Urteil vom Verwaltungsgericht Halle (5. Kammer) - 5 A 445/17
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe dieses Betrages leistet.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt noch die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan.
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Der verheiratete Kläger wurde am 1. Januar 1995 in Mazar-e-Sharif/Afghanistan geboren und ist afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit sunnitisch-islamischer Religionszugehörigkeit. Nach eigenen Angaben reiste er am 30. Juli 2015 in das Gebiet der Beklagten ein.
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Am 5. August 2015 stellte der Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag. Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 22. September 2016 gab er an, dass er sich bis zu seiner Ausreise in Mazar-e-Sharif aufgehalten hat. Sein Vater sei bereits verstorben, seine Mutter und seine Frau befänden sich weiterhin an diesem Ort. Er habe sonst keine Verwandte in Afghanistan. Er habe die Schule bis zur 7. Klasse besucht und als Landarbeiter gearbeitet. Von 2014 bis 2015 hätte er einen Laden für Textilien gehabt. Er sei der Erbe seines Vaters gewesen und habe dessen Land 2014 verkauft. Drei Brüder seien damit nicht einverstanden gewesen, obwohl er als Erbe das Land rechtmäßig verkauft habe. Sie haben das Geld gewollt. Er sei deswegen mit seinem Bruder und seiner Familie nach Mazar-e-Sharif/Agabe Taufasat gegangen. Sein Onkel habe auch dort das Geld verlangt. Er habe sogar noch mehr Geld gewollt, da er ihm vorgeworfen habe, das Land unter Wert verkauft zu haben. Er habe ihm mit dem Tod seines Bruders gedroht und seine Mutter geschlagen. Der Onkel sei mehrmals in Begleitung seiner Söhne gekommen und hätte ihnen jeweils Schaden zugefügt. Zwei Wochen vor seiner Ausreise sei der Onkel wieder gekommen und habe sie wieder bedroht und geschlagen. Seine Mutter habe geweint und gefleht, das Land zu verlassen. Sie habe nicht gewollt, dass sie durch den Onkel getötet werden. Er habe seine Frau und seine Mutter in einen anderen Stadtteil in eine Mietwohnung gebracht. Sein Bruder unterstütze diese durch dessen Arbeit als Dolmetscher. Er habe dann einen Schleuser gefunden und sei ausgereist. Hinsichtlich des weiteren Vortrages des Klägers im Rahmen der Anhörung am 22. September 2016 wird nach § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf deren Niederschrift verwiesen, welche sich in der vorliegenden Asylakte der Beklagten befindet.
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Mit Bescheid vom 24. Februar 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz ab. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen und erließ eine fristgebundene Abschiebungsandrohung nach Afghanistan. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde in diesem Bescheid auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Kläger keine Verfolgungshandlung i. S. d. § 3 AsylG geschildert habe, sondern kriminelle Handlungen von Familienmitgliedern. Es sei nur ein Familienstreit angegeben worden und hiermit seien keine Akteure i. S. d. § 3 c AsylG betroffen. Es sei auch kein subsidiärer Schutz zu gewähren, da keine relevante Gefahrenlage bezüglich des innerstaatlichen Konfliktes gegeben sei. Es sei auch keine Vorverfolgung mit einem erlittenen ernsthaften Schaden vorgetragen worden. Ein Abschiebungsverbot würde für den jungen und arbeitsfähigen Mann ebenfalls nicht bestehen. Für die weiteren Ausführungen des Bundesamtes wird im Übrigen auf dessen Bescheid vom 24. Februar 2017 nach § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO verwiesen.
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Der Kläger hat am 14. März 2017 beim erkennenden Gericht Klage erhoben. Zur Begründung verweist sein Bevollmächtigter auf seine Anhörung. Die den Kläger bedrohenden Onkel würden zudem für die Taliban kämpfen, weshalb ein erhebliches Verfolgungsrisiko durch die Taliban bestehe, da er der Unterstützung der gegen die Taliban kämpfenden Kräfte verdächtigt werde. Eine interne Fluchtalternative sei nicht gegeben, da die Verfolgung seitens der Taliban landesweit bestehe. Zudem sei keine ausreichende Lebensgrundlage in Afghanistan gegeben unter Verweis auf die schlechten humanitären Zustände. Subsidiärer Schutz sei wegen dem innerstaatlichen Konflikt zu gewähren und den gefahrerhöhenden Umständen in Gestalt der Verfolgung durch die Taliban.
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Der Kläger hat die Klage mit Schriftsatz vom 4. Dezember 2017 teilweise hinsichtlich der ursprünglich beantragten Flüchtlingseigenschaft zurückgenommen.
