalt gezwungen, regierungsfeindliche Gruppierungen zu unterstützen. Diese Einschüchterungstaktik wird verstärkt durch das verminderte allgemeine Vertrauen in die Kapazitäten der afghanischen Regierung und der internationalen Kräfte, die Sicherheit aufrechtzuerhalten. Schon im November 2015 war die Ausdehnung der Taliban größer als zu Beginn des militärischen Eingreifens der NATO im Jahr 2001 (vgl. Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt, ZAR 5-6/2017, S. 193 m.w.N.). Gerichtsbekannt ist zudem, dass auch das Bundesamt davon ausgeht, dass afghanische Staatsangehörige und ihre Familien, die für die Regierung oder für ausländische Sicherheitskräfte und Hilfsorganisationen arbeiten, dem Risiko gezielter Übergriffe ausgesetzt sein können. Warum die Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid die berufliche Tätigkeit des Klägers aber mit keinem Wort erwähnt, geschweige denn, sich mit diesem Vorbringen überhaupt nicht auseinandersetzt, ist nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht nachvollziehbar.
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Die vorstehende beschriebene Bedrohungslage genügt zwar grundsätzlich - wie bereits oben erwähnt - für sich gesehen nicht, um von einer Verfolgung des Klägers aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit auszugehen. Vorliegend ergibt sich ein gesteigertes Interesse der Taliban an der Person des Klägers jedoch ergänzend daraus, dass dieser aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt. Denn diese Rückkehrer sehen sich zusätzliche Risiken ausgesetzt, da sie dem generellen Verdacht unterliegen, ihr Land und ihre religiösen Pflichten verraten und sich dem Machtanspruch der Taliban entzogen zu haben oder Spione westlicher Staaten zu sein (Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt, ZAR 5-6/2017, S. 196 f. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); UNHCR-Richtlinien, a.a.O., S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.). Hierdurch unterliegt der Kläger nicht nur als ehemaliger Sicherheitsmann, der für die afghanische Regierung tätig gewesen ist, sondern auch durch seine Rückkehr aus Europa insgesamt einem deutlich erhöhtem Risiko, von Seiten der Taliban als Kollaborateur (der "Invasoren") wahrgenommen zu werden. Das Gericht ist nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnismittel und dem anzuwendenden Prognosemaßstab der zu der Überzeugung gelangt, dass durch das Zusammenspiel "Tätigkeit für einen Parlamentsabgeordneten" und "Rückkehr aus dem westlichen Ausland" das Verfolgungsrisiko sich in einem derartigem Ausmaße erhöht hat, dass in Anbetracht der Willkürpraxis der Taliban und der drohenden Gefahren einer Tötung, Verstümmelung oder Misshandlung für den Kläger das tatsächliche Risiko besteht, Opfer einer solchen Verfolgung zu werden und ihm deshalb eine Rückkehr in seine Heimatregion nicht zuzumuten ist.
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Dem Kläger wird darüber hinaus nach Überzeugung des Gerichts aufgrund seiner "Lebensgeschichte" eine von den Taliban eine gegen diese Organisation gerichtete abweichende Einstellung im Sinne von § 3b Abs. 2 AsylG zugeschrieben. Bei dieser abweichenden Einstellung handelt es sich um eine politische Überzeugung nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Asylantragsteller in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Als politisch ist eine Überzeugung im Gegensatz zu einer rein privaten dann zu qualifizieren, wenn sie sich im weitesten Sinne auf die Auseinandersetzung um die Gestaltung des Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen im gesellschaftlichen und staatlichen Raum bezieht und damit einen öffentlichen Bezug hat. Der verfolgende Akteur greift auf Leben, Leib oder persönliche Freiheit des Schutzsuchenden zu, um dessen oppositionelle Einstellung zu bekämpfen (Hoffmann, Ausländerrecht, 2. Aufl., 2016, § 3b AsylG Rn. 23). Aus Sicht der Taliban handelt es sich bei dem Kläger um eine Person, die gegen die Interessen der Taliban mit der afghanischen Regierung und mit den "Invasoren" zusammenarbeitet.
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Bei den Taliban handelt es sich um nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG, von denen Verfolgung ausgehen kann.
