Urteil vom Arbeitsgericht Halle (5. Kammer) - 5 Ca 3436/11

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Jubiläumsgeld in Höhe von 500,00 € (in Worten: fünfhundert Euro brutto) nebst 5 Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 09.12.2011 zu zahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin wegen des 40-jährigen Arbeitsjubiläums einen Tag Freistellung zu gewähren.

3. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

4. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 732,67 € festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Prozessparteien streiten im vorliegenden Rechtsstreit über die Anerkennung von Vordienstzeiten der Klägerin und den sich daraus ergebenden Anspruch der Klägerin auf Zahlung eines Jubiläumsgeldes nach § 23 TV-L und einen Tag Freistellung nach § 29 TV-L.

2

Die am … geborene Klägerin war unstreitig seit dem 01.08.1971 als Lehrerin beim damaligen Rat des Kreises B-Stadt, Abteilung Volksbildung, tätig. Mit Schreiben vom 23.11.1977 hat die Klägerin beim damaligen Rat des Kreises B-Stadt, Abteilung Volksbildung, einen Antrag auf Freistellung bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres ihres Kindes gestellt (Freistellung bis zum 01.09.1980, vgl. Bl. 42 d. A.). Mit Schreiben vom 14.12.1977 des damaligen Rat des Kreises B-Stadt, Abteilung Volksbildung, vom 14.12.1977 wurde der Klägerin nur eine Freistellung zur Betreuung des Kindes bis zum 04.08.1978 gewährt. Der darüber hinausgehende Antrag wurde zurückgewiesen (vgl. Bl. 43 d. A.). Am 17.07.1978 hat die Klägerin mit dem damaligen Rat des Kreises B-Stadt, Abteilung Volksbildung, einen Aufhebungsvertrag mit Wirkung vom 04.08.1978 zur Betreuung ihres Kindes abgeschlossen (vgl. Bl. 27 d. A.). Am 28.06.1983 hat die Klägerin mit dem damaligen Rat des Kreises B-Stadt, Abteilung Volksbildung, einen Arbeitsvertrag zur Wiedereinstellung der Klägerin ab dem 13.08.1983 abgeschlossen (vgl. Bl. 28 d. A.). Am 10.03.1992 hat die Klägerin mit der jetzigen Beklagten mit Wirkung vom 01.07.1991 einen Arbeitsvertrag abgeschlossen (vgl. Bl. 21 – 22 d. A.). In diesem Arbeitsvertrag war u. a. Nachfolgendes geregelt:

3

„…

§ 2

4

Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich nach dem ersten Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts – manteltarifliche Vorschriften – (BAT-O) vom 10.12.1990 und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der für den Bereich der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) jeweils geltenden Fassung. Außerdem finden die für den Arbeitgeber jeweils geltenden sonstigen einschlägigen Tarifverträge und die Sonderregelung für Angestellte als Lehrkräfte (SR 2 LI BAT-O) Anwendung. Die Arbeitszeit richtet sich nach den für beamtete Lehrer geltenden Vorschriften…“

5

Mit Schreiben vom 14.10.1992 wies die damalige Bezirksregierung Halle den Bezirkspersonalrat und die Beschäftigten der Schulen im Regierungsbezirk Halle auf die Anerkennung von Vordienstzeiten bei Müttern hin, die Babyjahre in Anspruch genommen haben (vgl. Bl. 44 d. A.). Mit Bescheid vom 05.11.1992 hat die damalige Bezirksregierung Halle die Beschäftigungszeit der Klägerin ab dem 13.08.1983 festgesetzt (vgl. Bl. 45 d. A.). Mit Schreiben vom 05.01.1993 hat die Klägerin bezüglich der Festsetzung der Beschäftigungszeiten einen Antrag auf „unbillige Härte“ gestellt (vgl. Bl. 46 d. A.). Auf dieses Schreiben der Klägerin hat die damalige Bezirksregierung Halle die Beschäftigungszeit der Klägerin seit dem 29.11.1971 festgesetzt (vgl. Bl. 6 d. A.). Sie hat somit für die Klägerin die „unbillige Härte“ anerkannt. Mit Schreiben der Beklagten vom 29.05.2007 wurde der Klägerin mitgeteilt, dass ihr Arbeitsverhältnis ab dem 01.11.2006 in den TV-L übergeleitet wurde (vgl. Bl. 23 d. A.). Mit Bescheid vom 28.09.2011 des Landesverwaltungsamtes Sachsen-Anhalt vom 28.09.2011 hat die Beklagte die Beschäftigungszeiten der Klägerin auf den 10.08.1976 abgeändert.

