Urteil vom Landgericht Hamburg (7. Zivilkammer) - 307 S 53/16

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Blankenese vom 15.06.2016, Gz. 533 C 79/15, wird zurückgewiesen.

2. Den Beklagten wird eine Räumungsfrist bis zum 28.02.2017 eingeräumt.

3. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.

4. Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Vollstreckung der Hauptsache (Räumung) durch Sicherheitsleistung in Höhe von € 10.500,00 abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Die Beklagten können die Vollstreckung hinsichtlich der Kosten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

I.

1

Die Beklagte zu 1) ist Mieterin der streitgegenständlichen Wohnung R. Weg..., ... H., 1. OG rechts, der Beklagte zu 2) ist ihr 19jähriger Sohn. Außerdem leben in der Wohnung noch die beiden weiteren, am ...1999 geborenen Kinder der Beklagten zu 1), C. und V.. Der Kläger ist als Rechtsnachfolger seiner Eltern Vermieter der Wohnung.

2

Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil und die dort wiedergegebenen erstinstanzlichen Anträge wird vollen Umfangs Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

3

Das Amtsgericht hat die Beklagten mit dem von ihnen angefochtenen Urteil vom 15.06.2016, Gz. 533 C 79/15, zur geräumten Herausgabe der Wohnung an den Kläger verurteilt. Die Beendigung des Mietverhältnisses durch die Eigenbedarfskündigung vom 11.01.2011 sei durch das Urteil vom 16.11.2012 im Vorprozess (Amtsgericht Hamburg-Blankenese, Az. 532 C 101/11) rechtskräftig bestätigt worden, weil gegen dieses Urteil nur von Vermieterseite Berufung gegen die Fortsetzung des Mietverhältnisses eingelegt wurde. Mit Ablauf der vom Landgericht Hamburg im damaligen Berufungsverfahren 307 S 141/12 bis zum 31.07.2015 begrenzten Fortsetzung des Mietverhältnisses habe die Mieterin die Mietsache an den Vermieter herauszugeben, ohne dass es einer erneuten Kündigung bedürfe. Ein etwaiger zwischenzeitlicher Wegfall des Eigenbedarfs sei unerheblich und könne nur mit der Vollstreckungsgegenklage geltend gemacht werden, rechtfertige aber keine Vertragsfortsetzung. Die weitere Fortsetzung des Mietverhältnisses könne nicht aus Gründen der Härte verlangt werden. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme sei das Gericht nicht davon überzeugt, dass die Beendigung des Mietverhältnisses für die Beklagte zu 1) und ihre Kinder eine besondere Härte gem. § 574 BGB darstelle sowie das besondere Fortsetzungsinteresse nach § 574c Abs. 1 vorliege.

4

Der Sachverständige Dr. H. habe in seinem Gutachten, dem Nachtrag und der erläuternden Anhörung nachvollziehbar erklärt, dass die Beklagte zu 1) zwar psychisch erkrankt sei, ihr ein Umzug aber zugemutet werden könne.

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An der Fachkompetenz des Sachverständigen habe das Gericht keinen Zweifel.

6

Ein neues Gutachten sei nicht einzuholen, da das Gutachten nicht ungenügend sei und keine Anhaltspunkte für eine Befangenheit des Sachverständigen vorlägen.

7

Die Dauer der Exploration von einer Stunde sei nicht zu beanstanden. Die vom Sachverständigen gestellte, von vorangegangenen Gutachten bzw. ärztlichen Attesten abweichende Diagnose Dysthymia sei nachvollziehbar in Abgrenzung zu den Diagnosen der anderen Gutachten und ärztlichen Stellungnahmen erläutert, auch passe die aktuelle Medikation zur Dysthymia.

8

Entscheidend sei nicht die genaue Diagnose - sowohl der gerichtliche Sachverständige als auch die vorherigen Gutachten würden von einer Diagnose im Bereich depressiver Erkrankungen ausgehen - , sondern wie sich die Erkrankung auf ihre Belastbarkeit und ihre Fähigkeit, einen Umzug zu bewältigen, auswirke; diese Fähigkeit habe der Sachverständige ausgehend von den Schilderungen des Beklagten zu 1) über ihre persönliche Situation sowie ihrer üblichen alltäglichen Belastungen nachvollziehbar bejaht auch unter Vorhalt der Atteste von Herrn Z. vom 16.04.2016 (abnorm lange Problemlösungszeit) und Frau Dr. F. vom 02.05.2016 (nicht in der Lage, kleinsten Anforderungen nachzukommen und Umzug unter Druck zu bewältigen). Deren Angaben könnten als wahr unterstellt werden, aber die Sicht dieser Behandler sei nicht gegenüber den Ausführungen des Sachverständigen vorzugswürdig. Entscheidend sei, ob die Beklagte zu 1) psychisch derart dekompensieren würde, dass ein Umzug nicht zumutbar sei, das habe der Sachverständige überzeugend und nachvollziehbar verneint. Einer Begutachtung der Kinder habe es nicht bedurft, weil sich die Beklagten nicht auf in der eigenen Person der Kinder liegende Umstände sondern auf die durch einen Umzug ausgelöste Destabilisierung der Beklagten zu 1) beriefen.

