Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (1. Kammer) - 1 B 53/19

Tenor

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000, -- € festgesetzt.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

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Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Voraussetzung hierfür ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch, d. h. der materielle Anspruch, für den der Antragsteller um vorläufigen Rechtsschutz nachsucht, als auch ein Anordnungsgrund, der insbesondere die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung begründet, glaubhaft gemacht werden, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.

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Gemessen an diesen Vorgaben hat der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch auf Aussetzung der Abschiebung unter Erteilung einer (längerfristigen) Duldung glaubhaft gemacht. Es liegen keine Gründe dafür vor, nach denen die Abschiebung des Antragstellers nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG tatsächlich oder rechtlich unmöglich wäre. Nach dieser Vorschrift ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.

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Eine Abschiebung des Antragstellers erweist sich nicht im Hinblick auf einen geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder wegen Unzumutbarkeit einer vorübergehenden räumlichen Trennung von seinem Kind als rechtlich unmöglich im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG.

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In den Fällen, in denen der Antrag auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis eine Fiktionswirkung mit einhergehendem Bleiberecht (§ 81 Abs. 3 und 4 AufenthG) nach der Entscheidung des Gesetzgebers – so wie vorliegend – nicht auslöst, scheidet aus gesetzessystematischen Gründen die Erteilung einer Duldung für die Dauer des Erteilungsverfahrens grundsätzlich aus. Dieser Grundsatz beruht auf der Erwägung, dass dies der in den §§ 50, 58 Abs. 1 und 2, 81 Abs. 3 und 4 AufenthG zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Wertung widerspräche, die für die Dauer eines Aufenthaltsgenehmigungsverfahrens ohne Hinzutreten besonderer Umstände nur unter den Voraussetzungen des § 81 AufenthG ein Bleiberecht gewährt. Eine spezielle „Duldung“ für die Dauer des ausländerbehördlichen Verfahrens bis zu einer behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung allein wegen des Vorliegens eines solchen behördlichen Verfahrens und eines etwaigen Anspruchs auf Aufenthaltserlaubnis kommt nicht in Betracht, weil das Gesetz einen solchen Fall grundsätzlich nicht vorsieht, sondern gerade ausschließt (Beschluss des Gerichts vom 10. August 2017 – 1 B 75/17 – mwN; OVG Münster, Beschluss vom 11. Januar 2016 – 17 B 890/15 –; OVG Magdeburg, Beschluss vom 14. Oktober 2009 – 2 M 142/09 –; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Februar 2006 – 7 S 65.05 –; VG Aachen, Beschluss vom 24. Mai 2016 – 8 L 1025/15 –; VG Trier vom 14. Dezember 2011 – 1 L 1537/11 TR – alle zitiert nach Juris; Bergmann/Dienelt Ausländerrecht, AufenthG § 81 Rn. 40-47, beck-online).

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Allerdings sind Ausnahmen von diesem Grundsatz insoweit anerkannt, als sich einer Abschiebung entgegenstehende rechtliche Hindernisse im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben können, die ihre Grundlage etwa in den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (Leben und körperliche Unversehrtheit), 6 Abs. 1 GG (Ehe und Familie) oder Art. 8 EMRK (Familien- und Privatleben) haben. Zum anderen können Abschiebungsverbote aber auch ausnahmsweise aus Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit einfachgesetzlichen Rechten folgen, wenn diese Rechte dem Ausländer eine Rechtsposition einräumen, die durch eine Abschiebung verloren gehen würde (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05. Dezember 2011 – 18 B 910/11 –, Rn. 4, juris). Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn sich der Ausländer auf § 39 AufenthV (iVm § 99 AufenthG) berufen kann, der die Möglichkeit der Einholung eines Aufenthaltstitels vom Bundesgebiet aus vorsieht.