6

Mit ihrer Klage vom 29.11.2011, eingegangen beim Arbeitsgericht Halle am 01.12.2011, begehrt die Klägerin die Zahlung eines Jubiläumsgeldes nach § 23 TV-L und einen Tag Freistellung nach § 29 TV-L.

7

Sie ist der Auffassung, dass der erneute Bescheid des Landesverwaltungsamtes Sachsen-Anhalt vom 28.09.2011 fehlerhaft sei und dass ihr aufgrund des Bescheides der damaligen Bezirksregierung Halle vom 07.01.1993 die Beschäftigungszeiten seit dem 29.11.1971 anzurechnen seien. Sie habe somit am 29.11.2011 ihr 40-jähriges Dienstjubiläum gehabt. Der erneute Bescheid vom 28.09.2011 wird von der Beklagten damit begründet, dass auf Wunsch der Klägerin das Arbeitsverhältnis mit dem damaligen Rat des Kreises B-Stadt, Abteilung Volksbildung, ab dem 04.08.1978 aufgelöst worden sei. Eine erneute Einstellung der Klägerin sei erst ab dem 13.08.1983 möglich gewesen. Die Klägerin verweist darauf, dass der Aufhebungsvertrag abgeschlossen worden sei zum Zwecke der Betreuung ihrer Kinder …, geboren am … und …, geboren am …. Jeweils bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres ihrer Kinder habe sie Erziehungsurlaub in Anspruch genommen. Dies sei der Zeitraum vom 04.08.1977 bis zum 14.04.1983 gewesen. Die Klägerin behauptet, dass sie nach § 246 Abs. 2 AGB der DDR eine Freistellung in Anspruch genommen habe und dass nach § 247 Abs. 1 AGB der DDR die Betriebszugehörigkeit durch die Freistellung wegen Erziehung der Kinder nicht unterbrochen werden könne. § 247 Abs. 2 AGB der DDR verpflichtete den damaligen Rat des Kreises B-Stadt, Abteilung Volksbildung, die Klägerin weiterzubeschäftigen. Mit Bescheid der damaligen Bezirksregierung Halle vom 07.01.1993 seien die Beschäftigungszeiten der Klägerin gemäß § 19 BAT-O festgesetzt und anerkannt worden. Durch den TVÜ-L sei das Arbeitsverhältnis übergeleitet worden vom BAT-O zum TV-L. Nach § 14 Abs. 2 TVÜ-L werden Beschäftigungszeiten, die vor Inkrafttreten dieses Tarifvertrages anerkannt wurden, weiter berücksichtigt, und zwar die Zeiten, die bis zum 31.10.2006 anerkannt bzw. zurückgelegt wurden. Die anerkannten Zeiten im Bescheid vom 07.01.1993 entsprachen den gültigen tarifrechtlichen Vorschriften. Somit begehe die Klägerin am 29.11.2001 ihr 40-jähriges Dienstjubiläum und habe einen Anspruch auf Zahlung von 500,00 € Jubiläumsgeld und einen Tag Freistellung. Richtig sei, dass die Klägerin am 17.07.1978 einen Aufhebungsvertrag geschlossen habe. Vorher habe sie aber Freistellung zur Betreuung ihrer Kinder beantragt. Diese sei ihr aber nur bis zum 04.08.1978 gewährt worden. Erst danach sei ein Aufhebungsvertrag abgeschlossen worden. Die Nichtanerkennung dieser Zeiten stellen nach § 19 BAT-O eine „unbillige Härte“ dar. Im Übrigen verstoße es gegen Treu und Glauben, zunächst die Beschäftigungszeiten durch Bescheid vom 05.11.1992 erst seit dem 13.08.1983 anzuerkennen und auf dem Schreiben der Klägerin wegen „unbillige Härte“ vom 05.01.1993 diese dann der Klägerin zuzugestehen und mit Bescheid vom 07.01.1993 die Beschäftigungszeiten seit dem 29.11.1971 anzuerkennen und in einem späteren Bescheid wieder davon abzugehen. Dies sei nach § 242 BGB unzulässig.