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Der Kläger beantragt noch,
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die Beklagte zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutz zuzuerkennen,
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hilfsweise für ihn Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen und den Bescheid vom 24. Februar 2017 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
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Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die durch Hinweis des Gerichts in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht kann nach § 102 Abs. 2 VwGO trotz des Ausbleibens der Beklagten zur mündlichen Verhandlung in der Sache entscheiden, da die - ordnungsgemäß zum Termin zur mündlichen Verhandlung geladene - Beklagte in der Ladung hierauf hingewiesen worden ist.
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Das Verfahren ist gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen, soweit der im Termin zur mündlichen Verhandlung gestellte Klageantrag hinter dem ursprünglich verfolgten Begehren des Klägers zurückbleibt. Schriftsätzlich hatte der Kläger ausweislich seiner Klageschrift zunächst weitergehend beantragt, unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 24. Februar 2017 die Beklagte auch zu verpflichten, ihn als Flüchtling anzuerkennen. Insoweit hat der Kläger die Klage mit Schreiben vom 4. Dezember 2017 teilweise gemäß § 92 Abs. 1 Satz 1 und 2 zurückgenommen.
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Die im Übrigen zulässige Klage ist unbegründet.
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Dem Kläger steht weder der von ihm geltend gemachte Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes, noch auf die hilfsweise begehrte Feststellung von Abschiebungsverboten hinsichtlich Afghanistan zu (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO). Der Bescheid des Bundesamtes vom 24. Februar 2017 ist zum gemäß § 77 Abs. 1 AsylG jetzt maßgeblichen Zeitpunkt rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Dem Kläger steht kein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG zu. Nach dieser Regelung ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach Satz 2 der Regelung die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
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Maßgebend für die Beantwortung der Frage, ob einem Ausländer ein ernsthafter Schaden in seinem Herkunftsland droht, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der voraussetzt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für einen ernsthaften Schaden sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen - es kommt darauf an, ob in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor einem ernsthaften Schaden hervorgerufen werden kann (vgl. Nds. OVG - Urteil vom 19. September 2016 - 9 LB 100/15 - Juris). Es ist Sache des Ausländers, die Gründe hierfür in schlüssiger Form vorzutragen und das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangen (s. Nds. OVG a. a. O.). Dabei greift zugunsten eines Betroffenen eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (s. Nds. OVG Urteil vom 23. November 2015 - 9 LB 106/15 - Juris), ohne dass hierdurch jedoch der Wahrscheinlichkeitsmaßstab geändert würde (BVerwG - Urteil vom 7. September 2010 - 10 C 11.09 - Juris; Urteil vom 17. April 2010 - 10 C 5.09 - Juris). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt, beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich ernsthafte Schäden nicht selten in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen, zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal einer ernsthaften Schädigung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG - Urteil vom 17. April 2010 - 10 C 5.09 - Juris). Diese Vermutung kann widerlegt werden, indem stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (s. BVerwG a. a. O.).
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Die Glaubhaftmachung eines ernsthaften Schadens setzt, entsprechend der Mitwirkungspflicht im Asylverfahren, einen schlüssigen Sachvortrag voraus. Der Ausländer muss mithin unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung und verständiger Würdigung die Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ergibt. Hierzu gehört die lückenlose Schilderung der in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere der persönlichen Erlebnisse (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober 1989 - 9 B 405.89 - und Urteil vom 10. Mai 1994 - 9 C 44.93 - jeweils Juris). Die wahrheitsgemäße Schilderung eines realen Vorganges ist dabei erfahrungsgemäß gekennzeichnet durch Konkretheit, Anschaulichkeit und Detailreichtum.
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Das Gericht konnte hier offen lassen, ob der Kläger zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nach dem oben genannten Maßstab glaubhaft gemacht hat, dass bei seiner Rückkehr nach Afghanistan tatsächlich ein ernsthafter Schaden durch seinen Onkel oder dessen Söhne droht. Denn unabhängig davon steht dem Kläger bezüglich dieser behaupteten Bedrohung durch seinen Onkel jedenfalls eine inländische Fluchtalternative i. S. d. § 3 e AsylG zur Verfügung. Nach dessen Absatz 1 wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er 1. in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3 d hat und 2. sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten für den subsidiären Schutz die §§ 3 c bis 3 e entsprechend.
