Urteil vom Verwaltungsgericht Magdeburg (7. Kammer) - 7 A 126/11

Tatbestand

1

Der Kläger begehrte ursprünglich die Aufhebung der Pfändungs- und Einziehungsverfügung des Beklagten vom 26. April 2011. Er verlangt nunmehr die Feststellung, dass die (inzwischen aufgehobene) Pfändungs- und Einziehungsverfügung rechtswidrig gewesen ist, sowie die Rückzahlung des gepfändeten Betrages in Höhe von 665,69 Euro.

2

Der am … in … geborene Kläger erlitt am 29. März 2006 einen Hirninfarkt und leidet seit Dezember 2006 an den Folgen eines Blasenkarzinoms. Er ist seit dieser Zeit erwerbsunfähig und hat bis zum 31. März 2012 eine Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von 1.368,50 Euro bezogen, deren Pfändbarkeit streitbefangen ist.

3

Der Kläger und seine (geschiedene) Ehefrau waren Eigentümer des vermieteten Grundstücks „Im Wiesengrund 1“ in … . Das Grundstück war an die öffentliche Abfallbeseitigung angeschlossen. Mit Änderungsbescheid vom 11. Mai 2007 setzte der Beklagte die Müllgebühren gegenüber dem Kläger für die Jahre 2003, 2004, 2005, 2006 und 2007 neu fest. Der Beklagte forderte vom Kläger eine Nachzahlung in Höhe von 387,87 Euro. Mit Änderungsbescheid vom 12.12.2008 – in demselben Jahr haben der Kläger und seine (geschiedene) Ehefrau das Grundstück veräußert – setzte der Beklagte gegenüber dem Kläger die Gebühren für die Abfallbeseitigung im Jahr 2008 auf 120,23 Euro fest.

4

Die Bezahlung der festgesetzten Gebühren mahnte der Beklagte wiederholt an (Schreiben vom 12. Oktober 2007, 20. März 2008 und 17. April 2008). In der „letzten Zahlungsaufforderung vor Vollstreckung“ vom 29. Juni 2009 wurde der geschuldete Betrag auf 513,24 Euro beziffert, der sich aus den genannten Abfallgebühren, Säumniszuschlägen und Mahngebühren zusammensetzte.

5

Unter dem 22.09.2009 bat der Beklagte die für den Wohnsitz des Klägers zuständige Gemeinde A-Stadt um Amtshilfe. Unter dem 05.11.2009 übermittelte der Beklagte dem Prozessbevollmächtigten des Klägers Abschriften der oben genannten Gebührenbescheide und bezifferte die bestehende Schuld auf 588,24 Euro.

6

Am 24. März 2010 gab der Kläger vor dem Amtsgericht … eine eidesstattliche Versicherung bezüglich seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse ab. Er erklärte, dass er kein pfändbares Vermögen besitze, kein Arbeitseinkommen erziele, „EU-Rentner“ sei und von der Allianz Lebensversicherung AG Versicherungsleistungen in Höhe von 2.264,60 Euro pro Monat beziehe, die auf zwei getrennten Verträgen 252 822 144 und 253 847 074 beruhten.

7

Mit Schreiben vom 18.11.2010 – wiederholt am 09.02.2011 – forderte der Beklagte beim Amtsgericht … eine Abschrift des Vermögensverzeichnisses des Klägers an. Diese Abschrift wurde dem Beklagten am 17.02.2011 übermittelt.

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Unter dem 26.04.2011 erließ der Beklagte eine an die Drittschuldnerin (Allianz AG) adressierte Pfändungs- und Einziehungsverfügung über den Gesamtbetrag von 665,69 Euro.

9

Unter dem 06. und 09.05.2011 teilte die Drittschuldnerin dem Beklagten mit, die Lebensversicherung Nr. 253 847 074 sei erloschen; aus der Versicherung Nr. 252 822 144 würden Rentenleistungen erbracht. Außerdem teilte die Drittschuldnerin dem Beklagten mit, dass sie sich mit dem Pfändungsschuldner in Verbindung setzen werde, um den konkreten pfändungsfreien Betrag zu ermitteln.

10

Unter dem zuletzt genannten Datum (09.05.2011) wandte sich die Drittschuldnerin an den Kläger mit der Bitte um Auskunft bezüglich der pfändungsrelevanten Details. Mit Schreiben vom 16.05.2011 berief sich der Kläger auf die Unpfändbarkeit der Erwerbunfähigkeitsrente.