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Die Klägerin beantragt,

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1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin das Jubiläumsgeld wegen 40-jähriger Beschäftigung in Höhe von € 500,00 nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
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2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin wegen des 40-jährigen Arbeitsjubiläums einen Arbeitstag zur Freistellung zu gewähren.
11

Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

13

Richtig sei, dass durch Bescheid vom 07.01.1993 das 40-jährige Dienstjubiläum auf den 29.11.2011 festgesetzt worden sei. Bei einer erneuten Überprüfung sei festgestellt worden, dass diese Festsetzung nicht den Vorschriften der §§ 19, 39 BAT-O in Verbindung mit § 14 TVÜ-L und § 34 Abs. 3 TV-L entspreche. Somit sei eine Neufestsetzung der Beschäftigungszeiten der Klägerin erfolgt. Grund sei, dass am 17.07.1978 zwischen der Klägerin und dem damaligen Rat des Kreises B-Stadt, Abteilung Volksbildung, im gegenseitigen Einvernehmen zum 04.08.1978 ein Aufhebungsvertrag geschlossen worden sei. Das Ausscheiden sei auf eigenen Wunsch der Klägerin erfolgt. Die Wiedereinstellung der Klägerin sei erst ab dem 13.08.1983 erfolgt. Somit sei die Klägerin nicht freigestellt gewesen, sondern das Arbeitsverhältnis zwischen der Klägerin und dem damaligen Rat des Kreises B-Stadt, Abteilung Volksbildung, sei aufgelöst bzw. unterbrochen gewesen. Nach einem Urteil des BAG vom 15.08.1979 – Az. 4 AZR 913/77 – habe der Bescheid der Bezirksregierung Halle vom 07.01.1993 nur deklaratorische Bedeutung und sei jederzeit überprüfbar.

14

Im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen der Prozessparteien sowie auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 20.01.2012 und vom 13.07.2012 verwiesen.

Entscheidungsgründe

1.

15

Die Klage der Klägerin ist zulässig. Insbesondere ist das angerufene Gericht örtlich zuständig und der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist gegeben (§ 2 Abs. 1 Buchstabe a ArbGG, § 2 Abs. 1 Ziffer 2 des Gesetzes über die Gerichte für Arbeitssachen des Landes Sachsen-Anhalt i. V. m. § 18 ZPO).

2.

16

Die Klage der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Zahlung eines Jubiläumsgeldes in Höhe von 500,00 € und einen Anspruch auf einen Arbeitstag Freistellung. Dabei geht die Kammer davon aus, dass der Bescheid des Landesverwaltungsamtes Sachsen-Anhalt vom 28. September 2011 bezüglich der Festsetzung der Beschäftigungszeit seit dem 10.08.1976 unwirksam ist und der Bescheid der damaligen Bezirksregierung Halle vom 07.01.1993 auf Festsetzung der Beschäftigungszeiten der Klägerin seit dem 29.11.1971 und der Festsetzung des 40-jährigen Dienstjubiläums auf den 29.11.2011 wirksam ist. In § 2 des Arbeitsvertrages der Prozessparteien vom 10.03.1992 haben die Prozessparteien geregelt, dass sich das Arbeitsverhältnis bestimmt nach dem BAT-O und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen. Gemäß der §§ 2 und 3 des TVÜ-L wurde das Arbeitsverhältnis zwischen den Prozessparteien ab dem 01.11.2006 in den TV-L übergeleitet. Somit waren ab dem 01.11.2006 die Vorschriften des TV-L bzw. des TVÜ-L auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anzuwenden.

17

Im TVÜ-L ist u. a. Nachfolgendes geregelt:

18

㤠14
Beschäftigungszeit

19

Abs. 1
Für die Dauer des über den 31. Oktober 2006 hinaus fortbestehenden Arbeitsverhältnisses werden die vor dem 1. November 2006 nach Maßgabe der jeweiligen tariflichen Vorschriften anerkannten Beschäftigungszeiten – mit Ausnahme der Zeiten im Sinne der Übergangsvorschrift Nr. 3 zu § 19 BAT-O/§ 6 MTArb-O – als Beschäftigungszeit im Sinne des § 34 Abs. 3 TV-L berücksichtigt.

