Beschluss vom Bundesgerichtshof (6. Zivilsenat) - VI ZB 52/16

Tenor

Den Beklagten zu 1 und zu 2 wird gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Rechtsbeschwerden gegen den Beschluss des 6. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg vom 1. Februar 2016 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Die Rechtsbeschwerden gegen den vorgenannten Beschluss werden auf Kosten der Beklagten zu 1 und zu 2 zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt bis 7.000 €.

Gründe

I.

1

Der Kläger nimmt die Beklagten wegen Anlagebetruges auf Schadensersatz in Anspruch. Er beteiligte sich über eine Treuhänderin mit einer Kommanditbeteiligung von nominal 38.000 € an einer Kommanditgesellschaft. Die Beklagten zu 2 und zu 3 waren Geschäftsführer der Komplementärin der Emittentin und Fondsgesellschaft sowie der Anbieterin. Das Beteiligungskonzept sah vor, dass die Fondsgesellschaft der u.a. vom Beklagten zu 1 als Mitglied des Vorstands geführten D.               AG Darlehen gewähren sollte, so dass die Anleger am Geschäftsmodell und Erfolg dieser Gesellschaft partizipierten.

2

Über das Vermögen der Fondsgesellschaft wurde im Juni 2013 das Insolvenzverfahren eröffnet.

3

Der Kläger trägt vor, die Beklagten hätten bereits 2008 den Entschluss gefasst, über verschiedene gleichartige Fonds Anlegergelder einzusammeln, die Gelder zum wesentlichen Teil untereinander aufzuteilen und für eigene Zwecke zu verbrauchen. Sie hätten ein betrügerisches Schneeballsystem aufgezogen. Die Beklagten zu 1 und zu 2 bestreiten den Vortrag.

4

Der Kläger hat gegen die Beklagten Arrestbeschlüsse erwirkt und im Oktober 2014 Klage bei dem Landgericht Hamburg eingereicht.

5

Die Staatsanwaltschaft Frankfurt erhob im Januar 2015 Anklage u.a. gegen die Beklagten. Die Anklageschrift umfasste über 3.100 Seiten. Im September 2015 begann der Strafprozess vor dem Landgericht. Schon die Verlesung der Anklageschrift dauerte bis Januar 2016.

6

Der Kläger hat im Februar 2015 nach § 149 ZPO die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Strafverfahrens beantragt. Ausweislich einer Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft gehörten rund 150 Unternehmen zur sog. …-Firmengruppe; rund 2.200 Konten seien auszuwerten gewesen. Den Vermögensschaden schätzte die Staatsanwaltschaft auf rund 240 Mio. €. Der Kläger hat argumentiert, es seien 100 Terabyte (die Abkürzung "TB meint Terabyte, wobei gilt 1 Byte = 8 Bit) an Akten und Emails ausgewertet worden; allein die Ermittlungsakte umfasse 1.100 Ordner mit rund 80.000 Blatt Papier.

7

Die Beklagten haben einer Aussetzung widersprochen, da sich der Verdacht einer Straftat nicht "im Laufe des Rechtsstreits" ergeben, sondern bereits vorher bestanden habe. Zudem sei nicht damit zu rechnen, dass das Strafverfahren angesichts seines Umfangs und einer vorhersehbar zeitaufwändigen Beweisaufnahme binnen eines Jahres erledigt werden könne.

8

Das Landgericht Hamburg hat das Verfahren mit Beschluss vom 24. März 2015 bis zur Erledigung des Strafverfahrens nach § 149 Abs. 1 ZPO ausgesetzt. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde der Beklagten zu 1 und zu 2 hat das Beschwerdegericht zurückgewiesen. Es hat dazu ausgeführt, der Aussetzungsgrund liege vor, weil eine Aussetzung auch dann möglich sei, wenn der Verdacht einer Straftat schon bei Klageerhebung vorgelegen habe und sich die Klage hierauf ausdrücklich stütze. Das Ziel, bessere Erkenntnismöglichkeiten des Strafverfahrens zu nutzen und widersprechende Entscheidungen zu vermeiden, sei unabhängig von der Frage, wann eine Straftat begangen werde. Zudem komme es auf den Verdacht des Zivilgerichts an, den es naturgemäß erst während des Verfahrens schöpfen könne. Weiter lägen keine Ermessensfehler des Landgerichts vor. Vorliegend seien das Zivil- und das Strafverfahren aufeinander bezogen, so dass die strafrechtlichen Ergebnisse auf das Zivilverfahren Einfluss haben könnten. Insbesondere komme eine Aussetzung in Betracht, wenn aus dem Strafverfahren - wie im vorliegenden Fall - objektivierbare Beweismittel, namentlich Sachverständigengutachten nutzbar gemacht werden könnten. Auch sei das Interesse, das Zivilverfahren nicht unangemessen zu verzögern, in der Entscheidung berücksichtigt worden. Ebenso wenig führe der vom Landgericht erkannte Umstand, dass das Strafverfahren voraussichtlich länger als ein Jahr dauern könne, zu einem Ermessensfehler. In der Gesamtschau lägen gewichtige Gründe im Sinne des § 149 Abs. 2 Satz 2 ZPO vor.