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Auf Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG durch den afghanischen Staat kann der Kläger nicht verwiesen werden, da dieser nicht in der Lage ist, für die Sicherheit des Klägers zu sorgen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Oktober 2016, S. 4, 17; Lagebeurteilung vom 28. Juli 2017, Rn. 40). Das fehlende Vermögen des afghanischen Staates, einzelfallbezogenen Schutz einer konkret von Verfolgung gefährdeten Person vor regierungsfeindlichen Organisationen zu gewährleisten, entspricht der aktuellen Erkenntnismittellage. Das Justizsystem funktioniert in Afghanistan nur sehr eingeschränkt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19.Oktober 2016, S. 5). Es herrscht ein Klima der Straflosigkeit (vgl. UNHCR-Richtlinien, a.a.O., S. 28; SFH, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 30. September 2016, S. 15). Gerade in ländlichen Regionen ist die Regierung nicht mehr in der Lage, ausreichend Sicherheit zu bieten, was zu einem Erstarken der Taliban in diesen Gebieten geführt hat (vgl. SFH, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 14. September 2017, S. 4 f.). Der Islamvorbehalt in der Verfassung, tradierte Moralvorstellungen, sowie Zahlungen von Bestechungsgeldern verhindern Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 19. Oktober 2016, S. 11 f.). Auch innerhalb der Polizei sind Korruption, Machtmissbrauch und Erpressung ortstypisch (vgl. UNHCR-Richtlinien, a.a.O., S. 29). Gleichermaßen ist das Militär nicht frei von Bestechung. Daher sind die Sicherheitsbehörden vielerorts nicht in der Lage, eine hinreichende Strafverfolgung zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund, ist das Gericht davon überzeugt, dass der afghanische Staat dem Kläger keinen ausreichenden Schutz bieten kann.
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Dem Kläger steht auch keine zumutbare inländische Fluchtalternative im Sinne von § 3e AsylG zur Verfügung.
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Dem Ausländer wird der Flüchtlingsstatus nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Dem Schutzsuchenden dürfen in dem in Betracht kommenden Gebiet keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (BVerfG, Beschluss vom 10. November 1989 - 2 BvR 403/84 – juris Rn. 22).
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Der Flüchtling muss für eine gewisse Dauerhaftigkeit Schutz erhalten und sich dort "niederlassen" können. Die Verweisung auf eine interne Fluchtalternative ist daher nur zumutbar, wenn dort nicht andere, unzumutbare Nachteile drohen. Eine drohende konkrete Beeinträchtigung elementarer Menschenrechte kann eine Unzumutbarkeit begründen. Zumutbar ist eine Rückkehr nur dann, wenn der Ort der inländischen Schutzalternative ein wirtschaftliches Existenzminimum ermöglicht, zum Beispiel durch zumutbare Beschäftigung oder auf sonstige Weise, oder durch Mittel der Existenzsicherung aufgrund von Leistungen humanitärer Organisationen. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben, wenn den Asylsuchenden am Ort der internen Schutzalternative ein Leben erwartet, dass zu Hunger, Verelendung und zum Tod führt oder wenn er dort nichts anderes zu erwarten hat als ein "Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums" (BVerwG, Beschluss vom 17. Mai 2006 - 1 B 100/05 - juris; BVerwG, Beschluss vom 21. Mai 2003 - 1 B 298/02 - juris). Im Hinblick auf den internen Schutz gem. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG muss für den Rückkehrer in dem schutzgewährenden Landesteil auch die Existenzgrundlage soweit gesichert sein, dass von ihm erwartet werden kann, dass er sich vernünftigerweise dort aufhält. Dies geht als Zumutbarkeitsmaßstab über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 5 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus.
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Offenbleiben kann, ob der Kläger in Kabul oder in anderen afghanischen Städten sein Existenzminimum wird sichern können. Denn das Gericht geht davon aus, dass der aus der Provinz Parwan stammende Kläger im vorliegenden Fall weder in der afghanischen Hauptstadt Kabul noch in einer anderen größeren Städten oder Gebieten des Landes, in der zumindest ein gewisses Reservoire an Arbeitsplätzen vorhanden ist, internen Schutz erlangen kann, sondern gerade dort die oben geschilderte Verfolgung zu befürchten hat.
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Der Kläger hat in diesem Zusammenhang vorgetragen, dass seinem Vater telefonisch mitgeteilt worden sei, "der Sohn könne nicht entkommen", und dass er aufgrund vieler Fotos, auf denen er zusammen mit dem Abgeordneten zu sehen sei, sehr bekannt sei. Aufgrund der Erkenntnislage vermag das Gericht es zwar nicht als gesichert ansehen, dass die Taliban mit ihren in Afghanistan vorhandenen Netzwerken gezielt nach dem Verbleib des Klägers sucht bzw. dass sie diese Fähigkeit hierzu besitzt (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 28. Juli 2014 – 9 LB 2/13 -, juris m.w.N; ACCORD: Fähigkeit der Taliban, Personen in Afghanistan aufzuspüren, Schutzfähigkeit des Staates, 14. August 2013). Jedoch geht das Gericht davon aus, dass für den Kläger zumindest das tatsächliche Risiko ("real risk") besteht, durch Zufall von der Taliban entdeckt und identifiziert zu werden.
