Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 7 K 4608/13
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Klägerin.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
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Tatbestand
2Der am 00.00.1961 geborenen Klägerin wurden aufgrund eines Antrages vom 20.11.1972 mit Bescheid vom 04.02.1974 Leistungen nach dem Gesetz über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ bewilligt. Als conterganbedingte Fehlbildungen wurden in dem Bescheid die folgenden Körperschäden aufgeführt:
3Daumenschaden zweigliedrig, zweiseitig
4Langfingerschaden, zweiseitig
5Mittelschwerer Unterarm- mit Ellenbogenschaden, einseitig
6Schwerer Unterarm- mit Ellenbogenschaden, einseitig
7Rechte Hüfte pauschal
8Linke Hüfte pauschal
9Wirbelsäule pauschal.
10Für diese Schädigung wurde auf der Grundlage einer orthopädischen Punktebewertung von Prof. Dr. E. N. vom 21.04.1973 mit 132,5 Punkten (alte Bewertung) eine Gesamtpunktzahl von 26,50 nach der aktuellen medizinischen Punktetabelle festgesetzt.
11Im Jahr 1979 wurde im Zusammenhang mit der erforderlichen Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Überprüfung der conterganbedingten Körperschäden der Klägerin durch Prof. Dr. E. N. durchgeführt. Hierbei revidierte Prof. N. die am 21.04.1973 dokumentierten Diagnosen. Im Bereich der unteren Extremitäten (Ziff. III und IV) vermerkte Prof. N. , dass kein Hüftschaden, aber stattdessen ein Knieschaden beidseits vorliege. Dieser Beurteilung lagen u.a. aktuell gefertigte Röntgenaufnahmen des Beckens, der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten zugrunde (vgl. Befundbericht Dr. N. , Anlage K 11 zum Schriftsatz der Kl./PB vom 11.11.2013, Bl. 78 d. A.). Im Befundbericht wurde u.a. festgestellt, dass die linke Beckenhälfte um knapp 1 cm tiefer als die rechte stehe. Krankhafte Veränderungen im Bereich des Beckens seien nicht erkennbar. Die geringe Cox valga könne noch als physiologisch angesehen werden. Da die Schwere der Körperschäden im Bereich der hauptsächlich betroffenen oberen Gliedmaßen und der Wirbelsäule (Skoliose) aber deutlich höher als im Jahr 1973 beurteilt wurde, ermittelte Prof. N. eine orthopädische Punktzahl von nunmehr 172,5 Punkten nach alter Bewertung. Eine Weiterleitung dieser neuen Begutachtung an die Conterganstiftung und eine entsprechende Änderung des Bewilligungsbescheides erfolgten 1979 nicht.
12Am 11.09.2009 stellte die Klägerin einen Revisionsantrag. Zur Begründung trug sie vor, es sei für sie nicht ersichtlich, dass ihr Schulterschaden, die überzähligen Finger beidseits sowie der Wirbelsäulenschaden (Skoliose) berücksichtigt worden seien. Ferner bat sie um eine Überprüfung, ob die festgestellten Schäden korrekt bepunktet worden seien. Mit e-mail vom 22.01.2010 bat die Klägerin um Übersendung ihrer Begutachtungsunterlagen.
13Im Änderungsbescheid vom 30.03.2010 wurde die Beurteilung der conterganbedingten Körperschäden auf der Grundlage der geänderten Bewertung von Prof. N. aus dem Jahr 1979 revidiert. Der bisher zuerkannte Hüftschaden wurde dementsprechend nunmehr verneint, die Punkte nach der medizinischen Punktetabelle für den Schaden „rechte Hüfte pauschal“ und „linke Hüfte pauschal“ (4 Punkte) wurden abgezogen. Dafür wurden der Klägerin 4 Punkte für die bisher nicht anerkannten Knieschäden angerechnet. Insgesamt erhöhte sich die Gesamtpunktzahl jedoch wegen der höher bewerteten Körperschäden im Bereich von oberen Extremitäten und Wirbelsäule auf 34,50 Punkte nach der medizinischen Punktetabelle. Mit dem Änderungsbescheid wurden der Klägerin daher eine höhere Kapitalentschädigung einschließlich Zinsen, sowie rückwirkend eine höhere Rente und eine höhere jährliche Sonderzahlung bewilligt. Der Nachzahlungsbetrag belief sich auf 27.891,14 Euro.
14Der Bescheid war mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen und wurde am 03.04.2010 mit Einschreiben/Rückschein zugestellt.
15Mit Schreiben der Beklagten vom 21.06.2010 wurden der Klägerin die von ihr gewünschten Kopien der ärztlichen Unterlagen übersandt. Mit e-mail vom 21.08.2010 wandte sich die Klägerin sodann an die Beklagte und bat um Überprüfung der Berechnung ihrer Schadenspunkte im Bescheid vom 30.03.2010, insbesondere im Hinblick auf den Abzug der Punkte für den Hüftschaden. Mit Schreiben vom 25.01.2012 und vom 03.12.2012 erläuterte die Beklagte die Vergabe der Punkte im Änderungsbescheid vom 30.03.2010.