9

Mit den dagegen gerichteten, vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerden - für deren Einlegung und Begründung sie Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt haben, nachdem der erkennende Senat ihnen Prozesskostenhilfe bewilligt hat - machen die Beklagten weiterhin geltend, dass die Aussetzung nicht gerechtfertigt sei.

II.

10

Den Beklagten zu 1 und zu 2 war gemäß § 233 Satz 1 ZPO antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Rechtsbeschwerden zu bewilligen.

III.

11

Die Rechtsbeschwerden sind statthaft, weil das Beschwerdegericht sie zugelassen hat (§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO). Sie sind aber unbegründet.

12

1. Zutreffend geht das Beschwerdegericht davon aus, dass das Vorliegen des Aussetzungsgrundes uneingeschränkt zu überprüfen ist (BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2005 - II ZB 30/04, NJW-RR 2006, 1289 Rn. 6; Roth, in: Stein/Jonas, ZPO 23. Aufl., § 252 Rn. 8). Ebenso zutreffend geht es davon aus, dass ein solcher gegeben ist.

13

a) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden ermöglicht § 149 Abs. 1 ZPO die Aussetzung eines Zivilverfahrens auch dann, wenn bereits vor dem Zivilverfahren an anderer Stelle der Verdacht einer Straftat besteht und im Hinblick auf diesen ausgesetzt werden soll (vgl. OLG Köln, VersR 1973, 473; Wendlandt, in: BeckOK ZPO, 27. Ed., 12/2017, § 149 Rn. 4; Fritsche, in: MüKo ZPO, 5. Aufl., 2016, § 149 Rn. 4; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl., 2018; Smid, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl., 2013, § 149 Rn. 2; Dörr, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl., 2015, § 149 Rn. 1).

14

aa) Der Wortlaut der Norm, wonach das Gericht, wenn sich "im Laufe eines Rechtsstreits" der Verdacht einer Straftat ergibt, deren Ermittlung auf die Entscheidung von Einfluss ist, die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Strafverfahrens anordnen kann, steht dem nicht entgegen. Denn die Norm richtet sich an das Zivilgericht und ermächtigt es, nach eigenständiger Prüfung das Verfahren unter den näher beschriebenen Voraussetzungen auszusetzen. Die Wendung "im Laufe des Rechtsstreits" ist im Kontext mit dem Adressaten der Norm daher so zu verstehen, dass es auf den - naturgemäß erst nach Beginn des Zivilverfahrens - entstehenden Verdacht des mit der Sache befassten Zivilgerichts ankommt (so auch schon OLG Köln, VersR 1973, 473; OLG Frankfurt, VersR 1982, 656; zustimmend Roth, in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl., § 149 Rn. 3; Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl., 2017, § 149 Rn. 2).

15

bb) Dies entspricht auch Sinn und Zweck des Gesetzes. Denn der Normzweck besteht darin, es dem Zivilgericht zu ermöglichen, die Ermittlungen und den Ausgang eines Strafverfahrens abzuwarten, um abweichende Entscheidungen und nicht prozessökonomische Mehrarbeit zu vermeiden (Roth, in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl., § 149 Rn. 1 und 4; Dörr, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl., 2015, § 149 Rn. 1; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl., 2018, § 149 Rn. 2; Wendlandt, in: BeckOK ZPO, 27. Ed., 12/2017, § 149 Rn. 1; Wöstmann, in: Sänger, ZPO, 7. Aufl., 2017, § 149 Rn. 1; Zöller/Greger, ZPO, 32. Aufl., 2018, § 149 Rn. 1). Diese Gesichtspunkte greifen aber unabhängig davon Platz, ob der Verdacht einer Straftat vor oder erst nach Beginn eines Zivilrechtsstreits entsteht.