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Die vorgenannten Voraussetzungen für eine inländische Fluchtalternative des Klägers in einen anderen Teil von Afghanistan sind gegeben. Im Einzelfall des Klägers ist unter Berücksichtigung der hier vorliegenden Umstände und der aktuellen Erkenntnismittel zu Afghanistan anzunehmen, dass er in einem anderen Landesteil - insbesondere in Großstädten in Afghanistan wie beispielsweise in Herat oder Kabul - vor seinem Onkel hinreichend sicher ist und es ihm auch zumutbar ist, sich dort anzusiedeln.
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Der Kläger ist in einem anderen Landesteil vor seinem Onkel hinreichend sicher, da er nicht glaubhaft gemacht hat, dass sein Onkel ihn in einem anderen Landesteil finden könnte und dass er zudem ein Interesse daran hat, den Kläger landesweit zu verfolgen. Auf ausdrückliche Nachfrage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung zu seinem Onkel gab der Kläger lediglich an, dass sein Onkel eine wohlhabende Person mit Ländereien sei. Er führte in der Anhörung vor dem Bundesamt und auch in der mündlichen Verhandlung gerade nicht aus, dass sein Onkel Mitglied der Taliban sei oder zu diesen Beziehungen unterhalte. Die diesbezügliche Klagebegründung seines Klägervertreters findet in den persönlichen Aussagen des Klägers keinen Anhaltspunkt. Insofern sind die Möglichkeiten der Taliban, Personen landesweit finden zu können, hier unbeachtlich. Der Kläger hat persönlich weder behauptet, dass sein Onkel ihn landesweit finden könnte, noch ein Interesse daran hat, ihn landesweit zu verfolgen. Hierfür sind insbesondere die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht ausreichend, dass sein Onkel ihn auch in Mazar-e-Sharif/Agabe Taufasat gefunden und aufgesucht habe. Überdies ist bei der vorliegenden Fallkonstellation unter Berücksichtigung der hier zu beachtenden Einzelfallumstände eine landesweite Verfolgung des Klägers durch den Onkel auch nicht wahrscheinlich. Insoweit ist neben dem Fehlen einer derartigen Behauptung seitens des Klägers auch zu berücksichtigen, dass der Onkel sein Hauptziel in Gestalt der Herausgabe des Geldes, was er durch den Verkauf der Ländereien erzielt hat, nicht mehr erreichen kann, da dieses durch die Ausreise des Klägers und den Verbrauch nicht mehr vorhanden ist und der Kläger nunmehr nicht mehr über dieses Vermögen verfügt. Darüber hinaus wird das mangelnde gesteigerte Verfolgungsinteresse des Onkels auch dadurch deutlich, dass die Mutter und die Frau des Klägers nach wie vor in dessen letzten Wohnort leben, ohne dass Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass diese von dem Onkel kontaktiert worden wären. Es wäre anzunehmen, dass der Onkel diese kontaktiert und nach dem Kläger befragt oder bedroht hätte, wenn er hierzu in der Lage gewesen wäre, beziehungsweise weiterhin ein gesteigertes Interesse an dem Kläger hätte.
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Unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel zu Afghanistan ist überdies anzunehmen, dass eine solche Ansiedlung in einem anderen Landesteil dem Kläger als jungen alleinstehenden Mann aus humanitären Gründen zumutbar ist. Es ist anzunehmen, dass es diesem bei Berücksichtigung der hier zu beachtenden Einzelfallumstände möglich ist, sich in einem anderen Landesteil von Afghanistan zumindest sein Existenzminimum erwirtschaften zu können. Bei dem Kläger handelt es sich um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann. Dieser Umstand stellt bei der erforderlichen Einzelfallprüfung ein wesentliches Indiz für die Erreichung des Existenzminimums dar. Denn es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass es alleinstehenden leistungsfähigen Männern und verheirateten Paaren im berufsfähigen Alter auch ohne externe Unterstützung abhängig von den jeweiligen Einzelfallumständen möglich ist, in Afghanistan Zugang zu Unterkunft, grundlegender Versorgung wie sanitärer Infrastruktur, Gesundheitsdiensten und Bildung und Erwerbsmöglichkeiten zu erlangen (vgl. hierzu UNHCR vom 19. April 2016 - Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, S. 99).
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Der Kläger verfügt mit 7 Jahren Schulbesuch über eine durchschnittliche Schulbildung und verfügt über verschiedene Berufserfahrung in der Landwirtschaft und als selbstständiger Verkäufer für Textilien. Durch seine selbstständige Tätigkeit hat der Kläger in Afghanistan bewiesen, dass er in der Lage ist, sich selbst eine Existenz aufzubauen ohne auf die Anstellung bei einem Arbeitgeber angewiesen zu sein, auch wenn seine Geschäfte am Ende aus unbekannten Gründen nicht mehr so gut liefen. Weiter ist zu berücksichtigen, dass der Kläger der sunnitisch-islamischen Religion und damit der mit 80 % mit Abstand am weit verbreitetsten Religion in Afghanistan angehört (s. Auswärtiges Amt vom 29. Oktober 2016 - Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan). Der Kläger gehört auch nicht zu einer in Afghanistan nach den vorliegenden Erkenntnismitteln systematisch verfolgten oder diskriminierten Volksgruppe, sondern zum Volk der Paschtunen, was die mehrheitliche Bevölkerungsgruppe in Afghanistan darstellt.
