Urteil vom Verwaltungsgericht Hamburg (1. Kammer) - 1 A 2610/17

Tenor

Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen ist.

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 22. Februar 2017, soweit entgegenstehend, verpflichtet, zugunsten des Klägers ein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans festzustellen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu drei Vierteln und die Beklagte zu einem Viertel.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt noch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutzes, höchsthilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistans und wendet sich gegen die Androhung der Abschiebung.

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Der Kläger wurde am 28. August 2015 vom Landesbetrieb Erziehung und Beratung der Freien und Hansestadt Hamburg als minderjähriger Einreisender erfasst. Sein Lebensalter schätzte das UKE, Zentrum für Diagnostik, Institut für Rechtsmedizin, am 10. September 2015 auf unter 18 Jahre und mindestens 16 Jahre. Der Kläger wurde am 28. Oktober 2015 mit dem Geburtsdatum 1. Januar 1999 und dem Geburtsort Kabul bei der zentralen Aufnahmeeinrichtung angemeldet. Das Amtsgericht Hamburg ordnete mit Beschluss vom 15. Februar 2016 die Vormundschaft an. Der Vormund stellte am 11. März 2016 einen Asylantrag. Bei der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 20. Januar 2017 gab der Kläger an: Er sei Tadschike und Sunnit. Er habe Afghanistan zwei Monate vor dem Fastenmonat Ramadan verlassen. Bis zur Ausreise habe er sich in (A.) B. im Distrikt Paghman der Provinz Kabul aufgehalten. Er habe als Kellner in einem Restaurant, „einer Art Teestube“, gearbeitet im Kabuler Stadtteil „Kampani“ und den Tee serviert. Er sei bis zur 8. Klasse zur Schule gegangen. Als sein Vater nicht mehr habe arbeiten können, habe er die Schule verlassen und begonnen zu arbeiten. Seinen Bruder C., zwei Jahre jünger, habe er „an der Grenze“ verloren. Er und sein Bruder seien sehr jung gewesen. Sie hätten in den letzten Jahren niemanden dort gehabt, weil ihr Vater verstorben sei. Es habe sich keiner um sie gekümmert, sie hätten zwar einen Onkel gehabt, der sei aber weit weg gewesen sei, in der Provinz Kandahar lebe, seine eigene Familie habe und mit seinem eigenen Leben beschäftigt sei. Als der Onkel mitbekommen habe, dass Kriminelle sie töten wollen, sei er gekommen, habe das Haus verkauft und einen Schlepper organisiert. Die Kriminellen hätten sie öfter eingeladen, nachts zu ihnen zu kommen, um etwas zu spielen oder zu essen. Sie hätten sie von zu Hause weglocken und unauffällig töten wollen.

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Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 22. Februar 2017 die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Asylanerkennung und subsidiären Schutz ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen und drohte die Abschiebung an. Sie führte aus: In den entscheidungserheblichen Themenkomplexen blieben die Äußerungen des Klägers stets an der Oberfläche. Es sei bereits nicht nachvollziehbar, wie der Kläger mit zwölf Jahren allein mit seinem damals zehnjährigen Bruder leben und den Lebensunterhalt habe bestreiten können. Wenn er die Schule tatsächlich acht Jahre lang besucht habe, dann hätte er mindestens vierzehn Jahre alt sein müssen.

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Der Kläger hat am 27. Februar 2017 Klage erhoben, zunächst auch mit dem Ziel der Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung bringt er insbesondere vor, seine Mutter sei (gerechnet ab 2017) vor elf Jahren verstorben, sein Vater vor sechs Jahren. In A. B. habe es Kriminelle gegeben, die versuchten hätten seinem Bruder und ihm das Haus wegzunehmen. Seinen Bruder habe er auf der Flucht nach Europa im Iran verloren. Zu seinem Onkel habe er keinen Kontakt mehr, nachdem er (gerechnet ab 2017) vor acht bis neun Monaten gesagt habe, wenn er seinen Bruder nicht finde, sei er für ihn gestorben. Nach vierjährigem Aufenthalt in Deutschland sei er bei einer Abschiebung zu den „Rückkehrenden“ zu zählen. Werde eine erhöhte Gefahrenlage festgestellt, müsse er als Zugehöriger zu einer bestimmten sozialen Gruppe aufgrund der drohenden Verfolgung als Flüchtling bzw. als subsidiär Schutzberechtigter anerkannt werden. Da er sich im europäischen Ausland über einen längeren Zeitraum aufgehalten habe und dort sozialisiert worden sei, werde nicht nur durch seine europäische Denkweise deutlich, sondern auch leicht nach außen erkennbar durch seinen europäischen Kleidungsstil und sein europäisch geprägtes Verhalten. Afghanische Staatsangehörige, die sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten und Afghanistan bereits als Minderjährige verlassen haben, seien bei Rückkehr in ihr Heimatland „beachtlich wahrscheinlich einer erhöhten Gefahr“ ausgesetzt Opfer von gezielter Gewalt durch die Taliban und/oder kriminelle Banden zu werden. Aufgrund ihrer Einstellungen und ihrer Lebensweise hätten sie eine deutlich abgegrenzte Identität, die von der afghanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet werde.

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Der Kläger beantragt unter Rücknahme der Klage im Übrigen,

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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids zu verpflichten, zu seinen Gunsten die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise ihm subsidiären Schutz zuzuerkennen, höchsthilfsweise nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans festzustellen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung den Kläger in Person angehört und zwei Beweisanträge des Klägers abgelehnt. Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind die Asylakte sowie die Ausländerakte und die sich aus der übermittelten Liste ergebenden Erkenntnismittel. Darauf sowie auf die Gerichtsakte einschließlich der Niederschrift der mündlichen Verhandlung wird wegen der Einzelheiten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

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Die Entscheidung trifft im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 87a Abs. 2, Abs. 3 VwGO der Berichterstatter an Stelle der Kammer.

II.

11

Die Einstellung des Verfahrens, soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, beruht auf § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO.

III.

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Die im Übrigen weiterverfolgte zulässige Klage ist in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zwar nicht im Hauptantrag und ersten Hilfsantrag, aber doch im letzten Hilfsantrag nach § 113 Abs. 5 und Abs. 1 Satz 1 VwGO begründet. Zu Recht hat es die Beklagte mit Bescheid vom 22. Februar 2017 abgelehnt, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft (hierzu unter 1.) oder subsidiären Schutz (hierzu unter 2.) zuzuerkennen, die er nicht beanspruchen kann. Jedoch hat die Beklagte zu Unrecht kein nationales Abschiebungsverbot festgestellt, worauf der Kläger einen Anspruch hat (hierzu unter 4.), und die Abschiebung angedroht, die der Kläger nicht erdulden muss (hierzu unter 5.).

