Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 6 S 201/21

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 3. November 2020 – 4 K 875/19 – aufgehoben.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Gründe

 
Das ursprünglich als Antrag auf Zulassung der Berufung bezeichnete Rechtsmittel gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 03.11.2020 ist zugunsten des Klägers zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes als Beschwerde im Sinne des § 146 Abs. 1 VwGO auszulegen.
Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet.
Die Beschwerde ist insbesondere fristgerecht erhoben worden. Zwar hat der Bevollmächtigte des Klägers bei verständiger Würdigung seines Begehrens erst mit Schriftsatz vom 14.12.2020 und damit nach Ablauf der Frist des § 147 Abs. 1 Satz 2 VwGO Beschwerde gegen den ihm am 13.11.2020 zugestellten Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 03.11.2020 erhoben. Dies ist jedoch unschädlich. Denn das Verwaltungsgericht hat ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt zutreffend, im Ergebnis jedoch fehlerhaft über das einzulegende Rechtsmittel belehrt. Demzufolge findet aufgrund der Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung nach § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO die Jahresfrist Anwendung. Diese hat der Kläger gewahrt.
Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
Nachdem der Kläger auf den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts vom 10.08.2020, diesem zugestellt am 14.08.2020, mit beim Verwaltungsgericht am 22.09.2020 eingegangenem Schreiben vom 21.09.2020 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowie nach § 84 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 VwGO die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, konnte das Verwaltungsgericht unter Beachtung der Verfahrensvorschriften in §§ 101 Abs. 1 und 2, 107 VwGO eine Entscheidung nur durch Urteil herbeiführen. Für eine Entscheidung durch Beschluss (und ohne mündliche Verhandlung) fehlt es hingegen an einer prozessrechtlichen Grundlage (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 09.12.2020 - 13 LA 469/20 -, NVwZ-RR 2021, 278 ; Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 84 Rn. 39; offengelassen von BVerwG, Beschluss vom 15.08.2017 - 5 PKH 1/17 D -, ZOV 2017, 155 ; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.11.2020 - 2 S 1678/20 -, n.v.).
Nach § 107 VwGO wird über die Klage, soweit nichts anderes bestimmt ist, durch Urteil entschieden. Eine solche Entscheidung über die Klage ergeht auch dann, wenn ein Prozessbeteiligter gemäß § 84 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 VwGO bei dem Verwaltungsgericht gegen einen Gerichtsbescheid mündliche Verhandlung beantragt. Auf einen solchen Antrag ist stets zu entscheiden, ob der Gerichtsbescheid wegen einer rechtzeitig beantragten mündlichen Verhandlung gemäß § 84 Abs. 3 Hs. 2 VwGO als nicht ergangen gilt und das Verfahren fortzuführen ist oder ob das Klageverfahren durch den ergangenen, nach § 84 Abs. 3 Hs. 1 VwGO als Urteil wirkenden Gerichtsbescheid beendet worden ist (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 09.12.2020 - 13 LA 469/20 -, NVwZ-RR 2021, 278 ). Entsprechend ist bei Streitigkeiten über die Wirksamkeit einer Klagerücknahme nach § 92 Abs. 1 VwGO oder über den Eintritt der gesetzlichen Klagerücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 VwGO zwingend durch Urteil zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.09.2016 - 1 BvR 661/13 -, juris Rn. 8; Beschluss vom 13.07.1998 - 1 BvR 666/98 -, NVwZ 1998, 1173 ; NdsOVG, Beschluss vom 09.12.2020 - 13 LA 469/20 -, NVwZ-RR 2021, 278 ).