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Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 39 AufenthV für eine inländische Titelbeantragung – etwa zur Familienzusammenführung mit einem minderjährigen ledigen Deutschen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG – sind indes hier nicht gegeben. Nach § 39 Nr. 3 AufenthV kann über die im AufenthG geregelten Fälle hinaus ein Ausländer einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen oder verlängern, wenn er Staatsangehöriger eines in Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 (jetzt Verordnung (EU) Nr.1806/2018) aufgeführten Staates ist und sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach der Einreise entstanden sind. Der Antragsteller hält sich jedoch seit seiner letzten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland hier nicht rechtmäßig auf. Zwar bedurfte der Antragsteller als Staatsangehöriger Nordmazedoniens nach Art. 1 Abs. 2 i.V.m. Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 (EU-VisaVO) für das Überschreiten der Außengrenze der Bundesrepublik Deutschland für einen Aufenthalt, der 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen nicht überschreitet, grundsätzlich keines Visums, weil er in Besitz eines biometrischen Reisepasses gewesen ist. Eine titelfreie, d. h. visumfreie, Einreise ist allerdings nur dann erlaubt im Sinne von § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, wenn der beabsichtigte Aufenthaltszweck sich nur auf einen Kurzaufenthalt im Sinne von Art. 1 Abs. 2 EU-VisaVO richtet (so Bayerischer VGH, Beschluss vom 21. Juni 2013 – VGH 10 CS 13.1002 –, juris Rn. 13). Deshalb ist unter dem Aspekt der Aufenthaltsdauer für die Frage, ob eine Befreiung von der Visumpflicht nach Art. 1 Abs. 2 EU-VisaVO besteht, maßgeblich, welche Absichten bzw. Vorstellungen der Betreffende im Zeitpunkt der Einreise in Bezug auf die Aufenthaltsdauer hat. Für die Anwendbarkeit der Befreiungsvorschrift des Art. 1 Abs. 2 EU-VisaVO kommt es darauf an, ob der Ausländer schon bei der Einreise einen Aufenthalt beabsichtigt, der wegen der Überschreitung des zeitlichen Rahmens eines Visums bedurft hätte. Ein Staatsangehöriger eines der in Anhang II der EU-VisaVO genannten Staaten reist aus diesem Grund dann unerlaubt ein, wenn er bereits bei der Einreise die Absicht hat, sich länger als 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen im Bundesgebiet oder im Gebiet der Anwenderstaaten aufzuhalten. Dies ist bei dem Antragsteller zweifelsfrei der Fall gewesen. Dafür spricht insbesondere, dass er sich nach der Einreise bei der Meldebehörde am Wohnsitz seiner Lebensgefährtin angemeldet hat und die Geburt des gemeinsamen Kindes bevorstand. Darüber hinaus hat der Antragsteller den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ohnehin erst nach Ablauf eines 90-tägigen Zeitraums nach der Einreise gestellt.

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Einem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht auch das Fehlen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG entgegen, denn für den vom Antragsteller letztlich begehrten Daueraufenthalt aus familiären Gründen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG bedarf es der erfolgreichen Durchführung des erforderlichen Visumverfahrens. Gründe, die die Einhaltung des Visumverfahrens unzumutbar machen und zu einer auf null reduzierten Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG des Absehens vom Visumverfahren führen, sind nicht gegeben. Nach dieser Vorschrift kann von dem Erfordernis, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumsantrag gemacht hat, abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumsverfahren nachzuholen. Unter einem „Anspruch“ im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist ebenso wie bei vergleichbaren Formulierungen im Aufenthaltsrecht – etwa in § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG oder in § 39 Nr. 3 AufenthV – grundsätzlich nur ein strikter Rechtsanspruch zu verstehen. Ein solcher Rechtsanspruch liegt nur dann vor, wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind und die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2010 – 1 C 17.09 – BVerwGE 138, 122 = Buchholz 402.242 § 6 AufenthG Nr. 1, jeweils Rn. 24 zu § 39 Nr. 3 AufenthV; Urteil vom 16. Dezember 2008 – 1 C 37.07 – BVerwGE 132, 382 = Buchholz 402.242 § 10 AufenthG Nr. 2, jeweils Rn. 21 ff. zu § 10 Abs. 3 AufenthG; Urteil vom 10. Dezember 2014 – 1 C 15/14 –, Rn. 19, juris).

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Der Antragsteller hat jedoch keinen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, weil ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besteht. Der Antragsteller hat zumindest durch seinen illegalen Aufenthalt im Bundesgebiet während des Zeitraums, in dem die Abschiebung nicht ausgesetzt war, den objektiven Tatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfüllt. Der sich aus der Erfüllung des Straftatbestandes ergebende Verstoß gegen Rechtsvorschriften war weder vereinzelt noch, da es sich um vorsätzliche Verstöße handelte und der illegale Aufenthalt über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten wurde, geringfügig und begründet das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses gem. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Darauf, ob der Antragsteller tatsächlich hätte ausgewiesen werden können, kommt es ebenso wenig an wie darauf, dass er nicht verurteilt worden ist. Das sich daraus ergebende Ausweisungsinteresse ist noch aktuell, weil jedenfalls die generalpräventiven Zwecke noch fortbestehen. Allerdings kann nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs von dem Fehlen eines Ausweisungsinteresses im Ermessenswege abgesehen werden. Der Antragsteller hätte selbst bei einer Ermessensreduzierung auf null aber keinen Rechtsanspruch im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Eine Ermessensreduzierung auf null bei der Befugnis zu einer Ermessensentscheidung ist insoweit nicht ausreichend (vgl. zuletzt BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 27 m.w.N.; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 24. Januar 2019 – 10 CE 18.1871 –, Rn. 26, juris). Daneben fehlte es – jedenfalls bislang nach dem eigenen Vortrag des Antragstellers – für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an der Erfüllung der Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG).