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1. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (hierzu unter a)) kann der Kläger nicht beanspruchen (hierzu unter b)).

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a) Mit dem Asylantrag, über den das Bundesamt entscheidet, ist gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG auch internationaler Schutz beantragt. Internationaler Schutz umfasst nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und subsidiären Schutz. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt gemäß § 3 Abs. 1 AsylG voraus, dass ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen (Nr. 1) seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 2) außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Diese Verfolgung muss gemäß § 3c AsylG ausgehen von (Nr. 1) dem Staat, (Nr. 2) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder (Nr. 3) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, i.S.d. § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn ein Ausschlussgrund nach § 3 Abs. 2 oder 3 AsylG gegeben ist oder wenn interner Schutz nach § 3e AsylG zur Verfügung steht.

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b) Danach kann der Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht beanspruchen. Insbesondere drohte dem Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan nicht schon deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anknüpfend daran Verfolgung, dass er bei Rückkehr nach Afghanistan zu den nach Afghanistan Rückkehrenden oder einer Untergruppe der Rückkehrenden gehören würde. Weder besteht ein Verfolgungsgrund (hierzu unter aa)) noch droht eine Verfolgungshandlung (hierzu unter bb)).

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aa) Es fehlt bereits an einem Verfolgungsgrund i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, insbesondere an der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, an die eine Verfolgung des Klägers anknüpfen könnte. Der Kläger gehört einer bestimmten sozialen Gruppe (hierzu unter (1)) weder allgemein als Rückkehrer an (hierzu unter (2)) noch als Rückkehrer, der sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten und Afghanistan bereits als Minderjähriger verlassen hat (hierzu unter (3)), noch als Rückkehrer, der einer Verfolgung ausgesetzt ist (hierzu unter (4)).

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(1) Bei der Prüfung des Verfolgungsgrunds der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zu berücksichtigen, dass eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe gilt, wenn (Buchst. a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und (Buchst. b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Es wird auf die Betrachtung als gesellschaftlicher Fremdkörper abgestellt (Bergmann, in, Bergmann/Dienelt, 12. Aufl. 2018, AsylG § 3b Rn. 2). Das gemeinsame Merkmal muss die Gruppenmitglieder aus der Gesellschaft ausgrenzen (Marx, ZAR 2005, 177, 178). Dabei ist die Sichtweise des Akteurs i.S.d. § 3c AsylG, von dem Verfolgung ausgehen kann, auch insoweit maßgebend, wie nach § 3b Abs. 2 AsylG bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es unerheblich ist, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

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(2) Die Gruppe der nach Afghanistan Rückkehrenden bildet nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG keine bestimmte soziale Gruppe.

19

Es findet eine starke Remigration nach Afghanistan statt. Ausgehend vom Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (v. 2.9.2019, Stand: Juli 2019, S. 30) sind die Zahlen der Rückkehrer aus Iran auf hohem Stand (2017: 464.000; 2018: 775.000), während ein deutliches Nachlassen an Rückkehrern aus Pakistan zu verzeichnen ist (2017: 154.000; 2018: 46.000). Zu den Rückkehrern aus den Nachbarländern kommen Remigranten aus dem westlichen Ausland, darunter sowohl freiwillige als auch abgeschobene. Neben Deutschland schieben nach dem Bericht (S. 32) Australien, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Norwegen, Schweden, die Schweiz sowie weitere europäische Länder abgelehnte Asylbewerber afghanischer Herkunft nach Afghanistan ab. Hinzu kommt eine große Zahl an Binnenflüchtlingen.

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Das Feld der Rückkehrer nach Afghanistan ist so vielfältig wie es die Einwohner dieses Landes allgemein sind. Afghanistan ist nach dem benannten Bericht ein Vielvölkerstaat (S. 10). Die Bürger gehören ethnisch (Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken u.v.a.), sprachlich (Dari, Paschtu u.v.a.) und konfessionell (Sunniten, Schiiten, in geringstem Umfang Nichtmuslime) verschiedenen Gruppen an. Die ethnische, sprachliche oder konfessionelle Gruppenzugehörigkeit verläuft aber quer zur Zugehörigkeit zur Gruppe der Rückkehrer.

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Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Rückkehrer – d.h. der Umstand, eine längere oder kürzere Zeit im Ausland gelebt zu haben – mag mit Nachteilen verbunden sein sowohl hinsichtlich der Sicherheitslage als auch hinsichtlich der humanitären Lage des Einzelnen. Doch ist der Umstand, im Ausland gelebt zu haben, nur einer von vielen, der bei der prognostischen Einschätzung einer Gefährdung in Afghanistan zu berücksichtigen ist und tendenziell risikoerhöhend wirkt. Es gibt nicht den typischen Rückkehrer (der etwaig gefährdet wäre) im Gegensatz zu dem immer im Land Ansässigen (der etwaig nicht gefährdet wäre). Die Mitglieder der Gruppe der Rückkehrer haben keine angeborenen Merkmale gemein und keinen gemeinsamen unveränderbaren Hintergrund und teilen keine für die Identität oder das Gewissen bedeutsamen unverzichtbaren Merkmale oder Glaubensüberzeugung. Der Gruppe der Rückkehrer fehlt eine deutlich abgegrenzte Identität, nach der sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet würden. Aus Sicht der afghanischen Gesellschaft bilden sie keinen eigenen ausgrenzbaren Fremdkörper. Zunächst sehen die Rückkehrer sich derjenigen schwierigen humanitären Situation ausgesetzt, denen alle Einwohner Afghanistans, einschließlich der in Afghanistan verbliebenen ohne Remigrationshintergrund, ausgesetzt sind. Hinzutreten können spezifische Belastungen, die auf die spezifische Lebensgeschichte des einzelnen Rückkehrers zurückgeführt werden können. Im Einzelfall mag es ankommen auf das Alter bei der Ausreise aus Afghanistan, auf das Alter bei Wiedereinreise, auf die Dauer des Auslandsaufenthalts, auf die in Afghanistan, im persisch- oder paschtusprachigen Ausland oder in einer Exilcommunity erworbene Kenntnis einer Landessprache, auf die Vertrautheit mit den Gepflogenheiten in einem islamistisch geprägten Land, auf die Schul- oder Hochschulbildung, auf Kenntnisse und Fertigkeiten aus einem ausgeübten Beruf, auf vorhandene Finanzmittel, auf eine Gewandtheit in der Ausübung roher Gewalt und insbesondere auf in Afghanistan vorhandene Familie, Netzwerke und Beziehungen. Im Einzelfall mag der Remigrationshintergrund in seiner konkreten Gestalt die Waagschale der Risikobewertung in Richtung auf die Annahme einer Gefahr ausschlagen lassen. Der bloße Umstand des Auslandsaufenthalts vermag dies aber nicht. Die Lebensgeschichten der Rückkehrer sind zu mannigfaltig und verschieden, um eine gleichförmige Fortsetzung der Lebensgeschichten in Afghanistan erwarten zu können.