16Mit Schreiben vom 09.03.2012 stellte die Klägerin einen weiteren Revisionsantrag. Sie beanstandete im Wesentlichen, dass ihr die bisher für den Hüftschaden anerkannten Punkte (4 Punkte) gestrichen worden seien und bat um Mitteilung der Rechtsgrundlage. Außerdem sei ihr durch das Verschulden der Conterganstiftung bisher zu wenig Rente gezahlt worden, ohne dass die Nachzahlung nunmehr verzinst werde. Leider habe sie seinerzeit den Widerspruch gegen den Revisionsbescheid nicht fristgerecht einlegen können, weil sie sämtliche Unterlagen, die sie von der Stiftung angefordert habe, nicht rechtzeitig erhalten habe.
17Mit einem Nachtrag vom 19.03.2012 machte sie darüber hinaus geltend, dass sie ausweislich einer Röntgenuntersuchung vom 31.08.1979 an der Uniklinik Heidelberg an einem Beckenschiefstand leide; die linke Beckenhälfte stehe knapp 1 cm tiefer als die rechte. Ferner seien die Dysplasien beider Schulter- und Ellenbogengelenke bisher nicht zutreffend berücksichtigt.
18Mit Bescheid der Conterganstiftung vom 14.03.2013 wurde dem Revisionsantrag teilweise stattgegeben. Der Bescheid wurde am 15.03.2013 bei der Post aufgegeben. Die Anerkennung der Dysplasien beider Schulter- und Ellenbogengelenke führte zu einer Erhöhung der Gesamtpunktezahl von 34,50 auf 38,50 und einer entsprechenden rückwirkenden Erhöhung der Rente.
19Hinsichtlich des geltend gemachten Hüftschadens (Beckenschiefstand) wurde der Antrag abgelehnt. Zur Begründung wurde angegeben, beide Hüftgelenke seien ohne Hinweis auf eine Dysplasie.
20Im Hinblick auf die Aufhebung der Anerkennung des Hüftschadens durch den Änderungsbescheid vom 30.03.2010 wurde ausgeführt, es habe sich hierbei nur um eine Änderung in der Begründung des Bewilligungsbescheides gehandelt, nicht um eine Änderung im regelnden Teil des Bescheides. Die aberkannten Punkte für den Hüftschaden seien mit den Punkten für die zusätzlich festgestellten Knie-Schäden verrechnet worden. Da im Ergebnis die Gesamtpunkte sowie die bewilligten Leistungen gestiegen seien, liege auch kein Widerruf oder Teilwiderruf des ursprünglichen Bewilligungsbescheides nach § 49 VwVfG vor. Jedenfalls habe die Klägerin keinen Widerspruch gegen den Bescheid vom 30.03.2010 eingelegt. Dieser sei somit bestandskräftig.
21Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben ihrer früheren Prozessbevollmächtigten am 16.04.2013 Widerspruch ein, den sie mit Schreiben vom 25.04.2013 ergänzend begründete.
22Am 26.07.2013 hat die Klägerin Untätigkeitsklage erhoben, nachdem die Beklagte in der Zwischenzeit nicht über den Widerspruch entschieden hatte.
23Mit Widerspruchsbescheid vom 07.10.2013 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. In der Begründung wurde ausgeführt, ein thalidomidbedingter, nach den Richtlinien anzuerkennender Hüftschaden oder eine Hüftfehlbildung habe bei der Klägerin zu keinem Zeitpunkt vorgelegen. Beide Hüftgelenke seien radiologisch völlig unauffällig. Dies habe Herr Prof. N1. bereits in seiner Begutachtung 1979 festgestellt und Herr Prof. G. in seinem Gutachten vom 02.02.2013 bestätigt.
24Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens habe sich Herr Dr. O. erneut mit der Frage befasst und in seiner Stellungnahme vom 09.06.2013 festgestellt, dass keine Fehlbildung der Hüfte vorliege. Es sei allenfalls eine leichte Beinlängendifferenz zu verzeichnen, die sich aber innerhalb der Spanne bewege, die auch bei gesunden Menschen ohne conterganbedingte Schädigung möglich sei. Die medizinische Punktetabelle sehe hierfür keine Schadenspunkte vor.
25Die Klägerin vertritt weiterhin die Auffassung, dass ihr die 4 Punkte für den pauschalen Hüftschaden zu Unrecht aberkannt worden seien. Ein Beckenschiefstand liege ausweislich der vorliegenden Röntgenbilder und ärztlichen Gutachten seit 1968 vor und sei im Bescheid von 1974 bestandskräftig anerkannt worden. Die Änderung der Beurteilung im Jahr 1979 sei nicht nachvollziehbar. Das Conterganstiftungsgesetz sehe vor, dass im Zweifel eine Thalidomidschädigung angenommen werden müsse.