11

Am 25. Mai 2011 hat der Kläger Klage erhoben und geltend gemacht, dass die – im Zeitpunkt der Klageerhebung noch existierende – Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 26.04.2011 aufgehoben werden müsse, weil sie aus formellen und materiellen Gründen rechtswidrig sei. Der Beklagte habe Anhörungs- und Aufklärungspflichten (§ 850 b Abs. 2 und 3 ZPO) verletzt und verkannt, dass nicht abtretbare Forderungen (§ 2 Abs. 2 BetrAVG) nicht gepfändet werden dürfen (§ 851 ZPO). Er, der Kläger, beziehe nur noch eine bis zum 31. März 2012 befristete Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von 1.368,50 Euro pro Monat und müsse – was vollstreckungsrechtlich (§ 850 e ZPO) relevant sei – Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 752,27 Euro pro Monat zahlen. Angesichts seiner Erkrankung sei ihm ein Wechsel der Krankenkasse nicht zuzumuten.

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Der Kläger hat beantragt,

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die Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 26. April 2011 aufzuheben, hilfsweise zu beschränken, weil „dem Kläger über den sich gemäß § 850 c ZPO ergebenden Betrag weitere 752,27 € als unpfändbar belassen werden“ müssen.

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Der Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen,

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und erwidert, dass sich der Kläger auf § 2 Abs. 2 BetrAVG nicht berufen könne, weil es sich um eine Arbeitgeberschutzvorschrift handele. Ebenso wenig lasse sich aus § 850 b ZPO eine Verpflichtung zur Anhörung ableiten.

17

Unter dem 10.06.2011 hat die Drittschuldnerin bei dem Beklagten angefragt, ob die Vollstreckung in Anbetracht der anhängigen Klage (7 A 126/11 MD) ausgesetzt werden könne. Das hat der Beklagte mit Schreiben vom 28. Juni 2011 verneint.

18

Unter dem 22.08.2011 hat die Drittschuldnerin dem Beklagten den gepfändeten Betrag (665,69 Euro) überwiesen. Mit Bescheid vom 07. September 2011 hat der Beklagte die Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 26. April 2011 „mit sofortiger Wirkung“ aufgehoben.

19

Mit Schreiben vom 20.September 2011 hat der Kläger die Klage geändert. Er begehrt nunmehr die Feststellung, dass die Pfändungs- und Einziehungsverfügung des Beklagten vom 26. April 2011 rechtswidrig gewesen sei, und die Rückzahlung des gepfändeten Betrages. Zur weiteren Begründung beruft sich der Kläger auf den Beschluss des … vom 06. Juli 2011, 50 M 3164/11, mit welchem ein Antrag auf Erlass eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses kostenpflichtig abgewiesen wurde, weil sich aus der Erwerbsunfähigkeitsrente des Klägers kein pfändbarer Überschuss ergäbe. Wörtlich führt das … aus:

20

„Grundlage für die Berechnung des unpfändbaren Betrages ist hierbei § 850 c ZPO. Im Einzelnen ergibt sich, dass monatlich durch die Drittschuldnerin ein Betrag von 1368,35 Euro zur Auszahlung gelangt. Unpfändbar nach § 850 c ZPO ist ein Betrag von 1.136,57 Euro. Durch die Drittschuldnerin werden aus den zu zahlenden Rentenbetrag keine Krankenversicherungsbeträge abgeführt. Diese sind durch den Schuldner eigenständig zu zahlen. Krankenversicherungsbeträge in Höhe von mindestens 400,00 Euro werden als angemessen angesehen und sind demnach dem unpfändbaren Betrag hinzuzusetzen. Daher ergibt sich aus der Erwerbsunfähigkeitsrente kein pfändbarer Betrag.“

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Der Kläger beantragt,

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1. festzustellen, dass die Pfändungs- und Einziehungsverfügung des Beklagten vom 26. April 2011 rechtswidrig gewesen ist, und
23
2. den Beklagten zu verurteilen, 665,69 Euro auszukehren.
24

Der Beklagte, der mit Schreiben vom 02.11.2011 in die Klageänderung eingewilligt hat, beantragt,

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die Klage abzuweisen.

26

Mit Beschluss der Kammer vom 9. November 2011 ist der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen worden. Mit Beschluss des Gerichts vom 26. November 2011 ist dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Rechtsanwalts … zu den Bedingungen eines in Sachsen-Anhalt ansässigen Rechtsanwalts bewilligt worden.