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(3) Der Untergruppe derjenigen Rückkehrer, die sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten und Afghanistan bereits als Minderjährige verlassen haben, gehört der Kläger zwar an. Es handelt sich aber ebenso wie bei der Obergruppe der Rückkehrer nicht um eine bestimmte soziale Gruppe. Die Mitglieder der Untergruppe haben keine angeborenen Merkmale gemein und keinen gemeinsamen unveränderbaren Hintergrund und teilen keine für die Identität oder das Gewissen bedeutsamen unverzichtbaren Merkmale oder Glaubensüberzeugung; ihnen fehlt eine deutlich abgegrenzte Identität, nach der sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet würden. Den Mitgliedern der benannten Untergruppe der Rückkehrer kann entgegen der Annahme des Klägers nicht pauschal aufgrund ihrer Einstellungen und ihrer Lebensweise eine deutlich abgegrenzte Identität zugewiesen werden, die von der afghanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würde. Dies gilt im Verhältnis sowohl zu den Eingesessenen oder den Binnenflüchtlingen als auch zu den Rückkehrern aus den Nachbarländern und denjenigen ohne vier Jahre Auslandsaufenthalt oder den volljährig emigrierten Rückkehrern. Vielmehr bewegen sich die Rückkehrer, die sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten und Afghanistan bereits als Minderjährige verlassen haben, innerhalb eines Kontinuums der afghanischen Einwohnerschaft, ohne dass ihnen ohne weiteres bestimmte identitätsstiftende Eigenschaften zugeschrieben würden.

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(4) Die Untergruppe derjenigen Rückkehrer, die bei Rückkehr verfolgt sind, kann keine bestimmte soziale Gruppe konstituieren. Um die Tatbestandsvoraussetzung eines Verfolgungsgrundes, auf dem die Verfolgung beruht, nicht leerlaufen zu lassen, kann die bestimmte sozialen Gruppe nicht unter Rückgriff darauf definiert werden, ob eine Verfolgung droht. Die bestimmte soziale Gruppe muss zumindest als gedankliches Konstrukt eines Akteurs bestehen, bevor der Akteur wegen der Zugehörigkeit zur bestimmten sozialen Gruppe deren Mitglieder verfolgt. Der Verfolgungsgrund „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ ist kein „Sammelbecken“ für alle Personen, die Verfolgung befürchten und darf deshalb nicht so ausgelegt werden, dass die anderen Verfolgungsgründe überflüssig werden (Marx, ZAR 2005, 177, 178). Nur eine an ein bestimmtes asylerhebliches Merkmal – Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – anknüpfende Verfolgung führt zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

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bb) Es droht dem Kläger auch keine Verfolgungshandlung als Rückkehrer im Allgemeinen oder im Besonderen als Rückkehrer, der Afghanistan als Minderjähriger verlassen und sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten hat.

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Dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten ersten Beweisantrag hat das erkennende Gericht nicht nachgehen müssen. Der Kläger hat insoweit beantragt

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„ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsachen einzuholen, dass afghanische Staatsangehörige, die sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten haben und Afghanistan bereits als Minderjährige verlassen haben, bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland beachtlich wahrscheinlich einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sind, da sie aufgrund ihrer Einstellungen und ihrer Lebensweise eine deutlich abgegrenzte Identität haben, die von der afghanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet wird und sie aufgrund ihrer Eigenschaft als Rückkehrer aus dem europäischen Ausland, Opfer von gezielter Gewalt durch die Taliban und/oder krimineller Banden zu werden.“

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Der Beweisantrag hat darauf abgezielt, die Risikobewertung für die Untergruppe der Rückkehrer, die sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten haben und Afghanistan bereits als Minderjährige verlassen haben, in die Hand eines Sachverständigen zu legen, etwa der Promotionsstudentin Friederike Stahlmann. Diese Beurteilung muss jedoch beim Gericht verbleiben. Zum Beweis können nur Tatsachen gestellt werden. Dies gilt auch für den Sachverständigenbeweis.

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Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die (Nr. 1) auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder (Nr. 2) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem die folgenden Handlungen gelten: (Nr. 1) die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, (Nr. 2) gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, (Nr. 3) unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, (Nr. 4) Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, (Nr. 5) Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, (Nr. 6) Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

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Die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG vorausgesetzte Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn sie dem Ausländer aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, BVerwGE 146, 67, juris Rn. 19). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, a.a.O., Rn. 32). Im Falle einer Vorverfolgung greift insoweit die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

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Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG begehrt, kann sich nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerwG, Urt. v. 21.4.2009, 10 C 11/08, NVwZ 2009, 1237, juris Rn. 13 m.w.N.) nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen.

31

Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes gibt es in Afghanistan keine systematische, staatlich organisierte Gewalt gegen die eigene Bevölkerung (S. 7). Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland von der afghanischen Gesellschaft werden zwar häufig misstrauisch wahrgenommen, sind aber keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (S. 31). Es liegen nur einzelne Berichte über versuchte Entführungen aufgrund der Vermutung, der Rückkehrer sei im Ausland zu Vermögen gekommen, vor.Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab.

32

Das Risiko durch einen Akteur i.S.d. § 3c AsylG verfolgt zu werden oder einen ernsthaften Schaden zu erleiden – sei es durch Talibangruppen, den Islamischen Staat oder andere kriminelle Banden – ist jedoch nicht für alle Rückkehrer, die sich für einen Zeitraum von vier Jahren im europäischen Ausland aufgehalten und Afghanistan bereits als Minderjährige verlassen haben, zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit verdichtet.

33

Es entspricht der obergerichtlichen Rechtsprechung, dass ein langjähriger Aufenthalt in Europa oder der Verdacht einer vermeintlichen „Verwestlichung“ allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Sicherung des existenziellen Lebensunterhalts diskutiert wird (OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 118 ff., VGH Mannheim, Urt. v. 12.10.2018, A 11 S 316/17, juris Rn. 321 ff.; Urt. v. 3.11.2017, A 11 S 1704/17, juris Rn. 394; OVG Saarlouis, Beschl. v. 20.5.2019, 2 A 194/19, juris Rn. 11). Demnach hängt es maßgeblich von dem Auftreten und den Erfahrungen des einzelnen Rückkehrers aus Europa ab, ob er als verwestlicht wahrgenommen wird. Grundsätzlich wird es ihm zumutbar sein, zurückhaltend aufzutreten, um Stigmatisierungen zu vermeiden, zumal sich ein Rückkehrer auch im Westen auf eine für ihn fremde Gesellschaft einstellen musste und insoweit bereits Erfahrungen gesammelt hat. Zudem ist angesichts der hohen Zahl an Rückkehrern und der ethnischen Vielfalt in der Hauptstadt Kabul eine geringere Stigmatisierung als auf dem Land zu erwarten. Soweit der Kläger vorbringt, dass die Rückkehr mit einem großen Statusverlust einhergehe, der sich auf die Chancen auf dem Arbeitsmarkt auswirke und Rückkehrende von ihren Familien stigmatisiert würden und dort keine soziale Absicherung erhielten, betrifft dies allenfalls ebenso nur die humanitäre Lage bei Rückkehr.