26Die Aberkennung des Hüftschadens sei weder gemäß § 49 VwVfG noch gemäß § 48 VwVfG zulässig. Diese Vorschriften könnten auch nicht durch eine Verrechnung der Punkte umgangen werden. Bei der Aberkennung des Hüftschadens handele es sich um einen selbständigen, belastenden Verwaltungsakt. Bei der Anerkennung der Punkte für den Knieschaden handele es sich um einen davon unabhängigen, begünstigenden Verwaltungsakt. Eine andere Sichtweise würde die Klägerin rechtsschutzlos stellen und gegen das Rechtsstaatsprinzip und das rechtliche Gehör verstoßen. Die Klägerin sei nämlich vor Erlass des Änderungsbescheides entgegen § 28 VwVfG nicht angehört worden.
27Eine Änderung der Sachlage nach § 49 Abs. 2 Satz 1 VwVfG liege nicht vor, da der Beckenschiefstand bereits seit der Geburt bestehe. Es komme jedoch auch eine Rücknahme des Bescheides von 1974 gemäß § 48 VwVfG nicht in Betracht, da der ursprüngliche Bewilligungsbescheid rechtmäßig gewesen sei. Die Beklagte habe den Sachverhalt des Hüftschiefstandes seinerzeit zutreffend ermittelt und als pauschalen Hüftschaden mit 4 Punkten bewertet. Selbst im Fall einer Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides von 1974 stehe einer Rücknahme § 48 Abs. 2 VwVfG entgegen, da die Klägerin auf die Rechtmäßigkeit des Bescheides vertraut und im Vertrauen darauf die gewährte Geldleistung verbraucht habe. Darüber hinaus sei die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG bereits abgelaufen gewesen.
28Die Verrechnung mit dem Punktwert für den Knieschaden sei nicht zulässig gewesen. Hierdurch habe die Beklagte eine „unrechtmäßige Rentenrückforderung“ bei der Klägerin vollzogen. Eine Rückforderung für die Vergangenheit scheide aber aus Rechtsgründen aus, wie sich auch aus dem von der Beklagten eingeholten Rechtsgutachten der Kanzlei Himmelreich vom 09.01.2013 ergebe, das von der Klägerin in Auszügen vorgelegt wird.
29Der Änderungsbescheid vom 30.03.2010 stehe einer Geltendmachung der Rechte der Klägerin nicht entgegen. Der Revisionsantrag stelle einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 VwVfG dar, dem mit Bescheid vom 14.03.2013 stattgegeben worden sei. Außerdem seien mit Bescheid vom 14.03.2013 der Bescheid vom 04.02.1974, aber auch der Änderungsbescheid vom 30.03.2010 abgeändert worden. Daher handele es sich um eine neue Beschwer.
30In der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten übereinstimmend mitgeteilt, dass der Klägerin zwischenzeitlich durch die Beklagte weitere 4 Schadenspunkte für ein Carpaltunnelsyndrom zuerkannt worden sind, sodass die bisher festgestellte Gesamtpunktzahl nunmehr bei 42 Punkten liegt.
31In der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
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1. die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 14.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2013 zu verpflichten, ihr eine Rente nach dem Conterganstiftungsgesetz auf der Basis einer Gesamtpunktzahl von 46,00 in gesetzlicher Höhe zu gewähren,
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2. der Klägerin rückwirkend zum 01.10.1972 eine monatliche Rente auf dieser Basis in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Nach der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit einem Schriftsatz, der am 24.02.2015 um 18.43 bei Gericht einging, über die in der mündlichen Verhandlung gestellten Anträge hinaus zusätzlich die rückwirkende Bewilligung einer Jahressonderzahlung sowie die rückwirkende Bewilligung einer Kapitalentschädigung zuzüglich Zinsen auf der Grundlage einer Gesamtpunktzahl von 46, hilfsweise 42 Punkten und ferner die Zahlung von Prozesszinsen auf die Nachzahlungsbeträge beantragt.
37Die Beklagte beantragt,
38die Klage abzuweisen.
39Die Klage sei unbegründet. Die medizinischen Sachverständigen der Beklagten seien seit 1979 übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass Schäden an den Hüftgelenken im Sinne von Nr. 1.A.3. lit a) bis d) der Medizinischen Punktetabelle nicht vorlägen. Bei der Klägerin sei weder eine präarthrotische Deformität der Hüftgelenke zu verzeichnen, noch eine Hüftgelenksluxation oder –aplasie. Dies bestreite die Klägerin auch nicht.
40Bei der Klägerin bestehe auch keine sonstige, nach Ziff. III. Unterabsatz 2. der Richtlinien zu bewertende thalidomidbedingte Fehlbildung der Hüfte. Insbesondere stehe aufgrund der Gutachten von Prof. G. und Dr. O. fest, dass ein Beckenschiefstand für sich genommen keine Hüftfehlbildung darstelle, da Ursache für den Beckenschiefstand eine Verkürzung des linken Beines sei und eine Thalidomidbedingtheit der Beinverkürzung nicht festgestellt werden könne. Vielmehr sei der bei der Klägerin vorliegende geringfügige Beckenschiefstand ein auch in der Normalbevölkerung nicht selten vorkommendes Phänomen, welches nicht auf die Einnahme von Thalidomid zurückgeführt werden könne. Dies habe auch Prof. N1. im Jahr 1979 so gesehen, da er zwar den Beckenschiefstand festgestellt habe, die zuvor für einen Hüftschaden angesetzten Schadenspunkte aber gestrichen habe. Ein Zweifelsfall, in dem die Anerkennung eines thalidomidbedingten Schadens möglich sei, liege also gerade nicht vor. Im Übrigen werde mit Nichtwissen bestritten, ob der Beckenschiefstand tatsächlich bereits bei der Geburt vorgelegen habe.