27

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig (1.) und begründet (2.).

29

1. Die Klage ist gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1, 2 und 4 VwGO zulässig. Danach hebt das Gericht einen Verwaltungsakt auf, soweit er rechtswidrig und rechtsverletzend ist (§ 113 Abs.1 Satz 1 VwGO). Wenn er schon vollzogen ist, kann das Gericht auch aussprechen, „dass und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat“ (§ 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Dasselbe gilt, wenn „sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt“ (§ 113 Abs.1 Satz 4 VwGO) hat. In solchen Fällen spricht das Gericht – ein berechtigtes Interesse vorausgesetzt – durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, und ordnet die Beseitigung der Folgen an.

30

Dass das Vorstehende richtig und auf den vorliegenden Fall übertragbar ist, erschließt sich aus dem Urteil des 7. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. September 1977, VII C 13.76, Rn.12 ff, veröffentlicht in juris. Dort heißt es:

31

„Zwar hat das Berufungsgericht zu Recht entschieden, dass die Klageanträge zulässig sind (1), und zwar sowohl der Feststellungsantrag (a) als auch der Antrag auf Rückzahlung des Geleisteten (b); die Anträge sind aber unbegründet (2). Deshalb ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt/Main zurückzuweisen.

32

1. a) Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die bei ihm vorgenommene Pfändung rechtswidrig gewesen sei. Das ist zulässig. Die Sachpfändung ist ein Verwaltungsakt, gegen den die Anfechtungsklage nach § 42 VwGO gegeben ist (so Urteil vom 18. November 1960 – BVerwG VII C 184.57 – NJW 1961, 332 = Buchholz 310 Vorbm. III Ziff 4 zu § 42 VwGO Nr. 13; Wolff, Verwaltungsrecht III, 3. Aufl. 1973, § 160 III n 2 S 336, 337; Erichsen in Erichsen-Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl 1977, § 20 I 4a S 200). Da sich die Sachpfändung durch Aufhebung auf Grund von Zahlung erledigt hat, verlangt der Kläger nunmehr die Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit. Ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist gegeben. Es besteht nämlich Wiederholungsgefahr, weil der Kläger im Falle von Einwendungen gegen die Nichtberechtigung von Fernsprechgebührenrechnungen erneut einer Pfändung ausgesetzt werden könnte. Vor allem hat der Kläger auf diese Gelegenheit, im Wege der Folgenbeseitigung nach § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO die Rückzahlung des Geldes zu verlangen; denn die Zahlung ist die erzwungene Folge der Sachpfändung (vgl. Redeker/von Oertzen, VwGO, 5. Aufl. 1975, § 80 RdNr 47). Der Kläger braucht sich nicht darauf verweisen zu lassen, lediglich auf Folgenbeseitigung zu klagen; denn Anfechtung und Folgenbeseitigung bilden nach dem Gesetz eine Einheit, so etwa wie die Anfechtung der Ablehnung, einen Verwaltungsakt zu verfügen, und die Verpflichtung zum Erlass dieses Aktes (vgl. dazu Redeker/von Oertzen, aaO § 113 RdNr 5).

33

b) Dem Klageantrag auf Rückzahlung des Geleisteten steht § 9 Abs. 1 Satz 2 des Fernmeldeanlagengesetzes – FAG – vom 14. Januar 1928 (RGBl. I S 8) nicht entgegen; es handelt sich nämlich nicht um einen Rechtsstreit über die Pflicht zur Zahlung der Gebühren, sondern um die Rückgängigmachung eines vollzogenen Verwaltungsakts im Wege der Folgenbeseitigung. Dabei spielt die Frage, ob der Kläger die Fernsprechgebühren wirklich schuldet, keine Rolle, sondern es ist darüber zu entscheiden, ob die Beklagte zur Pfändung befugt war und ob die Zahlung die unmittelbare Folge der Pfändung ist.“

34

Die vorstehende Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts („Dabei spielt die Frage, ob der Kläger die Fernsprechgebühren wirklich schuldet, keine Rolle, sondern es ist darüber zu entscheiden, ob die Beklagte zur Pfändung befugt war und ob die Zahlung die unmittelbare Folge der Pfändung ist.“) ist voll übertragbar und bildet den Prüfungsmaßstab, der zugrunde zu legen ist.

