Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 12 S 1952/17

Tenor

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 30. Mai 2017 - 8 K 5814/15 - wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

 
Der nach § 124a Abs. 4 Sätze 1 und 4 VwGO rechtzeitig gestellte und begründete, auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Antrag bleibt ohne Erfolg.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegen vor, wenn unter Berücksichtigung der vom Antragsteller dargelegten Gesichtspunkte (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) die Richtigkeit des angefochtenen Urteils weiterer Prüfung bedarf, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin möglich ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 10.03.2004 - 7 AV 4.03 - DVBl. 2004, 838, vom 15.12.2003 - 7 AV 2.03 - NVwZ 2004, 744, vom 12.11.2002 - 7 AV 4.02 - juris, vom 11.11.2002 - 7 AV 3.02 - DVBl. 2003, 401, und vom 14.06.2002 - 7 AV 1.02 - DVBl. 2002, 1556). Mit anderen Worten: Sie sind immer schon dann begründet, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 - NJW 2004, 2510, Kammerbeschluss vom 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 - NVwZ 2011, 546). Dabei ist davon auszugehen, dass das Zulassungsverfahren das Berufungsverfahren nicht vorwegnehmen soll (BVerfG, Kammerbeschluss vom 21.12.2009 - 1 BvR 812/09 - NJW 2010, 1062), es sei denn, es lässt sich schon im Zulassungsverfahren zuverlässig sagen, das Verwaltungsgericht habe die Rechtssache im Ergebnis richtig entschieden und die angestrebte Berufung werde deshalb keinen Erfolg haben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.03.2004, a.a.O.), sofern nicht seinerseits andere Gründe wiederum auf einen anderen Zulassungsgrund hinführen würden (vgl. Stuhlfauth, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 6. Aufl., § 124 Rn. 22). Dabei sind auch nach Erlass der angegriffenen Entscheidung und bis zum Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) neu eingetretene Tatsachen sowie erhebliche Änderungen des maßgeblichen Rechts zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 14.06.2002 und vom 15.12.2003, jew. a.a.O.; Stuhlfauth, a.a.O., § 124 Rn. 26 ff.).
Zur Darlegung ernstlicher Zweifel ist eine substantiierte Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung erforderlich. Der Streitstoff muss dabei unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil gesichtet, rechtlich durchdrungen und aufbereitet werden. Erforderlich ist eine fallbezogene Begründung, die dem Berufungsgericht eine Beurteilung der Zulassungsfrage ohne weitere eigene aufwendige Ermittlungen ermöglicht. Das Maß der zu leistenden Substantiierung kann dabei von der jeweiligen Begründungsdichte und dem Begründungsaufwand der Entscheidung abhängig sein.
Das Verwaltungsgericht hat auf die Klage der personensorgeberechtigten Eltern des am 30. Oktober 2012 geborenen Kindes I. M. die Beklagte verpflichtet, ein Pflegegeld in Höhe von 685 Euro monatlich auch für den Zeitraum vom 16. April 2013 bis 30. April 2015 zu zahlen und den Bescheid der Beklagten vom 13. Juli 2015 und deren Widerspruchsbescheid vom 9. November 2015 aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen.
Nach dem Bescheid vom 13. Juli 2015 gewährt die Beklagte auf den Antrag der Kläger vom 3. Juli 2014 diesen ab dem 1. Mai 2015 Hilfe zur Erziehung nach § 33 SGB VIII durch Aufnahme der Tochter bei den Großeltern B. in Vollzeitpflege, wobei die Kosten der Hilfe pro Monat mit 533 Euro angegeben sind. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass sich der Widerspruch der Kläger vom 3. August 2015 gegen diesen Bescheid sowohl gegen den Zeitraum der Zahlung als auch gegen die Höhe des Pflegegeldes gerichtet hat, das unter dem 2. Dezember 2015 auf 685 pro Monat korrigiert worden ist. Es hat eine Bestandskraft des Bescheides vom 13. Juli 2015 verneint. Hiergegen hat die Beklagte ausweislich der Begründung des Zulassungsantrags mit Schriftsatz vom 18. September 2017 keine Einwendungen erhoben.
Die Beklagte hält jedoch die Auffassung des Verwaltungsgerichts für fehlerhaft, sie hätte mit der Unterbringung des Kindes bei seinen Großeltern B. ab dem 16. April 2013 faktisch eine Vollzeitpflegestelle nach § 27 SGB VIII i.V.m. § 33 SGB VIII bei diesen eingerichtet, weshalb das Pflegegeld nach § 39 SGB VIII, das den Klägern als Annexleistung zustehe, auch ab diesem Zeitpunkt zu gewähren sei.
