Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 1 S 2547/16

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 1. Dezember 2016 - 7 K 3666/16 - geändert.

Der Klägerin wird für das Verfahren im ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Frank Schwerdtner, Bad Säckingen, als Prozessbevollmächtigter beigeordnet. Die Klägerin hat keine monatlichen Raten auf die Prozesskosten zu zahlen.

Gründe

 
Die nach § 146 Abs. 1 VwGO statthafte und auch im Übrigen zulässig erhobene Beschwerde der Klägerin gegen den die Gewährung von Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 01.12.2016 ist begründet.
Gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen vor.
1. Die Klägerin, die Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch zur Tragung der Kosten ihrer vollstationären Pflegeheimunterbringung bezieht, kann die Kosten der Prozessführung nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen derzeit - auch in Raten - nicht aufbringen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 114, 117 Abs. 2 und 4 ZPO). Das gilt unabhängig von der zwischen den Beteiligten im Einzelnen umstrittenen Frage, mit welchem Wert das Grundstück ..., zu bemessen ist. Denn die Klägerin ist nicht der Lage, diesen Nachlassgegenstand für die Rechtsverfolgung einzusetzen, da sie über ihn gegenwärtig nicht verfügen kann (vgl. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 115 Abs. 3 Satz 1 ZPO und Fischer, in: Musielak/Voit, ZPO, 13. Aufl., § 115 Rn. 35).
2. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bot im Zeitpunkt der Bewilligungsreife (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 02.12.2004 - 12 S 2793/04 - VBlBW 2005, 197) auch hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Zur Gewährung von Prozesskostenhilfe ist nicht erforderlich, dass der Prozesserfolg (annähernd) gewiss ist. Vielmehr besteht eine hinreichende Erfolgsaussicht schon dann, wenn ein Obsiegen ebenso wahrscheinlich erscheint wie ein Unterliegen, der Prozessausgang also offen ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.04.2000 - 1 BvR 81/00 - NJW 2000, 1938, v. 13.07.2005 - 1 BvR 1041/05 - NVwZ 2005, 1418 und v. 14.06.2006 - 2 BvR 626/06 - InfAuslR 2006, 377; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.07.2005 - 11 S 1807/04 - und v. 23.11.2004 - 7 S 2219/04 - VBlBW 2005, 196). So liegt der Fall hier.
Rechtsgrundlage für die Vollstreckung von Verwaltungsakten, die - wie hier der Gebührenbescheid vom 28.05.2014 - zu einer Geldleistung verpflichten, in Form der Pfändung und Einziehung einer Geldforderung ist § 15 Abs. 1 LVwVG i.V.m. §§ 309, 314 AO. Danach hat die Vollstreckungsbehörde dem Drittschuldner schriftlich zu verbieten, an den Vollstreckungsschuldner zu zahlen, und dem Vollstreckungsschuldner schriftlich zu gebieten, sich jeder Verfügung über die Forderung, insbesondere ihrer Einziehung, zu enthalten (§ 309 Abs. 1 Satz 1 AO). Mit dieser Pfändungsverfügung kann die Anordnung der Einziehung der gepfändeten Forderung (Einziehungsverfügung) verbunden werden (vgl. § 314 Abs. 1 und 2 AO).
Auf die so zu bewirkende Beitreibung sind gemäß § 15 Abs. 1 LVwVG (u.a.) die §§ 316 bis 327 AO sinngemäß mit der Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle des Vollziehungsbeamten der Vollstreckungsbeamte tritt. Danach gelten gemäß § 319 AO Beschränkungen und Verbote, die nach §§ 850 bis 852 ZPO und anderen gesetzlichen Bestimmungen für die Pfändung von Forderungen und Ansprüchen bestehen, sinngemäß. Zu den „anderen gesetzlichen Bestimmungen“ zählt insbesondere § 54 Abs. 4 SGB I (vgl. Fritsch, in: Koenig, AO, 3. Aufl., § 319 Rn. 64; Brockmeyer, in: Klein, AO, 9. Aufl., § 319 Rn. 30). Nach dieser Vorschrift können sozialrechtliche Ansprüche auf laufende Geldleistungen mit Ausnahme der in § 54 Abs. 3 SGB I genannten Ansprüche, aber einschließlich der Alters- und Hinterbliebenenrenten (vgl. Fritsch, a.a.O., § 319 Rn. 68) wie Arbeitseinkommen gepfändet werden. Auch für die Pfändung solcher sozialrechtlicher Ansprüche gelten deshalb die für Arbeitseinkommen maßgeblichen Pfändungsschutzvorschriften der §§ 850c ff. ZPO entsprechend (Fritsch, a.a.O., § 319 Rn. 15 ff., 69).