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Der Kläger hat über die vom Gericht benannten Erkenntnismittel hinaus weitere benannt und ausgeführt, dass für Rückkehrende das Risiko der gezielten Verfolgung bestehe, die durch ein Stigma des Lebens im Westen begründet sei. Es sei über Fälle berichtet, in denen Menschen, einschließlich Rückkehrenden aus dem westlichen Ausland, die als „verwestlicht“ wahrgenommen worden seien, gefoltert oder hingerichtet worden seien, nachdem sie der Unterstützung der internationalen Kräfte oder der Spionage verdächtigt worden seien. Rückkehrende seien das Ziel von Tötungen, Angriffen und Geiselnahmen durch die Taliban geworden. Das Entführungsrisiko sei bei Rückkehrenden aus Europa besonders hoch.

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Für Rückkehrer nach Afghanistan mag es – wie für im Land ansässige Afghanen – im Einzelfall zu einer Verfolgung oder zu einem ernsthaften Schaden kommen. Jedoch hat das Gericht keine Grundlage für die Annahme, eine Verfolgung oder Gefährdung sei ohne Hinzutreten weiterer Umstände für alle diejenigen Rückkehrer beachtlich wahrscheinlich, die sich vier Jahre im westlichen Ausland aufgehalten haben und als Minderjährige Afghanistan verlassen hatten.

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2. Der Kläger kann subsidiären Schutz (hierzu unter a)) weder wegen drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (hierzu unter b)) noch wegen einer Bedrohung als Zivilperson in einem bewaffneten Konflikt beanspruchen (hierzu unter c)).

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a) Subsidiärer Schutz setzt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG voraus, dass der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (Nr. 1) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, (Nr. 2) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder (Nr. 3) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Die Gefahr eines ernsthaften Schadens muss gemäß § 4 Abs. 3 AsylG von Akteuren entsprechend § 3c Nr. 1 bis 3 AsylG ausgehen. Nicht auf bestimmte Handlungen eines solchen Akteurs zurückführbare individuelle Gefahren sind deshalb nicht geeignet, subsidiären Schutz zu begründen. Anzulegen ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, bei einer Vorgefährdung unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung. Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 und 2 i.V.m § 3e AsylG wird subsidiärer Schutz dem nicht zuerkannt, wer internen Schutz in Anspruch nehmen kann, d.h. in einem Teil des Herkunftslandes keine Gefahr eines ernsthaften Schadens oder Zugang zu Schutz vor einem ernsthaften Schaden besteht und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

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b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch einen Akteur nach §§ 4 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2, 3c AsylG drohen dem Kläger nicht. Der Kläger ist nicht vorgefährdet ausgereist (hierzu unter aa)). Wäre er vorgefährdet ausgereist, so könnte sich eine vorherige Gefahr bei Rückkehr nicht fortsetzen (hierzu unter bb)). Eine neue Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, wird durch die Ausreise als Minderjähriger sowie den mehrjährigen Aufenthalt im westlichen Ausland nicht vermittelt (hierzu unter cc)).

39

aa) Zwar legt das Gericht zugrunde, dass der Kläger ist seiner Heimat zuletzt einem erhöhten Risiko ausgesetzt gewesen ist, durch Kriminelle an Leib, Leben, sexueller Selbstbestimmung oder Grundeigentum Schaden zu leiden. Nach seinen glaubhaften Angaben stammt der Kläger aus dem Dorf B. im Distrikt Paghman der Provinz Kabul. Seine Mutter hat er etwa 2003 bis 2006 (elf Jahre vor 2017 oder sechzehn Jahre vor 2019) verloren und seinen Vater nach Arbeitsunfähigkeit etwa 2009 bis 2011 (sechs Jahre vor 2017 oder zehn Jahre vor 2019). Der Kläger und sein zwei Jahre jüngerer Bruder C. sind sodann als Waisen im elterlichen Haus aufgewachsen. Das Haus hat drei Zimmer, im Hof des Hauses standen Bäume und es gab die Möglichkeit Kräuter zu pflanzen. Es gab ein mit Anbau von Kartoffeln, Zwiebel, Knoblauch, Auberginen zur Ernährung lediglich einer Familie hinreichendes Feld, das der Vater zu seinen Lebzeiten bewirtschaftet hatte. Gekümmert haben sich um die verwaisten Jungen Nachbarn und als nächster männlicher Verwandter ein Onkel mütterlicherseits. Dieser hat sie besucht, vermochte sie wegen eigener Familie nicht zu unterhalten und war als Landwirt an Grund und Boden in Kandahar gebunden. Die Schule besucht hat der Kläger bis zur 8. Klasse, nach dem Tod seines Vaters aber nicht mehr regelmäßig. Nach dem Tod war er nicht mehr ständig in seinem Heimatdorf. Diese Angabe ist sinnhaft verknüpft damit, dass er nach dem Tod des Vaters seinen Lebensunterhalt in einem Kabuler Stadtteil in einem Chai Khana verdient hat, wo es Tee, Kaffee und auch warme Speisen gegeben hat sowie ein Hotel. Wegen seines Vaters hatte man ihnen aus Mitleid diese Beschäftigung gegeben. Soweit er auf einem Feld gearbeitet und beispielsweise Tomaten geerntet hatte, wie er auf Nachfrage der Beklagtenvertreterin in der mündlichen Verhandlung glaubhaft bestätigt hat, dann auf dem eigenen Feld, auf dem eigenen Hof des Hauses. In ihrem Heimatdorf waren die Jungen als Waisen aufgrund ihrer Minderjährigkeit abstrakt einem erhöhten Risiko ausgesetzt, Opfer von Kriminellen zu werden, die es auf sie in Person als Objekt sexuellen Missbrauchs („bacha bazi“ oder „Knabenspiel“) oder auf das Haus als Wertgegenstand (Landraub) abgesehen hatten.