Das Verwaltungsgericht hat seine Überzeugung, es sei bereits tatsächlich am 16. April 2013 Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege für das Kind I. bei den Großeltern B. durch die Beklagte gewährt worden, aus einer umfassenden Würdigung von in den Akten dokumentierten Vorgängen hergeleitet. Es hat hierbei insbesondere den Hilfeplan vom 17. April 2013 und das dem zugrunde liegende Hilfeplangespräch vom 16. April 2013 sowie die Vorgänge im Zusammenhang mit der Übertragung der Verantwortung für I. von den Klägern auf die Großeltern B. einschließlich des zukünftigen Bezugs des Kindergelds durch die Großeltern und die Ummeldung von I. in deren Haushalt herangezogen. Es hat ferner anhand der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 27 Abs. 1 bis Abs. 2a SGB VIII und § 33 SGB VIII im Urteil dargestellt, dass die Voraussetzungen für die Vollzeitpflege durch die Großeltern zu diesem Zeitpunkt auch vorgelegen haben. Dem Vorbringen der Beklagten, im April 2013 sei zunächst der Weg einer „familieninternen Lösung“ beschritten worden, die gerade keine Jugendhilfeleistung darstelle, ist das Verwaltungsgericht nicht gefolgt.
Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es ist bei der Würdigung aller erheblichen Tatsachen - nicht nur des Ergebnisses einer gegebenenfalls durchgeführten förmlichen Beweisaufnahme, sondern auch des Inhalts der Akten, des Vortrags der Beteiligten, eingeholter Auskünfte usw. - frei, d.h. nur an die innere Überzeugungskraft der in Betracht kommenden Gesichtspunkte und Argumente im Zusammenhang des Ergebnisses des Verfahrens und an die Denkgesetze, anerkannte Erfahrungssätze und Auslegungsgrundsätze gebunden, nicht dagegen grundsätzlich an starre Beweisregeln (W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl., § 108 Rn. 4). Soweit - wie hier - eine fehlerhafte Sachverhalts- bzw. Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts gerügt wird, bedarf es im Hinblick auf den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO der Darlegung gewichtiger Anhaltspunkte dafür, dass die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts augenscheinlich nicht zutreffen oder beispielsweise wegen gedanklicher Lücken oder Ungereimtheiten ernstlich zweifelhaft sind. Allein die Möglichkeit einer anderen Bewertung des vorliegenden Tatsachenmaterials bzw. der Beweisaufnahme oder das Ziehen anderer Schlussfolgerungen rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht (siehe näher etwa VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 12.07. 2012 - 2 S 1265/12 - juris Rn. 3 f.; Bayerischer VGH, Beschluss vom 25.10.2017 - 5 ZB 17.340 - juris Rn. 39; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.09.2017 - OVG 5 N 40.16 - juris Rn. 9; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.01.2014 - 12 A 2294/13 - juris Rn. 2 ff.).
Derartige Mängel zeigt die Begründung des Zulassungsantrags schon nicht auf. Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht zu einem falschen Ergebnis gelangt wäre.
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Ob eine Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII gewährt worden ist, bestimmt sich aus der Sicht des Personensorgeberechtigten nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen. Soweit die Beklagte rügt, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass zwischen der gewollten Einrichtung einer Pflegestelle im Sinne des Beginns einer Hilfe zur Erziehung und der bloßen Zustimmung bzw. Beteiligung des Jugendamts bei der Entwicklung und Umsetzung einer innerfamiliären Lösung zu differenzieren sei, berücksichtigt dies nicht, dass sich die Qualifizierung von Verwaltungshandeln nicht danach richtet, von welcher Vorstellung die Behörde ausgegangen ist. Maßgebend ist vielmehr in entsprechender Anwendung der für die Auslegung von Willenserklärungen maßgeblichen Grundsätze (§§ 133, 157 BGB) der objektive Sinngehalt ihrer Erklärung. Es kommt darauf an, wie der Adressat die Erklärung bei objektiver Würdigung nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der bekannten und erkennbaren Umstände verstehen musste bzw. durfte. Dabei können die Begleitumstände im Zusammenhang mit den behördlichen Erklärungen Auslegungshilfe sein. Unklarheiten gehen zu Lasten der Behörde (vgl. zu den Grundsätzen für die Auslegung behördlicher Erklärungen etwa OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.08.2009 - 1 B 264/09 - juris Rn. 11; siehe auch Stuhlfauth, in: Obermayer/Funke-Kaiser, VwVfG, 5. Aufl., 2018, § 35 Rn. 9; Hessisches LSG, Urteil vom 24.11.2017 - L 5 R 12/14 - juris Rn. 64).