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Die mit der Nachholung des Visumverfahrens verbundene (zeitlich beschränkte) Trennung des erst wenige Monate alten Kindes vom Antragsteller führt nicht zu einer Unzumutbarkeit im Sinne des § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG oder zu einer rechtlichen Unmöglichkeit einer Abschiebung.

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Eine rechtliche Unmöglichkeit einer Abschiebung im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann sich aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, die aus Verfassungsrecht etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG oder aus Art. 8 Abs. 1 EMRK herzuleiten sind. Nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige Belange können einer Beendigung des Aufenthalts dann entgegenstehen, wenn es dem Ausländer nicht zuzumuten ist, seine familiären Bindungen durch Ausreise auch nur kurzfristig zu unterbrechen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 1997 – 1 C 9.95 –, BVerwGE 105, 35, 39 f.; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 20. Mai 2009 – 11 ME 110/09 –, juris Rn. 10; jeweils m.w.N.). Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst das Recht auf ein familiäres Zusammenleben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12. Mai 1987 – 2 BvR 1226/83 u.a. –, BVerfGE 76, 1, 42). Er knüpft dabei nicht an bloße formalrechtliche familiäre Bindungen an. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, mithin eine tatsächlich bestehende familiäre Lebensgemeinschaft (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 2. Februar 2011 – 8 ME 305/10 –, InfAuslR 2011, 151 m.w.N.). Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie zunächst als tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern. Von einer solchen familiären Lebensgemeinschaft ist vorliegend auszugehen. Der neben seiner Lebensgefährtin sorgeberechtigte Antragsteller kümmert sich seit der Geburt um das Kind, er lebt zusammen mit seiner Lebensgefährtin und dem Kind in einer familiären Lebensgemeinschaft. Insbesondere kümmert er sich auch um das Kind, wenn seine Lebensgefährtin berufsbedingt abwesend ist.

12

Dieser beschriebenen verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1999 – 2 BvR 1523/99 –, InfAuslR 2000, S. 67 <68>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 – 2 BvR 1935/05 –, NVwZ 2006, 682 <683>). Kann die bereits gelebte Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, weil weder dem Kind noch seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland zumutbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 – 2 BvR 1935/05 –, NVwZ 2006, S. 682 f.), so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor der Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2002 – 2 BvR 231/00 –, InfAuslR 2002, S. 171 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Mai 2008 – 2 BvR 588/08 –, InfAuslR 2008, S. 347 <348>).

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Im Zuge dieser Verpflichtung der Ausländerbehörde ist bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu jedem Elternteil und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen. Ein hohes, gegen eine Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 – 2 BvR 1935/05 –, NVwZ 2006, S. 682 <683>).

14

Unter Anlegung dieser Maßstäbe ist die durch die Nachholung des Visumverfahrens – oder auch einer Abschiebung des Antragstellers – eintretende Trennung von seinem Kind jedenfalls für eine gewisse kurze Zeit hinzunehmen; sie ist hier mit dem verfassungsrechtlich bzw. menschenrechtlich gebotenen Schutz von Ehe und insbesondere Familie im Sinne von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vereinbar.