16

b) Soweit die Rechtsbeschwerden die auf einen Beschluss des OLG Celle (NJW 1969, 280) gestützte Ansicht vertreten, ein Aussetzungsgrund bestehe nicht, wenn es sich in Straf- und Zivilverfahren um denselben Sachverhalt handele, ist dem nicht zu folgen. Die Auffassung wird damit begründet, die Ermittlung der strafbaren Handlung sei nicht von Einfluss auf das Zivilverfahren, weil das Zivilgericht die Ergebnisse des Strafverfahrens nicht ohne weiteres verwerten dürfe. Die von den Rechtsbeschwerden damit unterstellte völlige Unabhängigkeit von Zivil- und Strafverfahren besteht jedoch so nicht (vgl. BGH, Urteil vom 18. Oktober 1972 - 2 StR 384/72, NJW 1973, 206, 207 a.E.; OLG Frankfurt, VersR 1982, 656). Das Gesetz geht davon aus, dass die Ermittlungen im Strafverfahren auf die Entscheidung des Zivilrechtsstreits von Einfluss sein können. Der Gesetzgeber hat mit den Vorschriften der §§ 149, 411a, 581 ZPO bewusst weitere Verzahnungen zwischen den Verfahren geschaffen. Gerade mit dem 2006 ergänzten § 411a ZPO sollen Ergebnisse des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens in Form von Sachverständigengutachten im Zivilverfahren verwertet werden können (BT-Drucks. 16/3038, S. 38 reSp). Daher ist bei Sachverhaltsidentität eine Aussetzung nicht unzulässig, sondern regelmäßig geboten (Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, 14. Aufl. 2017, § 149 Rn. 4; Roth, in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl., § 149 Rn. 4; Dörr, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 7. Aufl., 2015, § 149 Rn. 5). Die behauptete Straftat im Sinne des § 149 Abs. 1 ZPO kann zugleich Grundlage des zivilrechtlichen Anspruchs sein (OLG Köln, VersR 1973, 473; OLG Hamburg, MDR 1975, 669, 670; OLG Düsseldorf, NJW-RR 1998, 1531; OLG Braunschweig, Beschluss vom 20. Januar 2014 - 7 W 33/13, BeckRS 2014, 04284; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl., § 149 Rn. 5).

17

2. Ohne Erfolg wenden sich die Rechtsbeschwerden auch gegen die Ermessensausübung des Beschwerdegerichts, das gewichtige Gründe im Sinne des § 149 Abs. 2 Satz 2 ZPO für gegeben erachtet und damit eine (erstmalige) Aussetzung des Verfahrens für zulässig gehalten hat, selbst wenn das Strafverfahren voraussichtlich länger als ein Jahr dauern wird. Die Rechtsbeschwerden selbst ziehen nicht in Zweifel, dass die Aussetzung der Verhandlung auch bei voraussichtlich mehr als einjähriger Strafverfahrensdauer jedenfalls dann zulässig ist, wenn hierfür absehbar gewichtige Gründe vorliegen. Sie wenden sich allein gegen die Würdigung des Beschwerdegerichts, gewichtige Gründe lägen vor. Die entsprechende Beurteilung des Beschwerdegerichts ist jedoch nicht zu beanstanden. Das Beschwerdegericht hat sich mit der Komplexität des möglichen Tatgeschehens, der fehlenden unmittelbaren Wahrnehmung eines möglichen Tatgeschehens durch den Kläger, der Frage der laufenden Verjährungsfrist, ohne dass der Kläger Einfluss auf das Ermittlungs- oder Strafverfahren nehmen könnte, sowie der dem Kläger im Interesse des Staates nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO verweigerten Akteneinsicht auseinandergesetzt und diese in seine Gesamtschau eingestellt. Eine Vorverurteilung seitens des Beschwerdegerichts und damit ein Ermessensfehlgebrauch durch Einstellen sachfremder Erwägungen in den Abwägungsvorgang hat nicht stattgefunden. Das Beschwerdegericht hat erkennbar die Berechtigung der gegen die Beklagten im Strafverfahren erhobenen Vorwürfe offengelassen.

18

3. Soweit die Rechtsbeschwerden schließlich meinen, der Kläger übe - für das Gericht im Sinne der Ausübung seiner Dispositionsmaxime bindend - sein Wahlrecht aus, ob er sich im Wege des Adhäsionsverfahrens (§ 403 StPO) am Strafverfahren beteilige oder ein Zivilverfahren anstrenge, und daraus ableiten wollen, dass im Rahmen der ausgeübten Auswahl eines Zivilverfahrens ein "Rückgriff" auf das Strafverfahren nach § 149 ZPO ausgeschlossen sei, ist ihnen auch hierin nicht zu folgen. Es liegt in der Hand der Parteien, ein Zivilverfahren anzustrengen und zu führen. Normadressat des § 149 Abs. 1 ZPO ist aber das Zivilgericht. Die prozessleitende Ermessensentscheidung des Zivilgerichts kann - entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerden - im Interesse von Prozessökonomie und einheitlichen Prozessergebnissen durchaus dazu führen, dass der Wille der Parteien, ein Verfahren fortzusetzen, in zeitlich begrenztem Umfang suspendiert wird. Der 2001 eingefügte Absatz 2 der Vorschrift gibt den Parteien nach Ablauf der Jahresfrist die Möglichkeit, mit einem Fortsetzungsantrag das Zivilgericht zur Verfahrensförderung anzuhalten (vgl. BT-Drucks. 14/6036, S. 121 liSp), sofern nicht gewichtige Gründe für den Fortbestand der Aussetzung streiten.

Galke     

      

Wellner     

      

von Pentz

      

Offenloch     

      

Müller     

      

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