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Auch anderweitige Hindernisse für die Erwerbstätigkeit des Klägers waren für das Gericht nicht ersichtlich. Dieser ist mit den Verhältnissen in Afghanistan vertraut und hat in seinen Befragungen selber keine Befürchtungen hinsichtlich seiner Existenzsicherung in Afghanistan angegeben oder diesbezügliche erhebliche Probleme in Afghanistan vorgetragen.
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Unabhängig von der bestehenden internen Fluchtalternative ist die Gewährung subsidiären Schutzes aufgrund der Bedrohung durch den Onkel auch deshalb ausgeschlossen, da eine derartige Verfolgung nicht durch einen Akteur i. s. d. § 3 c AsylG i. V. m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG ausgeht. Nach der erstgenannten Regelung kann die Verfolgung von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die unter Nr. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, i. S. d. § 3 d Schutz vor Verfolgung zu bieten. Diese Voraussetzungen sind hier nach der Schilderung des Klägers nicht gegeben, da der Onkel weder für den Staat oder eine unter Nr. 2 genannte Partei oder Organisation tätig ist und auch keinen nichtstaatlichen Akteur i. S. d. Nr. 3 darstellt. Denn es ist gerade nicht erwiesen, dass der Staat nicht in der Lage oder nicht willens ist, ihm vor seinem Onkel zu schützen. Der Kläger hat nach seinem Vortrag in der Anhörung vor dem Bundesamt nicht versucht, bei der Polizei um Schutz vor seinem Onkel zu bitten, beziehungsweise seinen Onkel dort anzuzeigen, da ihm der Onkel in diesem Falle mit dem Tod seiner Familie gedroht habe. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ist indes kein Hinweis darauf ersichtlich, dass staatlicher Schutz bei jeglicher Bedrohung durch einen nichtstaatlichen Akteur - auch wenn dieser wohlhabend ist - nicht zu erlangen ist.
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Für den Kläger besteht auch keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Dabei kann dahinstehen, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im beschriebenen Sinne zu qualifizieren sind, da nach der Überzeugung des Gerichts der Kläger jedenfalls keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre.
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Bezüglich der Gefahrendichte ist auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die der Kläger typischerweise zurückkehren wird (BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2009 - 10 C 9/08 - juris). Die Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vorliegen, hat sich daher hier an der Gefährdungslage in der Provinz Balch zu orientieren, da der Kläger in dieser bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan wohnhaft war und seine Familie nach eigener Aussage in der Anhörung weiterhin in Balch lebt in einem Stadtteil von Mazar-e-Sharif. Die Lage in der Provinz Balch ist nicht durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
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Das Bundesverwaltungsgericht verlangt für die Bestimmung der Gefahrendichte eine zumindest annähernde quantitative Ermittlung der Toten und Verletzten in der maßgeblichen Region in Verbindung mit einer Gesamtbetrachtung der Situation. Das Bundesverwaltungsgericht sieht dabei ein Risiko von 1 : 800 bzw. 0,125 %, in dem betreffenden Gebiet verletzt oder getötet zu werden, als so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt an, dass auch eine wertende Gesamtbetrachtung am Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nichts zu ändern vermag (BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 - a.a.O.). Das quantitative Kernkriterium für die zu treffende Gefahrenprognose ist zunächst die in der maßgebenden Region zu verzeichnende Zahl ziviler Opfer. Eine Aufschlüsselung der Gefährdungslage nach Regionen bzw. Provinzen enthält der Annual Report 2017 von UNAMA. Diesem Bericht lässt sich entnehmen, dass in der Heimatprovinz Balch im Jahr 2017 insgesamt 129 Personen zu Schaden gekommen sind, d. h. getötet oder verletzt worden sind und die Opferzahl im Vergleich zu 2016 damit um 68 Prozent gesunken ist (UNAMA, S. 67). Die Bevölkerungszahl dieser Provinz beträgt schätzungsweise 1.380.000 (EASO, Afghanistan: Security Situation, Stand: Dezember 2017, S.88). Damit liegt die Wahrscheinlichkeit, im Jahr 2017 Opfer eines Anschlages in der Provinz Balch zu werden bei 0,009 % und folglich noch sehr weit unterhalb der als beachtlich angenommenen Schwelle von 1 : 800 (entsprechend 0,125 %) pro Jahr (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris).