9

Unter Berücksichtigung der Krankheit sei eine Räumungsfrist von sechs Monaten zu gewähren, dieser Zeitraum solle der Beklagten zu 1) die Möglichkeit eröffnen, sich Unterstützung bei der Wohnungssuche durch Dritte zu suchen, insbesondere eine Betreuung zu beantragen.

10

Hiergegen wenden sich die Beklagten mit der vorliegenden Berufung, die sie unter Wiederholung ihres Vorbringens aus der ersten Instanz damit begründen, dass das angefochtene Urteil sie in ihren Rechten verletzte, weil weiterhin Härtegründe vorlägen, aus denen sich nach § 574 c BGB ein Anspruch auf weitere Fortsetzung des Mietverhältnisses ergebe. Das habe die angefochtene Entscheidung verkannt, weil sie sich auf ein ungenügendes Gutachten eines Sachverständigen stütze; der gegen den Sachverständigen gerichtete Befangenheitsantrag sei unzutreffend zurückgewiesen worden.

11

Das nur einstündige Explorationsgespräch sei nicht ausreichend gewesen (Beweis: Sachverständigengutachten, Bl. 256 d. A.), die Befragung habe weder ihre Wahrnehmung traumatischer Ereignisse aus dem Sorgerechtsstreit noch Nachfragen zum Bereich ihrer Kinder oder der Belastung durch die Sorge für die Mutter der Beklagten zu 1) umfasst. Das Gutachten enthalte entgegen der Beweisfrage keine Aussagen zu den Kindern. Der Rückschluss des Sachverständigen, dass Bemühungen der Beklagte zu 1) um Alternativwohnraum zeigten, dass sie den Umzug nicht als unzumutbare Belastung sehe, sei unzulässig; die Beklagte zu 1) fühle sich mit einem Umzug völlig überfordert und sorge sich wegen einer anderweitigen Belegenheit einer Ersatzwohnung im Hinblick auf Orientierungsschwierigkeiten ihres Sohnes V. und die Versorgung ihrer Mutter. Auch könne aus der Einnahme des Johanniskrautpräparats L. ... nicht auf das Nichtvorhandensein einer Depression geschlossen werden, früher seien ihr schwerere Antidepressiva verschrieben worden (Beweis: Zeugnis Z.). Die Diagnose des Sachverständigen widerspreche den vorangegangenen Diagnosen, insbesondere der des Sachverständigen Dr. med. S. aus dem Jahr 2012 im Vorprozess, und der von der Sachverständigen Dr. M. 2012 im familiengerichtlichen Verfahren gestellten Diagnose, die auf einer 6-stündigen Exploration beruht habe. Es liege eine chronische depressive Störung erheblichen Ausmaßes und adulte ADHS vor (Anlage B 2; Beweis: Zeugnis Z.), das Gutachten des Sachverständigen Dr. H. erfasse die Problematik der Entscheidungserschwernis und umständlichen Problemlösungsform der Beklagte zu 1) nicht (Attest Z. vom 09.08.2016, Anlage BK 1), der jahrelang behandelnde Neurologe sei zu einer viel fundierteren Einschätzung in der Lage als der Sachverständige. Diese Widersprüche habe der Sachverständige auch in der mündlichen Anhörung nicht aufzulösen vermocht, sondern den Eindruck einer vorgefassten Meinung vermittelt. Die Beklagte zu 1) befinde sich bereits mit ihren gegenwärtig getragenen Aufgaben in permanentem Überlastungszustand, komme die Wohnungssuche hinzu, drohe ein Zusammenbruch (Beweis: Zeugnis Z., Dr. F.; weiteres Sachverständigengutachten). Aus den bereits unternommenen Aktivitäten zur Wohnungssuche könne nicht darauf geschlossen werden, dass sie dazu in der Lage sei, die Beklagte zu 1) sei nur in Zeiten relativer Entspannung handlungs- und kommunikationsfähiger. Unter Druck dekompensiere die Beklagte zu 1) völlig, sie sei nicht in der Lage eigenständig einen Wohnungswechsel vorzunehmen, eine Zwangsräumung dürfe die Traumata der Kinder wieder aktivieren (Beweis: Zeugnis Dr. F. und deren Stellungnahme vom 26.07.2016, Anlage BK 2, ). Das nähme den Kindern ein von ihnen dringend benötigtes Maß an Sicherheit (Beweis: Zeugnis B.). Die psychische Verfassung des 17-jährigen Sohnes V. verschlechtere sich seit Dezember 2015 sichtbar, er nehme die sich verschlechternde Verfassung seiner Mutter sensibel auf und reagiere ebenfalls mit verstärkter Problematik, er habe in den letzten Monaten lebensmüde Gedanken geäußert; bei Verlust der Wohnung sei ein psychischer Zusammenbruch der Beklagten zu 1) wahrscheinlich (Beweis: Zeugnis der behandelnden Kinder- und Jugendpsychiatriefachärztin B. und deren Stellungnahme vom 19.07.2016 Anlage BK 3).