15

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die schützenswerte Vater-Kind-Beziehung keine derartige zeitliche Unterbrechung erfahren darf, die zu einem vollständigen Verlust derselben führt. Gerade in dem hier gegebenen Kindesalter von nur wenigen Monaten ist der Aufbau einer sicheren Bindung angesichts der Entwicklung des Kindes von einem regelmäßigen persönlichen Kontakt des Kindes zu den Eltern abhängig. Der persönliche Kontakt zu der Mutter ist weiterhin ununterbrochen gewährleistet. Eine den Zeitraum von etwa 3 - 4 Monaten deutlich übersteigende Trennungszeit des Kindes von dem anderen Elternteil, hier dem Vater, dürfte im Sinne des Kindeswohls nicht mehr hinnehmbar sein. Wegen der bestehenden Bindungen des Kindes zur Mutter würden damit zwar nicht unbedingt seelische Schäden des Kindes drohen. Damit wäre jedoch die auch aus beruflichen Gründen bei anderen Paaren gelegentlich übliche Trennungszeit des anderen Elternteils überschritten und der andere Elternteil für einen wesentlichen Zeitraum von dem Kontakt zum Kind ausgeschlossen. Bei Kleinkindern von unter 3 Jahren, bei denen eine Trennungszeit von einem Elternteil von über 6 Monaten infrage steht und bei denen dadurch etwa ein halbes Jahr mehr als ein Sechstel des eigenen Lebens ausmachen würde, wäre mit der Nachholung des Visumsverfahrens zuzuwarten, bis das Kind dem Kleinkindalter entwachsen ist und ihm die Möglichkeit offensteht, den Kontakt zu der Bezugsperson anderweitig, etwa brieflich oder telefonisch, weiter aufrecht zu erhalten (vgl. Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 02. November 2012 – 3 B 199/12 –, Rn. 3, juris).

16

Es ist gegenwärtig nicht sichergestellt, dass der Antragsteller das Visumsverfahren insgesamt innerhalb eines Zeitraums von 3-4 Monaten nachholen könnte. In dem Merkblatt der Botschaft der Bundespolitik Deutschland in Skopje heißt es wie folgt:

17

„MERKBLATT VISA ZUM NACHZUG VON ELTERN ZU IHREN KINDERN

18

Termine können nur noch online über unsere Webseite gebucht werden. Die Antragstellung muss persönlich erfolgen. Die Gebühren für die Erteilung eines Visums betragen 75.- Euro. Alle Unterlagen müssen im Original und mit 2-facher Kopie vorgelegt werden.

19

Bei Antragstellung sind vorzulegen/nachzuweisen: 2 Antragsformulare, vollständig, leserlich auf Deutsch ausgefüllt und eigenhändig unterschrieben (in lateinischen Buchstaben). 2 aktuelle biometrische Lichtbilder. Reisepass mit ausreichender Gültigkeitsdauer, im Original und 2-facher Kopie.

20

Beim Nachzug zu erwachsenen Kindern, zusätzlich noch: Passkopie, ggf. mit Aufenthaltstitel und Meldebescheinigung bzw. Nachweis über Wohnorte, aller Kinder, je 2-fache Kopien. Internationale Geburtsurkunde aller Kinder, im Original und 2-facher Kopie. Internationale Sterbeurkunde, sofern der Ehepartner des Antragstellers bereits verstorben ist, im Original und 2-facher Kopie. Ärztliche Bescheinigung über den Gesundheitszustand des Antragstellers, im Original mit Übersetzung ins Deutsche und je 2-fache Kopien. Die Botschaft weist darauf hin, dass der Vertrauensarzt der Botschaft um ein weiteres Gutachten gebeten werden kann. Die Kosten hierfür gehen zu Lasten des Antragstellers.

21

Beim Nachzug zu minderjährigen Kindern, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, zusätzlich noch: Passkopie des deutschen Kindes, ggf. Nachweis der deutschen Staatsangehörigkeit, in 2-facher Kopie. Meldebescheinigung des deutschen Kindes, bzw. Nachweis über den Wohnort des in Deutschland lebenden Elternteils, im Original und 2-facher Kopie, Geburtsurkunde des Kindes, im Original und 2-facher Kopie. Passkopie des in Deutschland lebenden Elternteils, in 2-facher Kopie. bei nicht verheirateten Eltern und Nachzug des ausländischen Vaters, zusätzlich noch: Vaterschaftsanerkennung, im Original und 2-facher Kopie und Sorgerechtsbeschluss, im Original und 2-facher Kopie.

22

Bitte beachten Sie: Über die aufgeführten Dokumente hinaus können je nach Einzelfall weitere Unterlagen erbeten werden. Die Bearbeitungsdauer beträgt in der Regel 3 Monate.“

23

Auf der Internetseite heißt es dann zur Beantragung von Visa unter anderem auch zur Familienzusammenführung:

24

„Termine für die Beantragung von Visa werden ausschließlich über das Online-System der Botschaft vereinbart. Sie können sich jederzeit für eine Terminvergabe registrieren. Bei erfolgreicher Registrierung erhalten Sie eine Referenznummer. Sollten Sie keine erhalten, war Ihre Anmeldung erfolglos und Sie müssen diese wiederholen. Die aktuellen Wartezeiten für einen Termin betragen bei einem Arbeitsvisum ca. 12 Monate, bei Familienzusammenführungen ca. 4 - 6 Monate, bei Studentenvisa, Blauer Karte und Arbeitsvisa für Fachkräfte mit in Deutschland anerkannter Qualifizierung ca. 3 Wochen. Beachten Sie, dass Ihr Antrag nur dann angenommen wird, wenn Sie sich für die richtige Kategorie registriert haben! Die Bestätigung mit der Benennung Ihres konkreten Termins erhalten Sie ca. 6 Wochen vor dem Termin für die Abgabe des Antrags. Es wird gebeten, von weiteren Nachfragen abzusehen.