a) In der Beitreibung sind daher zum einen die allgemeinen Pfändungsgrenzen für Arbeitseinkommen aus § 850c ZPO i.V.m. der Anlage zu dieser Vorschrift zu beachten. Inwieweit die Beklagte diese Grenzen in den Blick genommen hat, vermag der Senat im vorliegenden Prozesskostenhilfeverfahren nicht abschließend zu beurteilen. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 14.07.2016 enthält lediglich den Hinweis, die Pfändung des Arbeitseinkommens (hier: der Renten) der Klägerin erfolge mit den „umseitig angegebenen Beschränkungen“. Ein umseitiges Blatt mit dahingehenden Angaben ist aber weder in der Verwaltungsakte (vgl. insb. Bl. 33 f. d. Verw.-Akte) noch sonst ersichtlich. Nach Aktenlage liegt die Annahme nahe, dass die Beklagte im Ergebnis darauf verzichtet hat, die Höhe des nach § 850c ZPO pfändbaren Betrages selbst zu berechnen, und diese Berechnung stattdessen der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg als Drittschuldnerin überlassen hat. Diese Vorgehensweise allein begegnet voraussichtlich keinen durchgreifenden Bedenken, falls die Beklagte die für eine solche sog. Blankettverfügung geltenden Voraussetzungen erfüllt, d.h. in der Pfändungsverfügung auf die Tabelle nach § 850c ZPO verwiesen hat (vgl. § 850c Abs. 3 Satz 1 ZPO und dazu Becker, in: Musielak/Voigt, a.a.O., § 850c Rn. 7; allg. zur grundsätzlichen Zulässigkeit von Blankettbeschlüssen bzw. -verfügungen OVG NRW, Beschl. v. 06.07.1977 - II B 675/77 - juris; Brockmeyer, a.a.O., § 319 Rn. 13 f.; Wolf, in: Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl., § 319 Rn. 3/4; Becker, a.a.O., § 850 Rn. 17; Smid, in: MüKo-ZPO, 5. Aufl., § 850 Rn. 16; zu den Grenzen auch NdsOVG, Urt. v. 25.09.2008 - 8 LC 90/07 - BeckRS 2008, 41211). Ob die Beklagte diese aus § 850c ZPO folgende Voraussetzung für den Erlass einer Blankettverfügung hier erfüllt hat, bedarf keiner weiteren Prüfung, da die Klage jedenfalls mit Blick auf die weitere Pfändungsschutzvorschrift des § 850f Abs. 1 ZPO hinreichende Aussicht auf Erfolg hat.
b) Der von dem Verweis in § 15 Abs. 1 LVwVG, § 319 AO und § 54 Abs. 3 SGB I ebenfalls erfasste § 850f Abs. 1 ZPO bestimmt in seinem unmittelbaren Anwendungsbereich, dass das „Vollstreckungsgericht“ dem Schuldner „auf Antrag“ von dem nach den Bestimmungen (u.a.) des § 850c ZPO pfändbaren Teil seines Arbeitseinkommens einen (weiteren) Teil belassen kann, wenn der Schuldner nachweist, dass bei Anwendung der Pfändungsfreigrenzen entsprechend der Anlage zu § 850c ZPO der notwendige Lebensunterhalt im Sinne des Dritten, Vierten und Elften Kapitels des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch oder nach Kapitel 3 Abschnitt 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für sich (und für die Personen, denen er Unterhalt zu gewähren hat,) nicht gedeckt ist, oder wenn besondere Bedürfnisse des Schuldners aus persönlichen oder beruflichen Gründen dies erfordern und überwiegende Belange des Gläubigers nicht entgegenstehen. Mit der ersten dieser beiden Alternativen soll insbesondere sichergestellt werden, dass das dem Vollstreckungsschuldner verbleibende Resteinkommen den individuellen - und deshalb erforderlichenfalls konkret zu ermittelnden - Sozialhilfebedarf nicht unterschreitet (vgl. Tipke/Kruse, AO/FGO, Stand 146. Erg.-Lfg., AO, § 319 Rn. 50; Fritsch, a.a.O., § 319 Rn. 23 f. m.w.N.).