40

Die zugrundeliegenden Angaben des Klägers ermangeln nicht bereits mit Rücksicht auf ihre zeitliche Einordnung der Plausibilität. Der Kläger kann in Übereinstimmung mit seinen Angaben beim Tod des letzten verbliebenen Elternteils im Jahr 2011 bereits acht Jahre die Schule besucht haben und dem Kindesalter mit immerhin 14 Jahren gerade entwachsen gewesen sein. Denn ausgehend von der am 10. September 2015 vom UKE vorgenommenen Altersschätzung ist er zwischen dem 11. September 1997 und dem 10. September 1999 geboren. Der Kläger hat keine Kenntnis über sein wahres Geburtsdatum, er weiß nur, dass die Beklagte das Geburtsdatum 1. Januar 1999 annimmt. Dies hat er auf Nachfrage der Beklagtenvertreterin in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Die Frage des Gerichts, wieviel Zeit zwischen dem Tod seines Vaters und dem Verkauf des Hauses gewesen sei, hat der Kläger allerdings unbestimmt beantwortet, dass er es nicht mehr genau wüsste, „ein oder zwei Jahre“. Die von ihm angebotene Erklärung, es sei ihm damals sehr schlecht gegangen und er habe sich um sich selbst Sorgen gemacht, ist im Hinblick auf einen elternlosen Jugendlichen verständlich. Unerheblich ist für die Glaubhaftigkeit des Vortrags, nach dem Tod des Vaters statt auf dem eigenen Feld noch eine in Jahren zu bemessene Zeit in dem Chai Khana gearbeitet zu haben, ob dies nun ein oder vier Jahre gewesen sind.

41

Doch hat der Kläger nicht substantiiert dazu vorgetragen, dass er und sein jüngerer Bruder vor der Ausreise im Heimatdorf konkret durch Straftaten verletzt worden wären. Bei der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat er vorgebracht, dass sein Onkel mitbekommen habe, dass Kriminelle seinen Bruder und ihn hätten töten wollen. Die Kriminellen hätten seinen Bruder und ihn öfter eingeladen, nachts zu ihnen zu kommen, um etwas zu spielen oder zu essen. Sie hätten sie von zu Hause weglocken und unauffällig töten wollen. Der Kläger hat sich in der mündlichen Verhandlung dahingehend eingelassen, dass er als es „zu diesem Vorfall“ gekommen sei, aufgehört habe die Schule zu besuchen. Auf gerichtliche Nachfrage, was das für ein Vorfall gewesen sei, hat er lediglich bekundet, es habe mit dem Tod seines Vaters zu tun. Sie hätten Angst vor fremden Menschen gehabt und bei Nachbarn geschlafen. Letztes ist ausgehend von dem geschilderten erhöhten abstrakten Kriminalitätsrisiko nachvollziehbar, lässt aber nicht auf einen gegenwärtigen Angriff durch bestimmte Kriminelle schließen. Auf gerichtliche Nachfrage, ob es noch irgendeinen Vorfall nach dem Tod seines Vaters gegeben habe, hat der Kläger lediglich geantwortet, sie seien sehr jung gewesen und es habe ältere „Jungs“ gegeben, die sie gequält und schikaniert, „Sachen“ mit ihnen angestellt hätten und sie „missbrauchen“ hätten wollen. Die Nachbarn hätten sie gewarnt, sie müssten „aufpassen vor diesen Jungs“, da diese „schon viel mit anderen Jungs angestellt“ hätten, „sexuell auch, alles was sie wollten hätten sie angestellt“. Damit hat der Kläger nur über eine von den Nachbarn vorgenommene abstrakte Risikoeinschätzung berichtet.

42

bb) Unabhängig davon sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass er im Fall der Rückkehr erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht würde. Der Kläger kann nach Vollendung der Geschlechtsreife als Mann von mindestens 20 Jahren nicht mehr Opfer sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen im „bacha bazi“ oder „Knabenspiel“ werden. Nachdem sein Onkel mütterlicherseits Elternhaus und -hof veräußert hat, kann der Kläger zukünftig auch nicht mehr Opfer von Landraub werden.

43

cc) Eine neue Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, wird nicht bereits durch die Ausreise des Klägers als Minderjähriger sowie seinen mehrjährigen Aufenthalt im westlichen Ausland vermittelt. Es fehlt insoweit an einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit (s.o. 1. b) bb)).

44

c) Der Kläger ist auch keiner von einem Akteur ausgehenden ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß §§ 4 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 3, 3c AsylG ausgesetzt. In diesem Rahmen ist zu prüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende – und damit allgemeine – Gefahr in der Person des Ausländers so verdichtet hat, dass sie eine ernsthafte individuelle Bedrohung darstellt. Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann auch dann, wenn individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 17.11.2011, 10 C 13/10, NVwZ 2012, 454, juris Rn. 17 ff.) ein Risiko von ungefähr 1 : 800, in einem Jahr verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt eingestuft. Bezüglich der Gefahrendichte ist bei einem nicht landesweiten bewaffneten Konflikt auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die der Ausländer typischerweise zurückkehren wird (BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 13), im Falle des Klägers die Heimat- und zugleich Hauptstadtprovinz Kabul.

45

Es kann dahinstehen, ob in Afghanistan oder auch nur in der Provinz Kabul ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht. Jedenfalls erreicht der einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt in dieser Provinz kein solches Niveau, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in diesen Regionen einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Die allgemeine Sicherheitslage in der Provinz Kabul ist nicht von einem so außergewöhnlich hohen Gefahrengrad gekennzeichnet, dass allein deshalb die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erfüllt wären. Bei quantitativer Betrachtung dürfte die Gefahr, in dieser Provinz Opfer willkürlicher Gewalt infolge des dort herrschenden Konfliktes zu werden, als gering einzuschätzen sein. Nach Angaben von UNAMA hat es im Jahr 2018 in der Provinz Kabul insgesamt 1.866 zivile Opfer (Tote und Verletzte) gegeben (UNAMA, Protection of civilians in armed conflict. Annual Report 2018, Stand: Februar 2019, S. 68). Legt man eine geschätzte Einwohnerzahl der Provinz Kabul von 5.029.850 zugrunde (vgl. zu den geschätzten Einwohnerzahlen für das Jahr 1398, d.h. 2019/2020 Central Statistics Organization, Afghanistan), betrug die Wahrscheinlichkeit, als Zivilist in Kabul getötet oder verletzt zu werden, gerundet 0,037 %. Dieser Wert liegt deutlich unterhalb der Schwelle der von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit als entfernt eingestuften Gefahr von 1:800 (0,125 %). Selbst wenn von einer erheblichen Dunkelziffer bei der Anzahl getöteter und verletzter Zivilpersonen ausgegangen werden sollte, wäre eine beachtliche Wahrscheinlichkeit nicht anzunehmen.