41Schließlich halte die Beklagte daran fest, dass es sich bei der im Bescheid vom 30.03.2010 enthaltenen Aberkennung von 4 Punkten für den Hüftschaden lediglich um eine Änderung der Begründung handele. Diese habe sich auch nicht zum Nachteil der Klägerin ausgewirkt, da sie durch die Zuerkennung des Knieschadens mit 4 Punkten ausgeglichen worden sei. Die Vorschriften für die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten in §§ 48, 49 VwVfG fänden daher keine Anwendung. Eine Anhörung der Klägerin vor Erlass des begünstigenden Änderungsbescheides sei entbehrlich gewesen.
42Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
43E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
44Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung beantragt hat, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2013 zu verpflichten, ihr auf der Grundlage einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten eine höhere Conterganrente – auch rückwirkend – zu bewilligen, ist die Klage als Verpflichtungsklage zulässig. Die Bewilligung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz erfolgt gemäß § 16 Abs. 6 ContStifG in Form eines begünstigenden Verwaltungsakts. Daher ist die Ablehnung eines Antrags auf Erhöhung der Leistungen (Revisionsantrag) ebenfalls ein Verwaltungsakt. Die statthafte Klageart ist somit die Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 2. Alt. VwGO.
45Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer höheren Conterganrente auf der Grundlage einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten. Der Bescheid der Beklagten vom 14.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2013 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO. Die Beklagte hat die Anerkennung von 4 zusätzlichen Punkten für einen Beckenschiefstand oder einen sonstigen Hüftschaden, die zur Berechnung einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten erforderlich wäre, zu Recht abgelehnt.
46Anspruchsgrundlage für die begehrte Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin eine höhere Rente nach dem ContStifG zu gewähren, ist § 12 Abs. 1 ContStifG i.d.F. der Bekanntmachung vom 25.06.2009 (BGBl. I 1537), zuletzt geändert durch das Dritte Gesetz zur Änderung des ContStifG vom 26.06.2013 (BGBl. I 1847) i.V.m. § 13 Abs. 2 ContStifG. Nach diesen Vorschriften setzt die Gewährung von Leistungen nach § 12 ContStifG voraus, dass der Antragsteller Fehlbildungen aufweist, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH durch die Mutter in der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können.
47Der Kreis der Anspruchsberechtigten ist bewusst weit gefasst, um zugunsten etwaiger Betroffener der Unmöglichkeit einer über jeden Zweifel erhabenen Kausalitätsfeststellung Rechnung zu tragen,
48vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 02.12.2011 - 16 E 723/11 - , vom 25.03.2013 - 16 E 1139/12 - und vom 14.01.2015 - 16 E 435/13 - .
49Aus Sicht der Kammer muss es jedoch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gerade die Einwirkung von Thalidomid während der Embryonalentwicklung gewesen sein, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit den Fehlbildungen des Antragstellers steht. Würde es dagegen ausreichen, dass Thalidomid als theoretische Ursache für Fehlbildungen nicht auszuschließen ist, ließe sich der anspruchsberechtigte Personenkreis, der nach dem Willen des Gesetzgebers von Leistungen aus dem Stiftungsvermögen profitieren soll, nicht verlässlich eingrenzen,
50vgl. Urteile der Kammer vom 20.01.2015 - 7 K 7276/12 - und 7 K 1942/13 - .
51Im vorliegenden Verfahren ist es zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Klägerin wegen einer Conterganeinnahme ihrer Mutter in der Schwangerschaft Fehlbildungen aufweist, die durch dieses Medikament verursacht worden sind. Insbesondere wurden bei der Klägerin mit den Bescheiden vom 04.02.1974, 30.03.2010 und 14.03.2013 erhebliche orthopädische Schädigungen im Bereich der oberen Extremitäten, eine Schädigung der Kniegelenke sowie eine Skoliose 1. Grades der Brustwirbelsäule anerkannt.
52Jedoch lässt sich nicht feststellen, dass die Klägerin darüber hinaus unter einer thalidomidbedingten Schädigung ihres Hüftgelenkes oder des Beckens leidet. Daher können ihr für diesen geltend gemachten Körperschaden die begehrten 4 zusätzlichen Punkte nach der Medizinischen Punktetabelle nicht angerechnet werden, die zu einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten und damit zu einer Rentensteigerung von 3.075 Euro auf 3.686 Euro gemäß der Anlage 3 der „Richtlinien für die Gewährung von Leistungen wegen Contergan-Schadensfällen“ vom 16.07.2013 führen würden.