20

Abs. 2
Für die Anwendung des § 23 Abs. 2 TV-L werden die bis zum 31. Oktober 2006 zurückgelegten Zeiten, die nach Maßgabe

21

- des § 39 BAT anerkannte Dienstzeit
- des § 39 BAT-O bzw. § 45 MTArb-O anerkannte Beschäftigungszeit
- des § 45 MTArb anerkannte Jubiläumszeit

22

sind, als Beschäftigungszeit im Sinne des § 34 Abs. 3 TV-L berücksichtigt.“

23

Nach dieser tarifvertraglichen Vorschrift waren die durch den öffentlichen Arbeitgeber schon anerkannten Beschäftigungszeiten weiter zu berücksichtigen. Durch Änderungsbescheid der damaligen Bezirksregierung Halle vom 07.01.1993 waren die Beschäftigungszeiten der Klägerin bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängern seit dem 29.11.1971 anerkannt. Zu den schon anerkannten Beschäftigungszeiten nach § 19 BAT-O hat die TdL (der Arbeitgeberverband der Beklagten) nachfolgende Durchführungshinweise zu § 14 TVÜ-L erlassen: „Die Beschäftigungszeit ist auch im neuen Tarifrecht von Bedeutung, für die Berechnung der Kündigungsfristen, für die Dauer des Anspruchs auf Krankengeldzuschuss und für die Gewährung des Jubiläumsgeldes. Im Tarifgebiet West bestimmt sich zudem auch der Eintritt der Unkündbarkeit nach der Beschäftigungszeit. Durch § 14 Abs. 1 TVÜ wird sichergestellt, dass die nach dem bisherigen Recht erworbenen Beschäftigungszeiten als Beschäftigungszeit auch im neuen Recht fortgelten. Eine Neuberechnung der Beschäftigungszeit findet nicht statt. Nach § 14 Abs. 2 TVÜ, der nur für die Frage der Gewährung des Jubiläumsgeldes gilt, bleiben die bisher für das Dienstjubiläum angerechneten Zeiten auch für den künftigen Anspruch auf das Jubiläumsgeld erhalten“ (vgl. Sponer u. a., lose Blattsammlung, Ziffer 14 zu § 14 TVÜ-Beschäftigungszeit, Ordnungsnummer der losen Blattsammlung 3100-L). Somit haben selbst die Arbeitgeberverbände der Beklagten festgelegt, dass eine Neuberechnung der Beschäftigungszeiten, die vor dem 31.10.2006 festgesetzt wurden durch die Länder und damit auch die Beklagte, nicht mehr stattfinden und dass es bei der bisherigen Festsetzung der Beschäftigungszeit verbleibt. Im Übrigen wäre die Neuberechnung der Beschäftigungszeiten auch eine unbillige Härte im Sinne von § 19 Abs. 1 BAT-O. Die Tarifvertragsparteien haben in § 19 BAT-O u. a. Nachfolgendes geregelt:

24

„§ 19 Beschäftigungszeit

25

Abs. 1
Beschäftigungszeit ist die bei demselben Arbeitgeber nach Vollendung des 18. Lebensjahres in einem Arbeitsverhältnis zurückgelegte Zeit, auch wenn sie unterbrochen ist.

26

Ist der Angestellte aus seinem Verschulden oder auf eigenen Wunsch aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden, so gilt die vor dem Ausscheiden liegende Zeit nicht als Beschäftigungszeit. Es sei denn, dass er das Arbeitsverhältnis wegen eines mit Sicherheit zu erwartenden Personalbbaus oder wegen Unfähigkeit zur Fortsetzung der Arbeit infolge einer Körperbeschädigung oder einer in Ausübung oder infolge seiner Arbeit erlittenen Gesundheitsschädigung aufgelöst hat oder die Nichtanrechnung der Beschäftigungszeit aus sonstigen Gründen eine unbillige Härte darstellen würde. …“