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Grund dafür ist, dass sich Fremde nach der afghanischen Lebenswirklichkeit in ihrem neuen sozialen Umfeld glaubwürdig identifizieren müssen. Diese Überprüfungen haben im Zuge des Bürgerkriegs und aufbauend auf der Erfahrung, dass jede vertraute Person zum Feind werden kann, in den letzten Jahren neue Dimensionen erlangt. Es werden von der neuen Umgebung zu deren eigenem Schutz nun auch die Biografien der einzelnen Personen, ihre Beziehungen und Kontakte sowie Abhängigkeiten und Feindschaften überprüft, um einschätzen zu können, ob der neue Nachbar Beziehungen zu kriminellen Banden hat oder ob er für oder gegen die Taliban arbeitet (vgl. Stahlmann, Bedrohungen im sozialen Alltags Afghanistan, Asylmagazin 3/2017, S. 82, 88 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05. Dezember 2017 - A 11 S 1144/17 -, juris Rn. 426). Werden unrichtige oder unstimmige Angaben gemacht, wird dies bald herausgefunden (vgl. Stahlmann, Bedrohungen im sozialen Alltags Afghanistan, a.a.O. S. 88 f.). Für von Verfolgung bedrohte Personen, die an einen anderen Ort Schutz suchen, sorgt die permanente Überprüfung der biografischen Angaben und Beziehungen auf zweierlei Arten für eine landesweite Kontinuität der Verfolgung: Einerseits bekommt das soziale Umfeld im Herkunftsort Kenntnis vom aktuellen Aufenthaltsort, andererseits sind Informationen für das neuen Lebensumfeld lukrativ, denn gerade die Taliban ist bereits, Denunzianten zu entlohnen, um ihre Durchsetzungskraft zu demonstrieren und ihren Einflussbereich zu erweitern (vgl. Stahlmann, Bedrohungen im sozialen Alltags Afghanistan, a.a.O., S. 88 f.).
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Zu einer anderen Bewertung der Gefahrenprognose sieht das Gericht sich auch nicht dadurch veranlasst, dass die Stadt Kabul nach Schätzungen mindestens 4 Millionen Einwohner hat und der Kläger somit möglicherweise in der Anonymität dieser Großstadt "untertauchen" und sich vor den Taliban versteckt halten könnte. Der mittellose Kläger, der in Kabul – wie auch in anderen Städten des Landes – über kein familiäres Netzwerk verfügt, wird darauf angewiesen sein, sich "auf der Straße" um Arbeit als Tagelöhner zu bemühen und in einem Armenviertel bzw. Flüchtlingslager seine Unterkunft zu suchen (vgl. hierzu die ausführlichen Ausführungen des VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Oktober 2017 – A 11 S 512/17 – juris Rn 105 ff m.w.N.). Bei der Arbeits- und Wohnungssuche wird der Kläger – nach den oben näher dargelegten Erkenntnissen - nicht umhinkommen, seine Identität und Herkunft an Orten zu offenbaren, in denen auch die Taliban oder mit ihnen verbundene Personen präsent sind. Denn nicht nur landesweit, sondern auch in Kabul bestehen Netzwerke der Taliban. So berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Auskunft vom 22. Juli 2014, Afghanistan: Sicherheit in Kabul, S. 4 ff.), dass die Taliban über ein landesweit verzweigtes Netz an Informanten verfügten und damit beispielsweise auch in Kabul die Möglichkeit hätten, Druck auszuüben, einzuschüchtern, zu entführen oder zu töten. In Kabul würden sich dabei kriminelle Strukturen und Netzwerke von Aufständischen überlappen. Mithilfe geheimer Absprachen zwischen Aufständischen und korrupten Regierungsmitarbeitern seien die kriminellen Netzwerke in Kabul und Umgebung im Laufe der Jahre immer stärker geworden. Hinzu tritt – wie bereits oben ausgeführt – die reale Gefahr, dass die Taliban durch Dritte über die Anwesenheit des Klägers in Kenntnis gesetzt wird, weil der Verkauf von Informationen sehr lukrativ ist oder um die eigene Sicherheit zu gewährleisten. Schließlich hat das Gericht bei der Bewertung der Gefahrenprognose auch zu berücksichtigen, dass dem Kläger bei einer Entdeckung durch die Taliban der Tod oder eine schwerwiegende Misshandlung droht. Wie bereits oben näher dargelegt, ist der anzuwendende Wahrscheinlichkeitsmaßstab nicht schematisch zu prüfen, sondern muss in Abhängigkeit von der Schwere der drohenden Rechtsgutsverletzung variiert werden: Je schwerwiegender diese ist, desto geringere Anforderungen sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen. Im hier gegebenen Fall einer drohenden Tötung bedarf es daher eines geringeren Schadensrisikos als bei weniger schwerwiegenden Misshandlungen, damit der Flüchtlingsschutz durchgreift.