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Da der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII dem Personensorgeberechtigten zusteht, kommt es im vorliegenden Fall auf den objektivierten Empfängerhorizont der Kläger als den personensorgeberechtigten Eltern an. Diese konnten und durften die Erklärungen des Jugendamts anlässlich des Hilfeplangesprächs am 16. April 2013 im Lichte der Begleitumstände dieses Termins und im Hilfeplan vom 17. April 2013 so verstehen, dass ab Mitte April 2013 eine Vollzeitpflege im Sinne des Kinder- und Jugendhilferechts für ihre Tochter bei den Großeltern B. eingerichtet worden ist. Die Kläger waren sich spätestens anlässlich des Hilfeplangespräches darüber bewusst, dass sie beide trotz einer schon laufenden sozialpädagogischen Familienhilfe einschließlich des Einsatzes einer Familienhebamme nicht willens bzw. in der Lage sind, ihre Tochter angemessen zu versorgen, und dass dies voraussichtlich auf Dauer so sein wird. Dies zeigen die in der Akte der Beklagten enthaltenen Vermerke, insbesondere diejenigen des Kinder- und Jugendhilfezentrums W. vom 22. März 2013, 2. April 2013 und 8. April 2013. Die aufgrund der Vernachlässigung durch die Eltern bereits festgestellten Entwicklungsverzögerungen und weitere Defizite veranlassten das Jugendamt zu der zeit- und zielgerichteten Intervention einer auf Dauer angelegten Unterbringung des Kindes bei den Großeltern B., welche durch auf Veranlassung des Jugendamts erfolgende flankierende Erklärungen der Kläger begleitet und abgesichert wurde. Hierzu gehörten die Mitteilung zur Ausübung der Personensorge nach § 1688 BGB, die Bevollmächtigung der Großeltern zur Ummeldung des Kindes in ihren Haushalt und zur Beantragung des Kindergelds sowie das ausdrücklich als „Erklärung“ überschriebene und von den Klägern mit Datum vom 16. April 2013 unterschriebene Schriftstück. Diesem Schreiben zufolge sind sie damit einverstanden, dass ihre Tochter in den Haushalt der Großeltern B. wechsele, dort längerfristig lebe und ein Wechsel zurück zu ihnen nur mit Zustimmung des Jugendamts möglich sei. Aus diesen Erklärungen und den näheren Umständen im Rahmen des bereits laufenden Hilfeverfahrens konnten die Kläger nur den Schluss ziehen, dass als Ergebnis des Hilfeplangesprächs vom 16. April 2013 in Anbetracht der vom Jugendamt festgestellten Bedarfssituation aufgrund ihrer prognostisch auf Dauer angelegten Erziehungsunfähigkeit durch das Jugendamt eine Vollzeitpflege bei den Großeltern eingerichtet worden ist, um das Kindeswohl ihrer Tochter zu gewährleisten. Dass es sich hierbei nach dem objektiven Empfängerhorizont nur um eine „innerfamiliäre Lösung“ unter Vermittlung des Jugendamts ohne sozialpädagogischen Dienstleistungscharakter gehandelt haben könnte, lag aufgrund der bereits dargestellten Gesamtumstände, die diesen Einzelfall prägen, ferne. Hiergegen spricht im Übrigen die Tatsache, dass der vom Jugendamt in Anknüpfung an das Gespräch vom 16. April 2013 erstellte Hilfeplan ausdrücklich den Passus enthält, dass die Absprachen im Hilfeplan verbindlich sind.
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Dieser Sichtweise steht auch nicht entgegen, dass ein förmlicher Antrag auf Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege dem Hilfeplangespräch vom 16. April 2013 und dem entsprechenden Hilfeplan vom 17. April 2013 nicht vorausgegangen ist. Einen förmlichen Antrag auf Hilfe zur Erziehung sieht das Sozialgesetzbuch Achtes Buch nicht vor (vgl. etwa Schmid-Oberkirchner, in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl., § 27 Rn. 26). Ein konkludenter Antrag, mit dem zum Ausdruck gebracht wird, dass die Kläger Hilfe nach § 33 SGB VIII begehren, kann jedenfalls der „Erklärung“ vom 16. April 2013 hinreichend deutlich entnommen werden. Soweit die Beklagte der Auffassung ist, ein Antrag auf Hilfe zur Erziehung in der Form des § 33 SGB VIII sei erst am 3. Juli 2014 gestellt worden, nachdem im Juni 2014 erstmals in einem Telefonat zwischen dem Kläger zu 2 und dem Jugendamt der Beklagten der Wunsch nach finanzieller Unterstützung vorgetragen gewesen sei, führt dies zu keiner anderen Betrachtung. Diese - erneute und förmliche - Antragstellung ist lediglich eine Reaktion auf die im Ergebnis allerdings nicht zutreffende Auffassung der Beklagten, es sei zuvor keine Vollzeitpflege eingerichtet worden.
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Der Ansicht der Beklagten, eine Vollzeitpflege bereits ab dem 16. April 2013 könne jedenfalls deshalb nicht angenommen werden, weil zu diesem Zeitpunkt die Geeignetheit der Pflegestelle in Anlehnung an die Vorgaben des § 44 Abs. 2 SGB VIII mangels eines Antrags nicht überprüft gewesen sei, ist nicht zu folgen. Dass das Jugendamt die Großeltern B. schon im April 2013 als geeignet für die Übernahme der Vollzeitpflege angesehen hat, folgt aus dem Umstand, dass die Kläger ausweislich der Erklärung vom 16. April 2013 ohne Zustimmung des Jugendamts ihre Tochter nicht zu sich zurückholen dürfen.
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Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl. § 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 188 Satz 2, Halbs. 1 VwGO).
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Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO). Da die im Rechtsstreit unterlegene Beklagte verpflichtet ist, gemäß § 162 VwGO die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu tragen, geht der Senat davon aus, dass sie kein Interesse mehr an der Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag vom 19. Oktober 2017 haben.
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Der Beschluss ist unanfechtbar.

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