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Das vorherrschende Ausmaß an Gewalt unter Berücksichtigung der o. g. Wahrscheinlichkeit genügt daher nicht, um eine tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens anzunehmen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Statistiken von UNAMA alle Vorfälle unberücksichtigt bleiben, die nicht von drei unabhängigen, überprüfbaren Quellen bestätigt werden, und daher ausgehend von diesem Ansatz eine Untererfassung der tatsächlichen Vorfälle zwingend vorliegen muss. Denn bei einem von diesen Zahlen ausgehenden rechnerischen Risiko von 0,009 Prozent, als Zivilperson Opfer des Konflikts in Balch zu werden, ist auch bei tatsächlich wesentlich höheren Opferzahlen eine tatsächliche Gefahr bei Weitem zu verneinen. In Anbetracht dieser sehr geringen Wahrscheinlichkeit sind im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung zudem selbst bei Wahrunterstellung des klägerischen Vortrages keine derart gefahrerhöhenden Umstände für den Kläger gegeben, die bei kumulativer Betrachtung zu einer Gefährdung im o. g. Sinne führen würden. Dabei war auch zu berücksichtigen, dass sich die Situation in der Provinz Balch im Vergleich zum Vorjahr erheblich verbessert hat, da sich die Opferzahl um 68 Prozent verringert hat. Weiterhin wurde berücksichtigt, dass der Kläger keine Bedrohung seines Lebens durch den Onkel angegeben hat, sondern eine Bedrohung durch den Onkel mit dem Tod seines Bruders, welcher indes nunmehr nach den klägerischen Angaben bereits seit einiger Zeit in Indien lebt.
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Die Beklagte hat schließlich auch das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu Recht verneint.
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In der Person des Klägers liegt kein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 AufenthG vor. Nach dieser Regelung darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) - im Folgenden: EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Art. 3 EMRK verbietet, jemanden der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung zu unterwerfen. Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung kann auch gegeben sein, wenn die allgemeinen Lebensbedingungen im Zielstaat - hier: Afghanistan - so schlecht sind, dass eine Sicherung der Grundbedürfnisse allgemein oder für die Personengruppe, zu der der Schutzsuchende gehört, nicht möglich erscheint. Es muss, anders gewendet, also eine Situation vorliegen, in der ein zukünftiger Aufenthalt im Staat der Staatsangehörigkeit eine Gefahr für das Leben oder in erheblichem Ausmaß für die Gesundheit darstellt. Dagegen sichert Art. 3 EMRK - was schon der Wortlaut unmittelbar zeigt - nicht das in der Bundesrepublik Deutschland vorzufindende Niveau.
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Wendet man diese Grundsätze auf den Kläger an, so lässt sich aus den Lebensbedingungen in Afghanistan in Verbindung mit den individuellen Umständen des Klägers keine Gefahrensituation für diesen in diesem Sinne ableiten. Es sind keine ausreichenden Umstände dafür ersichtlich, dass sich die Lage des Klägers bei einer Rückkehr nach Afghanistan - verglichen zur Lage der Gesamtbevölkerung - unter Ausschöpfung sämtlicher zur Verfügung stehender Hilfeleistungen derart schlecht gestaltet, dass ein Erreichen des Existenzminimums nicht sichergestellt wäre. Zur weiteren Begründung wird auf die obigen Ausführungen zur Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative verwiesen, mit denen die Umstände, weshalb von der Erreichung des Existenzminimum bei dem Kläger in Afghanistan auszugehen ist, bereits dargestellt worden sind.
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Eine Rückkehr des Klägers nach Afghanistan begründet auch kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach dieser Norm soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
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Der erfolgte Verweis auf die Bedrohung durch den Onkel ist unabhängig von dessen Glaubhaftigkeit nicht ausreichend, da dieser jedenfalls nicht landesweit besteht (s. o.). Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen oder anderweitigen Gründen ist mangels Vortrag für den Kläger ebenfalls nicht ersichtlich und ergibt sich im Fall des Klägers insbesondere auch nicht aus den unzureichenden humanitären Zuständen in Afghanistan (vgl. o.).
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Zur Vermeidung von Wiederholungen folgt das Gericht im Übrigen den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe nach § 77 Abs. 2 AsylG ab.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 Satz 1, 155 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 83 b AsylG.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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