35

2. Die Klage ist in vollem Umfang begründet. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügung des Beklagten vom 26. April 2011 ist von Anfang an rechtswidrig und rechtsverletzend gewesen, sodass ihre „unmittelbaren Folgen“ (BVerwG a. a. O.) rückgängig zu machen sind.

36

Grundsätzlich darf der Beklagte sofort vollziehbare oder unanfechtbare Leistungsbescheide sowie Nebenleistungen wie Säumniszuschläge und Kosten nach dem Verwaltungsvollstreckungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt – VwVG LSA – vom 23. Juni 1994 (GVBl. LSA S. 710) vollstrecken.

37

Gemäß §§ 45 und 50 VwVG LSA darf der Beklagte Forderungen, die der Vollstreckungsschuldner gegen ein Dritten hat, pfänden und – wenn nötig – einziehen. Soll eine Geldforderung gepfändet werden, so hat die Vollstreckungsbehörde, also der Beklagte (§ 6 Abs. 1 Satz 1 VwVG LSA) dem Drittschuldner schriftlich zu verbieten, an den Vollstreckungsschuldner zu zahlen, und dem Vollstreckungsschuldner schriftlich zu gebieten, sich jeder Verfügung über die Forderung, insbesondere ihrer Einziehung, zu enthalten (§ 45 Abs. 1 Satz 1 VwVG LSA). Die Pfändung ist bewirkt, sobald die Pfändungsverfügung dem Drittschuldner zugestellt ist (§ 45 Abs. 2 Satz 1 VwVG LSA). Die Einziehungsverfügung darf mit der Pfändungsverfügung verbunden werden (§ 50 Abs. 2 VwVG LSA).

38

Bei Erlass von Pfändungs- und Einziehungsverfügungen nimmt die Vollstreckungsbehörde die Funktion wahr, die im Zivilprozess dem Vollstreckungsgericht zufällt (Urteil der Kammer vom 19. Juni 2012, 7 A 310/10 MD; VG Cottbus, Beschluss vom 11. Juni 2009, 6 L 323/08, veröffentlicht in juris). So hat die Vollstreckungsbehörde Vollstreckungshindernisse von Amts wegen zu beachten. Das ergibt sich aus § 55 VwVG LSA. Danach gelten „Beschränkungen und Verbote, die nach den §§ 850 bis 852 der Zivilprozessordnung für die Pfändung von Forderungen und Ansprüchen bestehen“, sinngemäß.

39

Besonderen Pfändungsschutz genießt das Arbeitseinkommen. Es „kann nur nach Maßgabe der §§ 850 a bis 850 i gepfändet werden“ (§ 850 Abs. 1 ZPO). Denselben Pfändungsschutz genießen „Renten, die auf Grund von Versicherungsverträgen gewährt werden, wenn diese Verträge zur Versorgung des Versicherungsnehmers oder seiner unterhaltsberechtigten Angehören eingegangen sind“ (§ 850 Abs. 3 Buchst. b ZPO).

40

Wenn – wie hier – die genannten Renten „wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit“ gezahlt werden, handelt es sich um „bedingt pfändbare Bezüge“ (§ 850 b ZPO). Sie dürfen nur „nach den für Arbeitseinkommen geltenden Vorschriften gepfändet werden, wenn die Vollstreckung in das sonstige bewegliche Vermögen des Schuldners zu einer vollständigen Befriedigung des Gläubigers nicht geführt hat oder voraussichtlich nicht führen wird und wenn nach den Umständen des Falles, insbesondere nach der Art des beizutreibenden Anspruchs und der Höhe der Bezüge, die Pfändung der Billigkeit entspricht“ (§ 850 b Abs. 2 ZPO). „Das Vollstreckungsgericht“ – und das gilt für den Beklagten entsprechend – „soll vor seiner Entscheidung die Beteiligten hören“ (§ 850 b Abs. 3 ZPO).

41

Diese Vorgaben (§ 850 b Abs. 2 und 3 ZPO) hat der Beklagte, was sich aus den beigezogenen Verwaltungsvorgängen erschließt, außer Acht gelassen, obwohl er sie hätte beachten können und beachten müssen. Aus der vom Beklagten angeforderten und vom Amtsgericht Halle-Saalkreis am 17. Februar 2011 überlassenen Abschrift des Vermögensverzeichnisses des Klägers vom 24. März 2010 ging hervor, dass der Kläger „EU-Rentner“ war und außer Erwerbsunfähigkeitsrenten – damals in Höhe von 2.264,60 Euro monatlich – kein pfändbares Einkommen bzw. Vermögen hatte. Mithin hätte der Beklagte vor Erlass der Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 26. April 2011 die Beteiligten anhören sollen, um zu ermitteln, ob „nach den Umständen des Falles, insbesondere nach der Art der beizutreibenden Forderung und der Höhe der Bezüge, die Pfändung der Billigkeit entspricht“ (§ 850 b Abs. 2 ZPO).