27

Entgegen der Auffassung der Beklagten, scheitert die Anrechnung der Beschäftigungszeiten der Klägerin seit dem 29.11.1971 nicht an § 19 Abs. 1 Unterabsatz 3 BAT-O. Die Nichtanrechnung der Beschäftigungszeit der Klägerin vom 29.11.1971 bis zum 10.08.1976 würde für die Klägerin jedoch entgegen der Auffassung der Beklagten eine unbillige Härte darstellen. Die Klägerin ist zwar zum 04.08.1978 auf eigenen Wunsch aus dem am 01.08.1971 begonnen Arbeitsverhältnis ausgeschieden. Die Klägerin hat aber den Aufhebungsvertrag vom 17.07.1978 auf ihren eigenen Wunsch geschlossen, weil sie ihr Kind bis zum dritten Lebensjahr selbst betreuen wollte. Die Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses ist dann noch bis zum 13.08.1993 wegen der Geburt des zweiten Kindes der Klägerin verlängert worden. Auch dieses Kind hat die Klägerin bis zum dritten Lebensjahr betreut. Die Nichtanrechnung der Dienstzeiten der Klägerin seit dem 29.11.1971 wäre für die Klägerin eine unbillige Härte. Auf die Dauer der nicht angerechneten Zeit kommt es dabei nicht an. Der Begriff der unbilligen Härte im tariflichen Sinn ist durch jede Nichtanrechnung von Beschäftigungszeiten erfüllt. Der Tarifnorm sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass die nicht angerechnete Zeit einen bestimmten Mindestumfang erreichen muss. Bei der Frage, ob die Nichtanrechnung der Beschäftigungszeit aus sonstigen, also aus anderen als den in der Tarifnorm ausdrücklich genannten, Gründen eine unbillige Härte darstellen würde, geht es um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Die Vorschrift des § 19 Abs. 1 Unterabsatz 3 Halbsatz 2 BAT-O enthält keine tarifliche Bestimmungsklausel im Sinne von § 315 Abs. 1 BGB. Es steht nicht im Ermessen des Arbeitgebers, ob und in welchem Umfang er bei Vorliegen einer unbilligen Härte die frühere Beschäftigungszeit anrechnet. Stellt die Nichtanrechnung eine unbillige Härte im Sinne von § 19 Abs. 1 Unterabsatz 3 Halbsatz 2 BAT-O dar, ist Halbsatz 1 nicht anzuwenden. Die vor dem Ausscheiden liegende Zeit ist dann Beschäftigungszeit im tariflichen Sinne. Einer Anrechnung durch eine Handlung des Arbeitgebers bedarf es nach dem Tarifwortlaut nicht.

28

Allerdings ist zur Bestimmung des Inhalts des Rechtsbegriffs der Billigkeit die rechtliche Bedeutung heranzuziehen, die diesem Begriff im Rahmen des § 314 BGB beigemessen wird. Denn es ist davon auszugehen, dass Begriffe, die in der Rechtsterminologie einen bestimmten Inhalt haben, von den Tarifvertragsparteien in ihrer allgemeinen rechtlichen Bedeutung angewendet werden, wenn sich – wie hier – aus dem Tarifvertrag nichts anderes ergibt. Der Begriff der Billigkeit erfordert eine Abwägung der wechselseitigen Interessen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist den in § 19 Abs. 1 Unterabsatz 3 Halbsatz 2 BAT-O genannten Tatbeständen, die für die dort ausdrücklich geregelten Fälle den Begriff der unbilligen Härte konkretisieren, zu entnehmen, von welcher Art und welchem Gewicht auf der Seite der Angestellten die Gründe sein müssen, die ihn veranlasst haben, von sich aus das Arbeitsverhältnis zu beenden. Zugunsten des Arbeitgebers fällt dessen Interesse am ununterbrochenen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ins Gewicht. Als Wertungsgesichtspunkt sind die verfassungsrechtlichen gesetzlichen Wertentscheidungen sowie allgemeine Wertungsgrundsätze, wie die der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit, heranzuziehen. Ein eigenes Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses setzt der Tarifbegriff der unbilligen Härte nicht voraus. Zwar ist richtig, dass auch der Arbeitgeber in den in § 19 Abs. 1 Unterabsatz 3 Halbsatz 1 BAT-O ausdrücklich genannten Fällen regelmäßig kein Interesse mehr an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses hat. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass es sich hierbei um eine Tatbestandsvoraussetzung des Tarifbegriffs der unbilligen Härte handelt. Vielmehr haben die Tarifvertragsparteien in § 19 Abs. 1 Unterabsatz 3 Halbsatz 2 BAT-O Sachverhalte genannt, in denen ohne weiteres davon auszugehen ist, dass die Nichtanrechnung von Beschäftigungszeiten eine unbillige Härte darstellen würde, weil ein bei der Abwägung zu berücksichtigendes Interesse des Arbeitgebers an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht ersichtlich ist.