53Der bei der Klägerin unstreitig vorliegende Beckenschiefstand ist keine Fehlbildung, die nach ihrem „Erscheinungsbild“,
54vgl. zu dessen Bedeutung für die Annahme einer ursächlichen Verbindung: Begründung des Gesetzentwurfs für die Errichtung einer nationalen Stiftung „Hilfswerk für das behinderte Kind“, BT-Drs. VI/926, S. 8 zu § 13,
55so beschaffen ist, dass sie mit Wahrscheinlichkeit auf die Einwirkung von Thalidomid während der Frühschwangerschaft der Mutter zurückzuführen ist. Diese - geringe - Fehlstellung der Hüfte gehört nicht zu den charakteristischen thalidomidbedingten Fehlbildungen, wie sie in der Medizinischen Punktetabelle und der wissenschaftlichen Literatur ihren Ausdruck gefunden haben. Sie ist auch nicht vereinzelt im Zusammenhang mit der Einnahme von Thalidomid in der Schwangerschaft festgestellt worden,
56vgl. zu diesem Kriterium: OVG NRW, Beschluss vom 14.01.2015 - 16 E 435/13 - juris.
57Hiervon ist die Kammer nach der Auswertung der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen der Mitglieder der Medizinischen Kommission der Beklagten überzeugt.
58In der Medizinischen Punktetabelle in Anlage 2 der „Richtlinien für die Gewährung von Leistungen wegen Contergan-Schadensfällen“ vom 16.07.2013 sind unter Ziff. 1. „Orthopädische Schäden“, B.3 Schäden an den Hüftgelenken aufgeführt. Die dort genannten Deformitäten des Hüftgelenks (Ziff. 3. a – c), eine Hüftgelenksluxation (Verrenkung des Hüftgelenks) oder eine Hüftgelenksaplasie (Nichtanlage des Hüftgelenks) liegen nach den vorliegenden Röntgenbildern unstreitig nicht vor.
59Dies haben Prof. Dr. N1. im Befundbericht vom 31.08.1979 (Bl. 78 d. A.), Prof. Dr. G. im Gutachten vom 02.02.2013 (Bl. 85 d. A.) und Dr. O. in der Stellungnahme vom 09.06.2013 (Bl. 154 d. A.) übereinstimmend und plausibel festgestellt. Vielmehr sind die Hüftgelenke der Klägerin radiologisch unauffällig. Sie weisen keine „Fehlbildung“, also keine geburtsbedingte Fehlgestaltung eines Organs in Form oder Größe oder das Fehlen eines Organs, im Sinne des § 12 Abs. 1 ContStifG auf.
60Es kann auch nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass eine in Zusammenhang mit der Einnahme von Thalidomid stehende atypische Fehlbildung der Hüfte oder des Beckens vorliegt, die nicht in der Punktetabelle aufgeführt ist (Ziff. III der Medizinischen Punktetabelle).
61Vielmehr ist der bei der Klägerin unstreitig vorliegende Beckenschiefstand, bei dem die linke Hälfte des Beckens ca. 1 cm tiefer steht als die rechte Hälfte, überhaupt keine „Fehlbildung“ eines Organs oder Organsystems, die durch eine Störung der Organentwicklung in der Frühschwangerschaft hervorgerufen wird. Es handelt sich um eine sehr häufig auftretende „Fehlstellung“, die auch bei ansonsten gesunden Menschen entweder seit Geburt vorliegen oder im Lauf des Lebens erworben werden kann und auf zahlreichen verschiedenen Ursachen beruhen kann.
62Laut einer Analyse der WHO aus dem Jahr 2007 liegt bei rund 70 % aller Menschen mindestens eine leichte Schiefstellung des Beckens vor, die jedoch nur selten zu ernsthaften Beschwerden führt. Damit ist ein wirklich gerades Becken also eher die Ausnahme,
63vgl. www.apotheken-umschau.de/Knochen/Was-hilft-bei-einem Beckenschiefstand?, Abruf vom 18.02.2015; www.onmeda.de/krankheiten/beckenschiefstand.html, Abruf vom 18.02.2015.
64Ein Beckenschiefstand kann auf muskulären Verspannungen der Gesäßmuskulatur und der unteren Rückenmuskulatur beruhen („funktionelle Kippung“) oder auch anatomische Ursachen haben, z.B. eine Beinlängendifferenz oder eine verkrümmte Wirbelsäule („strukturelle Kippung“),
65vgl. www.apotheken-umschau.de/Knochen/Was-hilft-bei-einem Beckenschiefstand?, Abruf vom 18.02.2015; www.onmeda.de/krankheiten/beckenschiefstand.html, Abruf vom 18.02.2015; www.apotheken-umschau.de „Skoliose“, Abruf vom 18.02.2015.