46

3. Hingegen kann der Kläger von der Beklagten beanspruchen, für ihn ein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans festzustellen. Da der Kläger nicht als Asylberechtigter anerkannt wird und ihm internationaler Schutz nicht zuerkannt wird, hat die Beklagte nach § 31 Abs. 3 AsylG festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Da die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach diesen Vorschriften vorliegen, hat die Beklagte dies festzustellen. Einer Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG gegeben sind, bedarf es nicht, weil die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots einen einheitlichen Streitgegenstand bildet (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.9.2011, 10 C 14.10, NVwZ 2012, 240, juris Rn. 9) und zumindest die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG zugunsten des Klägers erfüllt sind.

47

Ein nationales Abschiebungsverbot kann sich aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer drohenden unmenschlichen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung herleiten (hierzu unter a)). Dies ist hier vor dem Hintergrund der allgemeinen humanitären Verhältnisse im Zielstaat (hierzu unter b)) wegen der besonderen persönlichen Verhältnisse des Klägers der Fall (hierzu unter c)).

48

a) Ein Ausländer darf gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Zu prüfen sind insoweit lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 35). Der Verweis auf Abschiebungsverbote, die sich aus der Anwendung der EMRK ergeben, umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.d. Art. 3 EMRK droht (BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, a.a.O., Rn. 36). Nach dieser Vorschrift darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.

49

Die Abschiebung durch einen Konventionsstaat kann dessen Verantwortlichkeit nach der Konvention begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. In einem solchen Fall ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung, die Person nicht in dieses Land abzuschieben (EGMR, Urt. v. 7.7.1989, Nr. 1/1989/161/217, NJW 1990, 2183 Rn. 90 f. – Soering/Vereinigtes Königreich; Urt. v. 28.2.2008, Nr. 37201/06, NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 – Saadi/Italien). Erforderlich ist nach Art. 3 EMRK eine konkrete Gefahr („real risk“) der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung (EGMR, Urt. v. 17.7.2008, Nr. 25904/07, juris Rn. 40 – NA/Vereinigtes Königreich). Dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, BVerwGE 146, 67, juris Rn. 32 m.w.N.), d.h. der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Beschl. v. 19.3.2014, 10 B 6/14, NVwZ 2014, 1039, juris Rn. 9).

50

Zwar setzt die Gewährung subsidiären Schutzes wegen drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3, Abs. 3 Satz 1 und 2 AsylG voraus, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem Akteur nach dem Katalog des § 3c AsylG ausgeht. Als Akteur in Betracht kommen insoweit (Nr. 1) der Staat, (Nr. 2) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder (Nr. 3) nichtstaatliche Akteure, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, i.S.d. § 3d AsylG Schutz vor einem ernsthaften Schaden zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Nicht auf bestimmte Handlungen eines solchen Akteurs zurückführbare individuelle Gefahren sind deshalb nicht geeignet, subsidiären Schutz zu begründen. Insbesondere dürften die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände in Afghanistan keinem solchen Akteur zuzurechnen sein (VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, A 11 S 1704/17, juris Rn. 85 ff.).

51

Doch ist hinsichtlich der Frage, ob schlechte humanitäre Verhältnisse eine durch Art. 3 EMRK verbotene Behandlung darstellen, so dass ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG begründet ist, im Einzelnen zu differenzieren:

52

Einerseits sind dann, wenn die schlechten humanitären Bedingungen ganz oder überwiegend auf staatliches Handeln bzw. im Falle des bewaffneten Konflikts auf Handlungen der Konfliktparteien oder auf Handlungen anderer Akteure zurückzuführen sind, die dem Staat mangels ausreichenden Schutzes zurechenbar sind, für die Beurteilung der Intensität der „Behandlung“ bei einem Schutzsuchenden, der völlig abhängig von staatlicher Unterstützung ist, die Fähigkeit, im Zielgebiet seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft zu decken, seine Verletzlichkeit durch Misshandlungen und die Aussicht auf Verbesserung innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens maßgeblich (EGMR, Urt. v. 21.1.2011, Nr. 30696/09, NVwZ 2011, 413, Rn. 254 – M.S.S./Belgien und Griechenland; Urt. v. 28.6.2011, Nr. 8319/07 und Nr. 11449/07, NVwZ 2012, 681, Rn. 283 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich; daran anknüpfend VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, A 11 S 1704/17, juris Rn. 168; Urt. v. 24.7.2013, A 11 S 697/13, juris Rn. 80).

53

Andererseits können dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt, wenn die gegen die Abschiebung sprechenden Gründe „zwingend“ sind (EMRK, Urt. v. 28.6.2011, a.a.O., Rn. 280; BVerwG, Urt. v. 13.6.2013, 10 C 13/12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 24 f.; VGH Mannheim, Urt. v. 24.7.2013, a.a.O., Rn. 82; Urt. v. 3.11.2017, a.a.O., Rn. 169). Daraus, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Urt. v. 13.12.2016, Nr. 41738/10, NVwZ 2017, 1187 Rn. 187, 189 – Paposhvili/Belgien) nunmehr ausdrücklich wiederholt auf die allgemeinen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung hinweist, auf deren Hintergrund die besondere Lage des Betroffenen zu beurteilen ist, wird hinreichend deutlich, dass außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale auch solche sein können, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden (VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, a.a.O., Rn. 171), so dass eine ganze Bevölkerungsgruppe betroffen ist (VGH München, Urt. v. 23.3.2017, 13a B 17.30030, AuAS 2017, 175, juris Rn. 15).

54

Dabei können Ausländer aus der Konvention kein Recht auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen (EGMR, Urt. v. 27.5.2008, Nr. 26565/05, NVwZ 2008, 1334 Rn. 42 – N/Vereinigtes Königreich; vgl. BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, a.a.O., Rn. 23). Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt danach ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (VGH München, Beschl. v. 30.9.2015, 13a ZB 15.30063, juris Rn. 5), das nur unter strengen Voraussetzungen erreicht wird (OVG Münster, Beschl. v. 13.5.2015, 14 B 525/15.A, juris Rn. 15). Kann der Rückkehrer durch Gelegenheitsarbeiten ein kümmerliches Einkommen erzielen und sich damit ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren, rechtfertigt Art. 3 EMRK keinen Abschiebungsschutz (BVerwG, Beschl. v. 25.10.2012, 10 B 16/12, InfAuslR 2013, 45, juris Rn. 10).

55

Gleichwohl können bei entsprechenden Rahmenbedingungen schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen u.s.w. (VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, a.a.O., Rn. 172). Hinsichtlich der Gefahrprognose ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (EGMR, Urt. v. 28.6.2011, a.a.O., Rn. 265, 301, 309; BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 26). Dieser Ort ist im Fall einer Abschiebung nach Afghanistan Kabul (VGH Mannheim, Urt. v. 3.11.2017, a.a.O., Rn. 192 f.).