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Der Kläger kann auch nicht auf die Möglichkeit verwiesen werden, internen Schutz außerhalb einer größeren Stadt in einem "sicheren" ländlichem Gebiet – etwa in der Provinz Bamyan und Panjshir – zu suchen, in dem möglicherweise keine Netzwerke der Taliban bestehen. Den Kläger wird dort sein wirtschaftliches Existenzminimum nicht sichern können.
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Nach den vom Gericht beigezogenen Erkenntnismitteln, z.B. den mit besonderem Gewicht berücksichtigten Ausführungen des UNHCR in der Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, ist eine interne Schutzalternative in Afghanistan nur zumutbar, wenn der betreffende Ausländer dort Zugang zu Unterkunft, Grundleistungen wie Trinkwasser, sanitären Einrichtungen, Gesundheitsfürsorge und Bildung sowie die Möglichkeit, sich eine Existenzgrundlage zu schaffen, hat (vgl. zu den Verhältnissen in Afghanistan auch die zusammenfassende Darstellung VGH München, Urteil vom 23. März 2017 – 13a B 17.30030 – juris, m.w.N.). Ferner ist die interne Schutzalternative nur dann gegeben, wenn die Person Zugang zu einem traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gruppe im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet hat und davon ausgegangen werden kann, dass diese Willens und in der Lage sind, den Schutzsuchenden tatsächlich zu unterstützen. Als Ausnahme vom Erfordernis einer externen Unterstützung sieht die Richtlinie alleinstehende, leistungsfähige Männer und Ehepaare im Arbeitsalter an, die nicht aufgrund persönlicher Umstände auf eine besondere Unterstützung angewiesen sind. Solche Personen können im Einzelfall in der Lage sein, ohne die Unterstützung durch die Familie oder durch eine Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten zu leben, die unter staatlicher Kontrolle sind und die nötige Infrastruktur und die Möglichkeit bieten, die Grundbedürfnisse zu befriedigen (vgl. UNHCR-Richtlinien, a.a.O., S. 95 ff, ; NdsOVG, Urteil vom 19. September 2016 - 9 LB 100/15 - juris Rn. 76).
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Ausgehend von diesen Erkenntnismitten ist für den Kläger in den Provinzen Bamyan und Panjshir eine ausreichende Existenzgrundlage nicht gewährleistet. Es handelt sich aufgrund der geografischen Lage um vergleichsweise wenig entwickelte, im zentralen Hochland gelegene Provinzen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht ersichtlich, wie es dem Kläger, der in den genannten Provinzen über kein familiäres Netzwerk verfügt, möglich sein sollte, dort eine Arbeit zu finden, die es ihm ermöglichen könnte, sein Existenzminimum dauerhaft zu sichern. Grundsätzlich kann eine alleinstehende Peron nach den genannten Erkenntnismitteln ihr Existenzminimum nur in urbanen bzw. semiurbanen Gebieten sichern.
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Die Ziffern 3 und 4 des Bescheides vom 28. Juli 2016 sind aufzuheben, da sowohl der Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG als auch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG gegenüber dem Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nachrangig zu prüfen sind.
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Mit Aufhebung der Ziffern 1 und 3 des streitgegenständlichen Bescheids vom 28. Juli 2016 und der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft fehlt es an den tatbestandlichen Voraussetzungen für den Erlass der Abschiebungsandrohung gemäß § 35 i. V. m. § 34 AsylG in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheides, die daher ebenfalls aufzuheben ist. Darüber hinaus ist auch kein Raum für den Erlass der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, da diese an die Abschiebungsandrohung nach §§ 34, 35 AsylG geknüpft ist (§ 75 Nr. 12 AufenthG).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 83 b AsylG.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Referenzen
- 9 LB 100/15 1x (nicht zugeordnet)
- § 75 Nr. 12 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 9 LB 2/13 1x (nicht zugeordnet)
- 9 C 141/83 1x (nicht zugeordnet)
- Urteil vom Verwaltungsgericht Lüneburg (3. Kammer) - 3 A 109/16 1x
- § 3d AsylG 2x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 102 1x
- VwGO § 113 1x
- VwGO § 167 1x
- 11 S 512/17 1x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 3e Abs. 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
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- § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 5 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 11 S 1144/17 1x (nicht zugeordnet)
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- 11 S 562/17 1x (nicht zugeordnet)
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- 2 BvR 2141/06 1x (nicht zugeordnet)
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- § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- Urteil vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (3. Senat) - 3 L 147/12 1x
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