66Der Beckenschiefstand ist somit eine Folgeerscheinung anderer körperlichen Fehlfunktionen (Muskelverspannungen) oder Anomalien anderer Organe (Beinlängendifferenz, Skoliose), die auch bei nicht thalidomidgeschädigten Personen häufig auftreten. Dies spricht entscheidend dagegen, dass ein Beckenschiefstand durch eine Thalidomideinnahme während der Schwangerschaft entstehen kann.
67Diese Annahme wird bestätigt durch die wissenschaftliche Literatur zu den Erscheinungsformen der thalidomidbedingten Körperschäden, in denen ein Beckenschiefstand nicht erwähnt wird. Dort werden als thalidomidbedingte Hüftschäden beschrieben: Dysplasien der Hüftgelenke, Hüftgelenksluxationen und Perthes-ähnliche Befunde des Femurknochens, aber kein Beckenschiefstand,
68Vgl. R W Smithells/C G H Newman, Recognition of thalidomide defects, J. Med Genet 1992, 716, 719 f.; Peters, Thalidomid-Embryopathie: eine vielfältige Katastrophe, Pädiatrie hautnah 2014, 44, 46.
69Sämtliche Mitglieder der Medizinischen Kommission der Beklagten, die seit 1979 mit dem Fall befasst waren, nämlich Prof. N1. , Prof. G. und Dr. O. haben in Kenntnis des Beckenschiefstandes eine thalidomidbedingte Fehlbildung der Hüfte eindeutig und übereinstimmend verneint.
70Die Klägerin hat auch keine ärztlichen Gutachten vorgelegt, aus denen sich Anhaltspunkte dafür ergeben könnten, dass der Beckenschiefstand auf die Einnahme von Contergan zurückzuführen sein könnte. Sie kann sich allein auf die frühere Bewertung von Prof. N1. aus dem Jahr 1973 berufen, der bei der Klägerin seinerzeit einen „Hüftschaden pauschal“ diagnostiziert hat.
71Diese sehr vage Diagnose ist jedoch von Prof. N1. nicht begründet worden und aufgrund der vorliegenden medizinischen Unterlagen auch nicht nachvollziehbar. Ein konkreter Befund hinsichtlich der Hüfte oder des Beckens lässt sich aus dem Bewertungsbogen vom 21.04.1973 nicht entnehmen (vgl. Bl. 006 und 001 BA 5). Insbesondere gibt es keinerlei schriftlichen Hinweis auf einen Beckenschiefstand.
72Auch aus den übrigen ärztlichen Unterlagen und Schreiben der Eltern, die der Medizinischen Kommission im Jahr 1973 vorlagen (Bl. 061 BA 5), ergeben sich keine Anhaltspunkte für einen Hüftschaden oder Beckenschiefstand. Vielmehr ist die Klägerin bis 1973 ausweislich des Briefes ihres Vaters vom 29.08.1973 (Bl. 062 BA 5) ausschließlich wegen der deutlich sichtbaren Schäden der oberen Extremitäten untersucht und behandelt worden.
73Jedenfalls kann sich die Klägerin auf die Feststellung eines Hüftschadens durch Prof. N1. aus dem Jahr 1973 heute nicht mehr berufen, weil Prof. N1. die Diagnose im Jahr 1979 selbst widerrufen hat. Obwohl auf den neu angefertigten Röntgenbildern des Beckens, der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten ein Beckenschiefstand sichtbar war, hat Prof. N1. einen Hüftschaden klar verneint und stattdessen einen Knieschaden festgestellt (Bl. 013 BA 5 und Bl. 78 R und 79 Gerichtsakte). Diese Änderung der Begutachtung ist – im Gegensatz zu der ursprünglichen Diagnose im Jahr 1973 – auf der Grundlage der Erkenntnisse aus den Röntgenbildern von 1979 auch nachvollziehbar und plausibel.
74Damit kann der bei der Klägerin vorliegende Beckenschiefstand mit der Einnahme von Thalidomid durch die Mutter in der Schwangerschaft nicht in Verbindung gebracht werden.
75Die Klägerin kann sich auch nicht darauf berufen, dass die im Bewilligungsbescheid vom 04.02.1974 aufgeführten 4 Punkte für einen „Hüftschaden pauschal“ bestandskräftig anerkannt sind und daher - unabhängig von einem tatsächlich bestehenden Thalidomid schaden - weiterhin angerechnet werden müssen.
76Eine bestandskräftige Anerkennung eines Hüftschadens im Umfang von 4 Punkten liegt nicht vor. Die mit der materiellen Bestandskraft eines Verwaltungsaktes verbundene Bindungswirkung bezieht sich nur auf den Entscheidungssatz, aber nicht auf die wesentlichen Gründe oder Vorfragen,
77vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG 14. Aufl. 2013, § 43, Rn. 31.