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Wir weisen darauf hin, dass derzeit aufgrund der großen Nachfrage leider mit längeren Wartezeiten gerechnet werden muss. Im Moment hat die Botschaft keine Möglichkeit für die Vergabe von kurzfristigen Terminen.“ ( https://skopje.diplo.de/mk-de/service/05-VisaEinreise ).

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Das bedeutet, dass zu der Zeit für die Bearbeitung des Antrages von etwa 3 Monaten noch die erhebliche Zeit von etwa 4-6 Monaten hinzuzurechnen ist, bis überhaupt ein Antrag gestellt werden kann. Allerdings kann ein Termin für die Antragstellung auch online schon von Deutschland aus beantragt werden, dafür wird zwar eine Passnummer benötigt, der Antragsteller könnte dazu jedoch auch die Nummer des verloren gegangenen Passes angeben und sich auf dieser Seite anmelden: https://service2.diplo.de/rktermin/extern/appointment_showForm.do?locationCode=skop&realmId=629&categoryId=1311

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Ein längerer Trennungszeitraum von über 3 Monaten wäre jedoch vorliegend mit der Nachholung eines Visumsverfahrens nicht zwangsläufig verbunden. Der Antragsgegner hat zu Recht darauf verwiesen, dass der Antragsteller jederzeit für einen Zeitraum von bis zu 90 Tagen innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen visumfrei für einen beabsichtigten Kurzaufenthalt in die Bundesrepublik Deutschland einreisen könnte. Ein längerer Trennungszeitraum könnte so trotz Durchführung des Visumsverfahrens vermieden werden. Dies setzt allerdings voraus, dass der Antragsteller in Besitz eines biometrischen Reisepasses ist. Der Antragsteller ist in der Vergangenheit in Besitz eines solchen Reisepasses gewesen. Er behauptet nunmehr, den Reisepass verloren zu haben, ohne dass er in der Lage ist, die genauen Umstände dieses Verlusts nachvollziehbar zu beschreiben. Ein neuer Pass ist bei der Botschaft in Berlin beantragt, ob der Pass aktuell bereits ausgestellt worden ist, ist dem Gericht nicht bekannt; die für die Ausstellung eines solchen Reisepasses von dem Antragsteller zunächst genannten Zeiträume sind längst verstrichen, weitere Hinderungsgründe sind nicht bekannt. Es sind für das Gericht keine nachvollziehbaren Gründe dafür ersichtlich, dass dem Antragsteller – sollte er vor der Ausreise aus Deutschland keinen Pass erhalten – den Pass nicht auch in Nordmazedonien erhalten könnte, entweder durch Übersendung des Passes von der Botschaft in Berlin an die Behörden in Nordmazedonien oder durch Neuausstellung von den dortigen Behörden. Gründe für eine weitere Verzögerung bei der Ausstellung eines Reisepasses, die zuvor immer wieder genannt werden konnten, sind jedenfalls nicht ersichtlich.

28

Ob die Folgen einer befristeten Trennung auch dadurch abgemildert werden könnten, dass die schwangere Lebensgefährtin des Antragstellers ihn mit dem Kind in der Heimat besucht, kann allerdings ohne weitere Aufklärung des Sachverhalts nicht unterstellt werden. Es sind bislang keine hinreichenden Gründe dafür ersichtlich, dass die Nachholung des Visumsverfahrens wegen der erneuten Schwangerschaft der Lebensgefährtin des Antragstellers unzumutbar sein könnte. Im Übrigen würde auch eine möglicherweise erforderliche Unterbrechung der Berufstätigkeit der Lebensgefährtin des Antragstellers nicht zu einer Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumsverfahrens führen.

29

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung findet ihre Grundlage in §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.

30

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist mangels Erfolgsaussichten (§ 114 S. 1 ZPO iVm § 166 VwGO) aus den oben dargelegten Gründen abzulehnen.


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