29

Die freie Entscheidung der Klägerin, das Arbeitsverhältnis aufzulösen, durfte bei der Prüfung, ob die Nichtanrechnung eine unbillige Härte darstellt, nicht zu Lasten der Klägerin gewertet werden. Denn die eigene Entscheidung des Arbeitnehmers führt schon zur Anwendung des Grundsatzes von § 19 Abs. 1 Unterabsatz 3 Halbsatz 1 BAT-O. Demgegenüber soll die in § 19 Abs. 1 Unterabsatz 3 Halbsatz 2 BAT-O bestimmte Ausnahme gerade solche Fälle erfassen, in denen trotz des auf Beendigung des Arbeitsverhältnisses gerichteten eigenen Wunsches des Angestellten eine Anrechnung der früheren Beschäftigungszeiten erfolgen soll.

30

Die Klägerin ist aus dem Arbeitsverhältnis mit dem damaligen Rat des Kreises B-Stadt, Abteilung Volksbildung, am 04.08.1978 zur Betreuung ihres ersten Kindes …, geboren am … bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres ausgeschieden. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit dem damaligen Rat des Kreises B-Stadt, Abteilung Volksbildung, ist im Jahre 1980 nicht wieder aufgenommen worden, da am … das zweite Kind der Klägerin … geboren wurde. Insoweit ist die Klägerin auch bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres dieses Kindes (15.04.1980) zu Hause geblieben. Eine Wiedereinstellung der Klägerin war erst ab 13.08.1983 aufgrund der Schuljahresgestaltung zu DDR-Zeiten möglich. Eine Beurlaubung der Klägerin bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres des ersten bzw. des zweiten Kindes kam nach dem DDR-Recht nicht in Betracht (§§ 246 ff. AGB-DDR). Dieses Interesse der Klägerin an der Freistellung zur Erziehung ihrer Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres ist unter Berücksichtigung der gültigen verfassungsrechtlichen gesetzlichen Wertentscheidungen höher zu bewerten als das – im vorliegenden Fall jedenfalls nicht näher belegte – Interesse des Arbeitgebers an der ununterbrochenen Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses.

31

Nach Artikel 6 Abs. 2 Grundgesetz ist die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvorderst ihnen obliegende Pflicht. Das Elternrecht umfasst auch die Entscheidung, in welchem Ausmaß und mit welcher Intensität die Eltern sich selbst dieser Aufgabe widmen wollen. Gesetzliche Bestimmungen gewähren diese Entscheidungsfreiheit in bestimmtem Umfang, auch im bestehenden Arbeitsverhältnis, und räumen ihr insoweit gegenüber dem Interesse des Arbeitgebers an der Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers den Vorrang ein.

32

Diese Bewertung wird auch der Sache nach geteilt im Besprechungsergebnis, das der Arbeitgeberkreis der BAT-Kommission am 29. Mai 1989 erzielt hat. Dort wurden mehrheitlich keine Bedenken erhoben in der Nichtanrechnung der vor einem Ausscheiden auf eigenen Wunsch zurückgelegten Beschäftigungs- bzw. Dienstzeit. Eine unbillige Härte im Sinne der §§ 19 Abs. 1 Satz 3 bzw. 20 Abs. 3 Satz 2 BAT zu sehen, wenn das Arbeitsverhältnis zur Betreuung und Erziehung eines Kindes unter 18 Jahren aufgelöst wurde und die Unterbrechung den Zeitraum einer Beurlaubung nach § 48 a Abs. 2 BRRG nicht überschritten hat. Auch diese gesetzlichen Bestimmungen fallen bei der Interessenabwägung ins Gewicht (vgl. insgesamt Urteil des BAG vom 21.09.1995 – Az. 6 AZR 18/95 –, veröffentlicht in juris). Dieser Auffassung des BAG in seiner Grundsatzentscheidung zur unbilligen Härte nach § 19 Abs. 1 Unterabsatz 1 BAT-O und § 19 Abs. 1 Unterabsatz 3 BAT-O schließt sich die erkennende Kammer ausdrücklich an. Für die Klägerin würde es eine unbillige Härte im Sinne von § 19 Abs. 1 Unterabsatz 3 BAT-O darstellen, wenn sie ihr bestehendes Arbeitsverhältnis wegen der Betreuung und Erziehung ihrer beiden Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres kündigt, das Arbeitsverhältnis danach wieder aufnimmt und die Zeiten, die vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, hier der 04.08.1978, nicht als Beschäftigungszeit im Sinne von § 19 Abs. 1 BAT-O angerechnet wird.