78Der Bewilligungsbescheid vom 04.02.1974 ist daher nur hinsichtlich der darin ausgesprochenen Festsetzung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz, hier der Festsetzung einer Rente und einer Kapitalentschädigung, in Bestandskraft erwachsen, aber nicht hinsichtlich der festgestellten Körperschäden. Dies ist aus § 16 Abs. 6 ContStifG abzuleiten, wonach der Stiftungsvorstand auf der Grundlage der Entscheidung und Bewertung der Kommission nach § 6 Abs. 2 die Leistungen nach Maßgabe der Richtlinien durch schriftlichen Verwaltungsakt festsetzt. Diese Bestimmung wird in § 9 Abs. 8 der Satzung der Conterganstiftung für behinderte Menschen vom 19.06.2013 nochmals aufgegriffen und bestätigt. Danach setzt der Stiftungsvorstand beim Verfahren nach Abschnitt 2 ContStifG die Leistungen fest, erteilt der Antrag stellenden Person einen Bescheid und entscheidet über eventuell erhobene Widersprüche.
79Die von der Medizinischen Kommission nach § 16 Abs. 2 ContStifG zu treffende Entscheidung darüber, ob ein Körperschaden nach § 12 ContStifG vorliegt und wie dieser zu bewerten ist, dient lediglich der Vorbereitung des anschließenden Leistungsbescheides. Sie dient zwar der Feststellung der wesentlichen Anspruchsvoraussetzungen und ist daher hinsichtlich des einzuhaltenden Verfahrens in § 16 Abs. 2 bis Abs. 5 ContStifG ausführlich geregelt. Es handelt sich jedoch nicht um einen selbständigen Verwaltungsakt, der dem eigentlichen Leistungsbescheid vorgelagert wäre. Ein Verwaltungsakt ist entsprechend der Definition in § 35 VwVfG jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Diese Voraussetzungen werden durch die Entscheidung der Kommission über den Schadensfall nicht erfüllt. Denn die Medizinische Kommission ist zum einen keine Behörde. Behörde ist allein der Stiftungsvorstand, der die Geschäfte der Stiftung führt, insbesondere über die Vergabe der Stiftungsmittel entscheidet sowie die Stiftung nach § 7 Abs. 5 ContStifG gerichtlich und außergerichtlich vertritt. Die Medizinische Kommission ist ein dem Stiftungsvorstand untergeordneter Ausschuss (§ 16 Abs. 2 ContStifG), der nicht mit Hoheitsrechten ausgestattet ist, sondern lediglich eine sachverständige Beurteilung einer Vorfrage des Leistungsanspruchs vornimmt. Zum anderen hat diese Entscheidung der Kommission keine Außenwirkung, da sie nicht unmittelbar Rechte des Betroffenen begründet. Dies zeigt sich bereits darin, dass die Entscheidung der Kommission über den Schadensfall dem Betroffenen gegenüber nicht als selbständiger Verwaltungsakt bekanntmacht wird. Rechte des Betroffenen werden erst durch den nachfolgenden Bescheid der Conterganstiftung über die Festsetzung der Leistungen begründet. Die darin mitgeteilten Feststellungen der Kommission zur Frage des Vorliegens eines thalidomidbedingten Geburtsschadens und seiner Schwere sind somit lediglich Teil der Begründung des Bescheides, die grundsätzlich nicht bestandskräftig wird.
80Die wesentlichen Gründe oder Vorfragen der Entscheidung nehmen nur ausnahmsweise an der Bestandskraft des Verwaltungsakts teil, wenn das Fachgesetz bestimmte Feststellungen mit einer speziellen Wirkung ausstattet,
81vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG,14. Aufl.2013, § 43 Rn. 31 und 26.
82Dies ist hier aber nicht der Fall. Aus § 16 ContStifG ergibt sich nicht, dass die Entscheidung der Kommission über den Schadensfall mit einer bestimmten Feststellungswirkung ausgestattet ist oder an der Bestandskraft des Bewilligungsbescheides teilnimmt. Dies wäre auch nicht im Interesse der Anspruchsberechtigten. Wenn die einzelnen zuerkannten Körperschäden bestandskräftige Feststellungen wären, könnte der Berechtigte eine Änderung dieser Feststellungen mit der Folge der Leistungserhöhung nicht mehr mit einem einfachen Änderungsantrag (Revisionsantrag verlangen), sondern nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 51 VwVfG für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens.
83Da die Feststellungen des Leistungsbescheides vom 04.02.1974 zu den Körperschäden somit nicht an der Bestandskraft des Bescheides teilhaben, war die Beklagte an die Anerkennung des Hüftschadens mit 4 Punkten nicht gebunden. Da ein thalidomidbedingter Hüftschaden nach den obigen Ausführungen tatsächlich nicht vorliegt, war die Beklagte berechtigt, die 4 Punkte für diesen zu Unrecht anerkannten Schaden bei der Neuberechnung abzuziehen.