42

Durch die – nach Auffassung des Gerichts gebotene – Anhörung hätte der Beklagte schon vor Erlass der Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 26. April 2011 erfahren, dass der Kläger von den beiden in der Abschrift des Vermögensverzeichnisses erwähnten Renten nur noch die bis zum 31. März 2012 befristete Rente Nr. 252 822 144 in Höhe von 1.368,50 Euro monatlich bezieht und Ausgaben für seine private Krankenversicherung in Höhe von 752,27 Euro pro Monat aufzubringen hat.

43

Die Anhörung hätte den Beklagten als Vollstreckungsbehörde in die Lage versetzt, die Feststellung treffen zu können, die das Amtsgericht … als Vollstreckungsgericht nach Anhörung der Beteiligten (Kläger und Allianz AG) in seinem Beschluss vom 08. Juli 2011, 50 M 3164/11, getroffen hat:

44

„Grundlage für die Berechnung des unpfändbaren Betrages ist hierbei § 850 c ZPO. Im Einzelnen ergibt sich, dass monatlich durch die Drittschuldnerin ein Betrag von 1368,35 Euro zur Auszahlung gelangt. Unpfändbar nach § 850 c ZPO ist ein Betrag von 1.136,57 Euro. Durch die Drittschuldnerin werden aus den zu zahlenden Rentenbetrag keine Krankenversicherungsbeträge abgeführt. Diese sind durch den Schuldner eigenständig zu zahlen. Krankenversicherungsbeträge in Höhe von mindestens 400,00 Euro werden als angemessen angesehen und sind demnach dem unpfändbaren Betrag hinzuzusetzen. Daher ergibt sich aus der Erwerbsunfähigkeitsrente kein pfändbarer Betrag.“

45

Die vorstehende Berechnung macht sich das Gericht zu Eigen. Die Berechnung zeigt, dass die Pfändungs- und Einziehungsverfügung des Beklagten vom 26. April 2011 nicht hätte erlassen werden dürfen, weil sie die Pfändungsgrenzen für Arbeitseinkommen (§§ 850 c und 850 e ZPO) verletzt.

46

Der Umstand, dass der Kläger keinen Eilrechtsschutz in Anspruch genommen hat, kann das Fortbestehen der formell und materiell rechtswidrig erlassene Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 26. April 2011 nicht im Sinne des § 23 Abs. 2 Satz 2 VwVG LSA rechtfertigen. Vielmehr hätte der Beklagte die – aufgrund unterlassener Anhörung erst im Nachhinein gewonnenen – Informationen bezüglich der konkreten Pfändungsgrenzen (Schreiben der Drittschuldnerin vom 06. und 09. Mai 2011, Klageschrift vom 25. Mai 2011 und Beschluss des Amtsgerichts … vom 08. Juli 2011) zum Anlass nehmen müssen, die Vollstreckung sofort einzustellen (§ 23 Abs. 1 Nr. 5 VwVG LSA analog). Es wäre dann nicht mehr zur Beitreibung gekommen, die im August 2011 stattgefunden hat.

47

Mithin ist festzustellen, dass die Pfändungs- und Einziehungsverfügung des Beklagten vom 26. April 2011 rechtswidrig gewesen ist. Außerdem musste der Beklagte zur Rückzahlung verurteilt werden, weil das Gericht nicht darüber zu entscheiden hat, ob der Kläger Müllgebühren, Säumniszuschläge und Mahnkosten schuldet, sondern darüber, ob der „Beklagte zur Pfändung befugt war und ob die Zahlung die unmittelbare Folge der Pfändung ist“, BVerwG a. a.O.).

48

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

49

Der Teil des Urteils, der zur Rückzahlung verpflichtet, ist gemäß § 167 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 709 ZPO gegen Zahlung einer Sicherheit in Höhe von 1.200,00 Euro vorläufig vollstreckbar.

50

Die Streitwertfestsetzung wird auf § 52 Abs. 3 GKG gestützt.


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