33

Im Übrigen verstößt das Verhalten der Beklagten gegen Treu und Glauben gemäß § 242 BGB. Bekanntlich hatte die Bezirksregierung Halle mit Bescheid vom 05.11.1992 zunächst die Beschäftigungszeiten der Klägerin auf den 13.08.1983 festgesetzt. Mit Antrag vom 05.01.1993 hat die Klägerin dann bei der Bezirksregierung beantragt, ihr „unbillige Härte“ zuzubilligen. Auf diesen Antrag wurde durch die Bezirksregierung Halle der Bescheid vom 05.11.1992 geändert und mit Bescheid vom 07.01.1993 die Beschäftigungszeit der Klägerin auf den 29.11.1971 festgesetzt. Mit dieser Entscheidung hat die Beklagte der Klägerin die „unbillige Härte“ im Sinne von § 19 Abs. 1 BAT-O zugesichert. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass die Beklagte nunmehr mit Bescheid vom 28.09.2011 von ihrer Rechtsauffassung von dem Bescheid vom 07.01.1993 wieder abrückt und nunmehr die Beschäftigungszeit der Klägerin auf den 10.08.1976 festsetzt. Insbesondere, auch unter dem Gesichtspunkt, dass nach Einführung des TV-L ab dem 01.11.2006 in § 14 Abs. 1 TVÜ-L geregelt war, dass eine Neuberechnung der Beschäftigungszeiten vor dem 31.10.2006 nicht mehr stattfindet und dies auch vom Arbeitgeberverband der Beklagten vertreten wird.

34

Somit hat die Klägerin eine Beschäftigungszeit seit dem 29.11.1971. Dies führt zu einem 40-jährigen Dienstjubiläum der Klägerin am 29.11.2011. Nach § 23 Abs. 2 Buchstabe b TV-L steht der Klägerin somit zum 40-jährigen Dienstjubiläum ein Jubiläumsgeld in Höhe von 500,00 € brutto zu. Insoweit war die Beklagte zur Zahlung dieses Betrages zu verurteilen. Der Zinsanspruch der Klägerin folgt aus den §§ 288 Abs. 1, 247 Abs. 1 BGB.

35

Darüber hinaus steht der Klägerin nach § 29 Abs. 1 Buchstabe d TV-L ein Anspruch auf Freistellung für einen Arbeitstag aufgrund des 40-jährigen Arbeitsjubiläums zu. Auch diesen Tag Freistellung hat die Beklagte der Klägerin zu gewähren.

36

Aus den dargelegten Gründen war der Klage der Klägerin in vollem Umfang stattzugeben.

3.

37

Die Kostenentscheidung erging gemäß § 91 ZPO, da die Beklagte im vorliegenden Rechtsstreit unterlag. Dabei besteht kein Anspruch der Klägerin gegenüber der Beklagten auf Entschädigung wegen Zeitversäumnis und auf Erstattung der Kosten für die Hinzuziehung eines Prozessbevollmächtigten. Die Streitwertfestsetzung ist gemäß § 61 ArbGG i. V. m. § 3 ZPO erfolgt. Dabei wurde der Zahlungsantrag in Höhe des gestellten Zahlungsantrages berücksichtigt. Für den Tag Freistellung wurden 232,67 € in Ansatz gebracht (4.886,08 € x 3 Monate : 63 Arbeitstage).


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