56

Diese Grundsätze sind auch anzuwenden, wenn die Rückkehr einer Familie mit minderjährigen Kindern in Rede steht. Jedoch ist dann zum einen grundsätzlich die gesamte Familie in die Bewertung mit einzubeziehen (VGH München, Urt. v. 21.11.2014, 13a B 14.30284, juris Rn. 21) und zu prüfen, ob die Familienmitglieder im Zielstaat zusammen überleben können. Insbesondere kann aus dem besonderen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG folgen, dass auch im Asylverfahren Familienangehörige nicht getrennt zu beurteilen sind (BVerfG, Kammerbeschl. v. 5.6.2013, 2 BvR 586/13, NVwZ 2013, 1207, juris Rn. 15). Grundsätzlich ist eine Rückkehr im Familienverband zu unterstellen (BVerwG, Urt. v. 8.9.1992, 9 C 8/91, BVerwGE 90, 364, juris Rn. 14). Zum anderen ist zu beachten, dass der Schutz für Asylbewerber nach Art. 3 EMRK umso wichtiger ist, wenn die Betroffenen Kinder sind, weil sie besondere Bedürfnisse haben und extrem verwundbar sind; das gilt auch, wenn die Kinder als Asylbewerber von ihren Eltern begleitet sind (EGMR, Urt. v. 4.11.2014, Nr. 29217/12, NVwZ 2015, 127, Rn. 119 – Tarakhel/Schweiz).

57

b) Die humanitären Verhältnisse in Afghanistan bieten folgendes Bild:

58

Ausgehend vom Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (v. 2.9.2019, Stand: Juli 2019) gestaltet sich die Situation für Rückkehrer wie folgt: Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Für Rückkehrer gilt dies in besonderem Maße (S. 28). Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenzpersonal, Medikamenten, Management und Infrastruktur begrenzt, die Qualität der Gesundheitsbehandlung ist stark einkommensabhängig (S. 29 f.). Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar, der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab (S. 31).

59

Nach den Angaben des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender v. 30.8.2018, S. 35 f.) stellt der fortwährende Konflikt in Afghanistan nach wie vor eine große Belastung für die humanitäre Situation im Land dar. Die in Folge des allgemein gestiegenen Sicherheitsrisikos begrenzte Präsenz humanitärer Hilfsorganisationen in den vom Konflikt betroffenen Gebieten behindert insbesondere den Zugang zu lebensrettender Unterstützung für die besonders schutzbedürftigen Teile der Bevölkerung. Jahrzehnte der Konflikte und wiederkehrender Naturkatastrophen haben die afghanische Bevölkerung in einen Zustand großer Schutzbedürftigkeit versetzt und die Überlebensmechanismen vieler Menschen erschöpft. Ende 2017 wiesen 3,3 Millionen Afghanen akut humanitären Bedarf im Jahr 2018 auf. Über 1,6 Million Kinder leiden Berichten zufolge an akuter Mangelernährung. 45 Prozent der Bevölkerung haben keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Zu der mit der Prüfung einer Gefahr nach Art. 3 EMRK verwandten Prüfung einer zumutbaren internen Schutzalternative ist ausgeführt (S. 107, 109), dass im Einzelfall die persönlichen Umstände des Antragstellers einschließlich seines Alters, Geschlechts, Gesundheit, Behinderung, familiärer Situation und Beziehungen sowie seine Ausbildung und sein beruflicher Hintergrund zu berücksichtigen sind. Zu fragen ist nach den Möglichkeiten für ein wirtschaftliches Überleben in würdigen Umständen. Zu achten ist insbesondere auf den Zugang zu Unterkunft, die Verfügbarkeit grundlegender Infrastruktur und das Vorhandensein von Erwerbsmöglichkeiten. Dabei ist spezifisch in Bezug auf Afghanistan belegt die Wichtigkeit der Verfügbarkeit und des Zugangs zu sozialen Netzwerken, das Vorhandensein von Mitgliedern der erweiterten Familie des Antragstellers oder von Mitgliedern seiner ethnischen Gruppe. In dieser Hinsicht kann die Gegenwart von Mitgliedern der selben ethnischen Gruppe nicht allein als Beweis dafür dienen, dass der Antragsteller befähigt wäre, eine erhebliche Unterstützung von solchen Gemeinschaften zu erhalten; vielmehr würde eine solche Unterstützung im Allgemeinen eine besondere vorbestehenden soziale Beziehungen zwischen dem Antragsteller und den einzelnen Mitgliedern der in Rede stehenden ethnischen Gemeinschaft voraussetzen.

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Das UNHCR (S. 125) erachtet eine interne Schutzalternative nur dann als zumutbar, wenn die erweiterte Familie oder die ethnische Gemeinschaft der Person willens und in der Lage sind, diese in der Praxis tatsächlich zu unterstützen. Einzige Ausnahme von der Anforderung der externen Unterstützung sind alleinstehende leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne spezifische Vulnerabilitäten. Solche Personen können unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft leben.

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Nach einem Bericht des European Asylum Support Office (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan Networks, Februar 2018) ist der afghanische Staat schwach und sind Netzwerke und nicht der Staat entscheidend für die Sicherheit, den Schutz, die Unterstützung und die Pflege vulnerabler Personen. Die Treue zu Familie, Clan und örtlichen Anführern ist stärker als die Bindung an den Staat oder die Behörden. Ein Netzwerk kann nur fortbestehen, wenn alle Teilnehmer dazu beitragen, alle müssen geben und nehmen (S. 10). Die erweiterte Familie ist die Grundsäule der afghanischen Gesellschaft. Die wechselseitige Verpflichtung zu Hilfe und Unterstützung innerhalb der erweiterten Familie ist stark (S. 13). Nach der patrilinearen Gesellschaftsstruktur Afghanistans gehören Kinder zur Familie ihres Vaters. Die Familie der Mutter kann aber zum individuellen Netzwerk gehören (S. 14). Das ethnische Zugehörigkeitsgefühl ist stark (S. 16). Allein aufgrund der gleichen ethnischen Zugehörigkeit kann jedoch keine Unterstützung erwartet werden (S. 16 f.). Zugang zum Arbeitsmarkt ist ein entscheidender Faktor für eine erfolgreiche Wiedereingliederung. Der Arbeitsmarkt ist herausfordernd und die Arbeitslosenquote ist hoch. Auch für die hochgebildeten und gut qualifizierten ist es schwer, ohne Netzwerk oder Empfehlung einen Arbeitgeber zu finden. Vetternwirtschaft ist weit verbreitet und die meisten höheren Positionen in Verwaltung und Gesellschaft werden auf Grundlage von Beziehungen oder Bekanntschaft vergeben. Aus Sicht eines Arbeitgebers ist es praktisch, jemanden aus dem eigenen Netzwerk anzustellen, weil er genau weiß, was er bekommt. Der Schlüssel, um eine Beschäftigung zu erlangen, liegt in den persönlichen Beziehungen und Netzwerken, denen Arbeitgeber mehr Wert beimessen als formalen Qualifikationen (S. 27 f.). Ein ungelernter Tagelöhner verdient in Kabul etwa 4,3 $ am Tag. Eine Wohnung kostet etwa 400 bis 600 $ Kaltmiete im Monat (S. 28).