Die danach vorgegebene Entscheidungsform des Urteils zwingt zur Beachtung der Verfahrensvorschriften in § 101 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO und das Verwaltungsgericht entscheidet, soweit die Beteiligten nicht mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind, auf Grund mündlicher Verhandlung (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 09.12.2020 - 13 LA 469/20 -, NVwZ-RR 2021, 278 ). Dem Umstand, ob der Antrag auf mündliche Verhandlung rechtzeitig im Sinne des § 84 Abs. 2 Nr. 2 VwGO gestellt worden ist, kommt bei der Festlegung der Entscheidungsform keine eigenständige Bedeutung zu. Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Antragstellung allein für die Frage, ob der Gerichtsbescheid als Urteil wirkt oder als nicht ergangen gilt (vgl. § 84 Abs. 3 VwGO).
Nach alledem besteht auch kein Raum für die vom Verwaltungsgericht vorgenommene und von Teilen des Schrifttums und der Rechtsprechung favorisierte analoge Anwendung des § 125 Abs. 2 Satz 2 VwGO (vgl. hierzu HambOVG, Beschluss vom 01.12.1997 - Bs IV 135/97 -, DVBl. 1998, 487 ; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 84 Rn. 21, die sich allerdings für die Beschwerde als statthaftes Rechtsmittel ausspricht).
Denn abgesehen davon, dass es aufgrund der gesetzlichen Vorgaben in §§ 101 Abs. 1 und 2, 107 VwGO bereits an einer Regelungslücke fehlt, stellt sich eine analoge Heranziehung des § 125 Abs. 2 Satz 2 VwGO trotz des § 84 VwGO zugrundeliegenden Beschleunigungs- und Entlastungszwecks nicht als sachgerecht dar.
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Nicht nur stellt der Antrag auf mündliche Verhandlung nach § 84 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 VwGO mangels Devolutiveffekt kein Rechtsmittel dar (vgl. Aulehner, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 84 Rn. 40) und kann einem solchen auch nicht gleichgesetzt werden (vgl. im Einzelnen BayVGH, Beschluss vom 24.02.1981 - 11 C 5005.79 -, DÖV 1981, 639; NdsOVG, Beschluss vom 09.12.2020 - 13 LA 469/20 -, NVwZ-RR 2021, 278 ). Hinzukommt, dass sich die Sache auch nach Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung noch in der Instanz befindet, in der über die Klage und nicht über ein Rechtsmittel zu entscheiden ist (vgl. Clausing, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: 02/2021, § 84 Rn. 43), sodass sich die analoge Anwendung des § 125 Abs. 2 Satz 2 VwGO auch unter diesem Aspekt nicht aufdrängt.
11 
Überdies sieht die Verwaltungsgerichtsordnung keine Konstellation vor, in der vor Entscheidung in einem Klageverfahren die Durchführung zumindest einer mündlichen Verhandlung verwehrt werden kann. Die Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung erweist sich im System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes nach der Ausgestaltung des Prozessrechts als gesetzlicher Regelfall und Kernstück. Denn die gerichtliche Entscheidung soll grundsätzlich das Ergebnis eines diskursiven Prozesses zwischen Gericht und Beteiligten im Rahmen der mündlichen Verhandlung sein (vgl. im Kontext von § 130a VwGO BVerwG, Beschluss vom 20.05.2015 - 2 B 4.15 -, NVwZ 2015, 1299 ; Beschluss vom 14.06.2019 - 7 B 25.18 -, NVwZ 2019, 1854 ; s. auch NdsOVG, Beschluss vom 09.12.2020 - 13 LA 469/20 -, NVwZ-RR 2021, 278 ).
12 
Der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts ist aufgrund der erfolgreichen Beschwerde des Klägers aufzuheben. Hierdurch wird das Verfahren in den Stand zurückversetzt, der dem Verwaltungsgericht eine formgerechte Entscheidung durch Urteil erlaubt (vgl. NdsOVG, Beschluss vom 09.12.2020 - 13 LA 469/20 -, NVwZ-RR 2021, 278 ; BayVGH, Beschluss vom 24.02.1981 - 11 C 5005.79 -, DÖV 1981, 639).
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Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten (vgl. BayVGH, Beschluss vom 24.02.1981 - 11 C 5005.79 -, DÖV 1981, 639).
14 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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