84Einer teilweisen Rücknahme des Bewilligungsbescheides nach § 48 VwVfG oder eines teilweisen Widerrufs der Bewilligung nach § 49 VwVfG bedurfte es hierzu nicht. Bei der Rücknahme und dem Widerruf handelt es sich um eine Aufhebung oder eine teilweise Aufhebung eines Verwaltungsakts. Gegenstand der Aufhebung kann auch in diesem Zusammenhang nur die in dem Verwaltungsakt getroffene Regelung sein, hier also der Leistungsausspruch. Werden durch einen Änderungsbescheid daher Leistungen für die Vergangenheit oder die Zukunft gekürzt, handelt es sich um eine Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes, die den Einschränkungen der §§ 48 Abs. 1 Satz 2 und 49 Abs. 2 VwVfG unterliegt. Da im vorliegenden Verfahren durch den Änderungsbescheid vom 10.03.2010 Leistungen aber nicht gekürzt oder zurückgefordert wurden, sondern nach einer Verrechnung der neu zuerkannten Punkte mit den abgezogenen Punkten die Leistungen erhöht wurden, liegt keine Rücknahme bzw. kein Widerruf eines Verwaltungsaktes vor.
85Die berechtigten Interessen der Betroffenen werden auch durch die Möglichkeit der Behörde, die Feststellung der Körperschäden ohne Bindung an den Bewilligungsbescheid zu ändern und Punkte im Rahmen der Gesamtberechnung zu verrechnen, nicht unzumutbar beeinträchtigt. Führt die Aberkennung eines Körperschadens und der Abzug der dazugehörigen Punkte zu einer Reduzierung oder Rückforderung der Leistungen, sind die Vorschriften in § 48 Abs. 2 oder § 49 Abs. 2 VwVfG anwendbar, die eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Bewilligung vorsehen und den Vertrauensschutz des Betroffenen berücksichtigen.
86Führt die Neuberechnung nicht zu einer Reduzierung, sondern zu einer Erhöhung der Leistungen oder zu gleichbleibenden Leistungen, kommen zwar die §§ 48 ff. VwVfG nicht zu Anwendung. Ein Vertrauensschutz ist auch nicht geboten, weil das Vertrauen in den Bestand und die Fortgewährung der einmal bewilligten Leistungen nicht enttäuscht wird. Jedoch ist der Änderungsbescheid mit Widerspruch und Verpflichtungsklage überprüfbar, wenn der Betroffene geltend macht, dass ihm noch höhere Leistungen zu Unrecht verweigert wurden. Im Rahmen dieser Klage kann überprüft werden, ob der - bisher anerkannte - Körperschaden zu Unrecht verneint wurde und dem Antragsteller daher höhere Leistungen zustehen.
87Ungeachtet dieser Möglichkeit, von der die Klägerin keinen Gebrauch gemacht hat, hat sie aber auch deshalb keinen Rechtsnachteil erlitten, weil die Beklagte einen Hüftschaden im Rahmen des Revisionsantrages vom 09.03.2012 im Verlauf des Widerspruchsverfahrens erneut geprüft und zu Recht verneint hat. Ein berechtigtes Interesse an der Erhöhung der zuerkannten Leistungen auf der Grundlage einer unrichtigen Schadensfeststellung ist aber nicht erkennbar.
88Soweit die Klägerin nach Schluss der mündlichen Verhandlung weitere Klageanträge gestellt hat, die als Klageänderung gemäß § 91 VwGO einzustufen wären, ist die Klage bereits unzulässig. Eine Klageerweiterung nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung ist unzulässig, wenn nicht die Stellung weiterer Anträge oder die Ergänzung der Klageanträge durch einen Schriftsatznachlass gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 283 ZPO durch Beschluss des Gerichts vorbehalten worden ist,
89vgl. BVerwG, Beschluss vom 05.11.2001 – 9 B 50/01 – juris.
90Ein derartiger Schriftsatznachlass ist nicht beschlossen und von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin auch nicht beantragt worden, obwohl die Ansprüche der Klägerin auf weitere Leistungen nach dem ContStifG (Kapitalentschädigung, Sonderzahlung) in der mündlichen Verhandlung zur Sprache gekommen sind.
91Es gab auch keine Veranlassung, die Wiedereröffnung der Verhandlung zu beschließen, um dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin die Stellung weiterer Anträge zu ermöglichen, § 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO. Ein Anspruch auf Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung besteht bei versäumten Klageanträgen nicht,
92vgl. BVerwG, Beschluss vom 05.11.2001 – 9 B 50/01 – juris.
93Dem Schriftsatz vom 24.02.2015 ist auch kein weiterer wesentlicher Sachvortrag zu entnehmen, der für die Entscheidung in der Sache erheblich wäre.
94Ungeachtet dessen wäre die Klage auf weitere Leistungen nach dem ContStifG auf der Grundlage einer Gesamtpunktzahl von 46 Punkten aus den oben erörterten Gründen auch unbegründet, da die Klägerin keine Zusatzpunkte für einen Hüftschaden verlangen kann. Aus diesem Grund besteht auch kein Anspruch auf Prozesszinsen auf Nachzahlungsbeträge. Soweit die Klägerin eine Erhöhung der Leistungen hilfsweise auf der Grundlage von 42 Punkten beantragt hat, ist ein Rechtsschutzinteresse nicht ersichtlich. Denn diese Punktzahl ist der Klägerin von der Beklagten bereits zuerkannt worden. Es ist bisher weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Beklagte der Klägerin die aus dieser Punktzahl zustehenden Leistungen verweigert hätte.
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