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Nach Einschätzung des Gerichts verdichten sich die aus den schlechten humanitären Verhältnissen folgenden Risiken bei Rückkehr nach Afghanistan zumindest in zwei Fällen nicht zu einer beachtlichen Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Im Einzelnen:

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Zum einen gilt dies dann, wenn ein effektives Netzwerk im Heimatland verfügbar ist, das den Betroffenen voraussichtlich beim Zugang zu Obdach und Erwerb unterstützt. Maßgeblich sind insoweit die bei einer Rückkehr verfügbaren familiären, verwandtschaftlichen oder sonstigen sozialen Beziehungen. Je stärker noch die soziale Verwurzelung des Rückkehrers oder je besser er mit den Lebensverhältnissen vertraut ist, desto leichter und besser kann er sich in die jetzige Situation in Afghanistan wieder eingliedern und dort jedenfalls ein Existenzminimum sichern.

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Zum anderen besteht bei Rückkehr dann nicht bereits wegen der humanitären Verhältnisse eine erhebliche Gefahr unmenschlicher Behandlung, wenn der Betroffene keine besondere Vulnerabilität aufweist. Die allgemeine Lage ist dort nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne Weiteres eine Verletzung des Art. 3 EMRK wäre (BVerwG, Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15/12, BVerwGE 146, 12, juris Rn. 26; VGH Mannheim, Urt. v. 11.4.2018, A 11 S 924/17, juris Rn. 336; VGH München, Beschl. v. 8.11.2017, 13a ZB 17.30615, juris Rn. 5; vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 4.1.2018, 9 LA 160/17, juris Rn. 28). Insbesondere ist die Abschiebung nach Afghanistan dann zulässig, wenn es sich um einen jungen Mann handelt, der eine Landessprache beherrscht, mit den Verhältnissen in dem Land seiner Staatsangehörigkeit vertraut ist, in seiner Leistungsfähigkeit nicht beschränkt und durch Unterhaltspflichten gegenüber Kindern nicht belastet ist. Auch unter Berücksichtigung des Berichts des Auswärtigen Amtes und der weiteren Erkenntnisquellen ist nicht ersichtlich, dass Rückkehrer ohne besondere Vulnerabilität ihre Existenz in Afghanistan voraussichtlich nicht sichern können. Für eine gegenwärtige Hungersnot etwa in Kabul findet sich in den Erkenntnisquellen kein Anhalt (anders als etwa für die Hungersnot im Hazarajat im Winter 1997, dazu Stahlmann, Gutachten an das VG Wiesbaden v. 28.3.2018, S. 24, 330). Nach dem benannten Bericht des Auswärtigen Amtes führen neben Deutschland mindestens zehn weitere dort benannte westliche Staaten Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber nach Afghanistan durch, wobei aus Deutschland regelmäßig einmal im Monat Charter-Rückführflüge stattfinden. Es liegen keine Erkenntnisse vor, dass abgeschobene Personen ohne Vulnerabilität nicht durch Gelegenheitsarbeiten ein kümmerliches Einkommen erzielen und sich damit ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren könnten.

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c) Ausgehend davon steht einer Abschiebung des Klägers nach Afghanistan gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG entgegen, dass ihm unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK dort mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche Behandlung droht. Im Fall einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan würden sich die aus den schlechten humanitären Verhältnissen folgenden Risiken zur beachtlichen Gefahr einer unmenschlichen Behandlung verdichten. Ihm steht existenzielle Not wegen wahrscheinlicher Erwerbs- und Obdachlosigkeit bevor. Voraussichtlich könnte er nicht einmal ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren. Im Einzelnen:

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Der Kläger bedürfte bei einer Rückkehr nach Afghanistan der Unterstützung durch ein dazu fähiges und bereites Netzwerk. Er gehört letztlich nicht zum Kreis der leistungsfähigen jungen gesunden Männer. Der Kläger hat sein Herkunftsland im Frühjahr 2015 als Jugendlicher verlassen. Ausgehend von einem geschätzten Geburtsdatum zwischen dem 11. September 1997 und dem 10. September 1999 war er zwischen 15 und 17 Jahre alt. Als Vollwaise und älterer Bruder musste er schon in jungen Jahren wirtschaftlich und sozial weitgehend – aber gerade nicht vollständig – auf eigenen Beinen stehen. Seine Unterkunft hat er nicht selbst erwirtschaftet, er hatte sie in Gestalt des Hauses von seinen verstorbenen Eltern geerbt. Seine Verpflegung hat er, sofern Nachbarn ihn nicht unterstützt haben, im Chai Khana erwirtschaftet, aber diese Tätigkeit aus Mitleid wegen seines Vaters erhalten. Die wichtigste Lebensentscheidung – zur Ausreise – hat nicht der Kläger selbst, sondern sein Onkel mütterlicherseits getroffen und für deren Umsetzung Sorge getragen. Er hat gesagt, dass der Kläger und sein Bruder ausreisen sollten. Er hat das Haus veräußert und vom Erlös die Ausreise finanziert.

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Bei Rückkehr würde der Kläger nicht mehr über das Elternhaus als Unterkunft verfügen, nicht mehr über die aus Mitleid erhaltene Beschäftigung und nicht mehr über die Unterstützung durch den Onkel mütterlicherseits. Nach seinen glaubhaften schriftsätzlichen und in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben kann er vom Onkel mütterlicherseits keine Hilfe mehr erwarten, da dieser ihn wegen des Verlusts des jüngeren Bruders des Klägers bzw. Neffen des Onkels den Kontakt abgebrochen hat.

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Dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gestellten zweiten Beweisantrag hat das erkennende Gericht nicht nachgehen müssen. Zum einen hat er nicht auf den Beweis von Tatsachen abgezielt, sondern darauf, die Beurteilung der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots in die Hand eines Sachverständigen zu legen. Zum anderen erkennt das Gericht ohnehin auf ein nationales Abschiebungsverbot.

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5. Die Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Beklagte ist zum Erlass der Abschiebungsandrohung ausgehend von einem nationalen Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG nicht befugt.

IV.

70

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 83b AsylG, § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2, Abs. 2 VwGO. Die Kostenteilung bei Teilobsiegen im Asylverfahren lehnt sich an die höchstrichterliche Rechtsprechung (BVerwG, Beschl. v. 29.6.2009, 10 B 60/08, juris Rn. 9) an. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.

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