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Bei der sinngemäßen Anwendung der besonderen Pfändungsschutzvorschrift aus § 850f Abs. 1 ZPO im Verwaltungsvollstreckungsverfahren ergeben sich allerdings Modifikationen aus den Besonderheiten dieses Verfahrens. Zum einen ist für die Entscheidung über die Gewährung eines erweiterten Pfändungsschutzes nach § 850f Abs. 1 ZPO nicht „das Vollstreckungsgericht“, sondern die Vollstreckungsbehörde zuständig (vgl. BFH, Urt. v. 24.10.1996 - VII R 114/94 - DStRE 1998, 29; NdsFG, Beschl. v. 02.02.2015 - 15 V 207/14 - EFG 2015, 740; VG Cottbus, Beschl. v. 11.06.2009 - 6 L 323/08 - juris; Tipke/Kruse, a.a.O., § 319 Rn. 1; Brockmeyer, a.a.O., § 319 Rn. 19; Wolf, a.a.O., § 319 Rn. 1; App/Wettlaufer, Verwaltungsvollstreckungsrecht, 4. Aufl., § 26 Rn. 13; Fliegauf/Maurer, VwVG BW, 2. Aufl., S. 152). Zum anderen hat diese Behörde die Entscheidung nicht lediglich „auf Antrag“ zu treffen, sondern - bereits bei Erlass der Pfändungsverfügung - von Amts wegen zu prüfen, ob Pfändungsschutz nach § 850f Abs. 1 ZPO zu gewähren ist (vgl. Fritsch, a.a.O., § 319 Rn. 1, 26; Brockmeyer, a.a.O., § 319 Rn. 3; Beermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Stand 239. Erg.-Lfg. § 319 Rn. 6, 71). Die ihr dazu obliegenden Sachverhaltsermittlungen und die Entscheidung selbst kann sie - anders als die einfache Berechnung nach § 850c ZPO - auch nicht dem Drittschuldner überlassen (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 06.07.1977, a.a.O.; BSG, Urt. v. 12.06.1992 - 11 Rar 139/90 - SozR 3-1200 § 54 Nr. 1; BayLSG, Urt. v. 15.05.2009 - L 9 AL 491/05 - juris; LSG NRW, Urt. v. 29.01.2004 - L 2 KN 108/01 - Breith 2004, 701; Tipke/Kruse, a.a.O., § 319 Rn. 1; Brockmeyer, a.a.O., § 319 Rn. 19).
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Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Anfechtungsklage der Klägerin hinreichende Erfolgsaussichten. Der Ausgang des erstinstanzlichen Klageverfahrens ist zumindest offen, da die Beklagte bei dem Erlass der angefochtenen Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 14.07.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.09.2016 wohl keine Entscheidung nach § 15 Abs. 1 LVwVG, § 319 AO, § 54 Abs. 3 SGB I, § 850f Abs. 1 ZPO getroffen hat. Es ist nicht erkennbar, dass sich die Beklagte bei dem Erlass des Ausgangsbescheids der Vorgaben aus § 850f Abs. 1 ZPO überhaupt bewusst war. Sachverhaltsermittlungen hierzu sind den Akten erst recht nicht zu entnehmen. Soweit ersichtlich wurde die Beklagte erstmals nach Zustellung der Pfändungs- und Einziehungsverfügung durch den Hinweis der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg vom 16.09.2016, die Klägerin habe Anspruch auf Sozialhilfe und deshalb werde sich „in Zukunft für Sie (die Beklagte) kein pfändbarer Betrag auch bei Rentenerhöhungen“ ergeben, darauf aufmerksam, dass besondere Pfändungsschutzbestimmungen im Hinblick auf den Sozialhilfebedarf der Klägerin bestehen. Die Beklagte hat diesen Hinweis jedoch auch im Widerspruchsverfahren nicht zum Anlass für Ermittlungen oder eine Entscheidung nach § 850f Abs. 1 ZPO genommen. Der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 22.09.2014 geht hierauf nicht ein, sondern beschränkt sich im Wesentlichen auf die knappe Feststellung, es stehe ihr frei, auf welche Vermögenswerte sie im Rahmen der Beitreibung zurückgreife. Da die Beklagte demnach wohl überhaupt keine Entscheidung nach § 850f Abs. 1 ZPO getroffen hat, sind die Erfolgsaussichten der Klage zumindest offen. Das gilt unabhängig davon, ob die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde über eine Erhöhung des pfändungsfreien Betrags nach § 850f Abs. 1 ZPO im Rahmen eines Verwaltungsvollstreckungsverfahren eine Ermessensentscheidung ist (vgl. zum Meinungsstand Brockmeyer, a.a.O., § 319 Rn. 19; Beermann, a.a.O., § 319 Rn. 73; Fritsch, a.a.O., § 319 Rn. 26 m.w.N.).
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3. Eine Kostenentscheidung ist entbehrlich, da die Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht erstattet werden (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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