12

Das Gericht hätte ein weiteres Gutachten auch deshalb einholen müssen, weil die Besorgnis der Befangenheit des Sachverständigen begründet gewesen sei.

13

Die Beklagten beantragen,

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das Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Blankenese vom 15.06.2016 zum Aktenzeichen 433 C 79/15 aufzuheben und die Klage unter Verlängerung des Mietverhältnisses über die Wohnung R. ... in ... H. auf unbestimmte Zeit, hilfsweise um eine im Ermessen des Gerichts stehende Frist, abzuweisen (gemeint wohl: fortzusetzen),

15

hilfsweise,

16

den Beklagten eine angemessene Räumungsfrist zu gewähren.

17

Der Kläger beantragt,

18

die Berufung zurückzuweisen.

19

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil und das darin verwertete Gutachten des Sachverständigen Dr. H..

20

Ergänzend wird auf die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze verwiesen.

II.

21

Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg. Dem Kläger steht der geltend gemachte Herausgabeanspruch nach § 546 BGB zu.

22

1. Der Mietvertrag der Beklagten zu 1) über die streitgegenständliche Wohnung ist beendet durch die rechtskräftige Feststellung des Eigenbedarfs der Vermieterseite durch – insoweit nicht angegriffenes - Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Blankenese vom 11.01.2011, Gz. 532 C 101/11, und den Ablauf der durch das Berufungsurteil der Kammer vom 05.12.2013, Gz. 307 S 141/12, nach § 574a Abs. 2 BGB bis zum 31.07.2015 bestimmten Zeit der Fortsetzung des Mietverhältnisses.

23

2. Zutreffend ist das Amtsgericht zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Anspruch auf weitere Fortsetzung des Mietverhältnisses nach § 574c Abs. 1 BGB nicht besteht. Nach dieser Vorschrift kann der Mieter die Fortsetzung eines aus Härtegründen für eine bestimmte Zeit fortgesetzten Mieterverhältnisses nur verlangen, wenn dies durch eine wesentliche Änderung der Umstände gerechtfertigt ist oder wenn Umstände nicht eingetreten sind, deren vorgesehener Eintritt für die Zeitdauer der Fortsetzung bestimmend gewesen war. Darlegungs- und beweispflichtig für das Vorliegen eines solchen besonderen Fortsetzungsinteresses sind die Beklagten. Sie haben das Vorliegen einer der beiden Alternativen des besonderen Fortsetzungsinteresses jedoch nicht bewiesen.

24

a) Bestimmend für die Zeitdauer der Fortsetzung war nach den Gründen des Berufungsurteils der Kammer vom 05.12.2013 das zunehmende Erwachsenwerden der bereits damals bei der Beklagten zu 1) lebenden Kinder V. – jetziger Beklagter zu 2) – und C.. Ob die psychische Situation der Beklagten zu 1) für sich allein genommen eine Härte begründen würde, hatte die Kammer offen gelassen. Als Härtegrund hatte das Berufungsgericht auf der Basis des schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen S. und seiner mündlichen Anhörung die negativen psychischen Auswirkungen gewertet, die sich zum damaligen Zeitpunkt aus dieser psychischen Belastung der Beklagten zu 1) durch einen Umzug für die Kinder V. und C. ergeben hätten. Dabei war das Ergebnis der damaligen Begutachtung zugrunde gelegt worden: Der Sachverständige S. ging davon aus, dass die Beklagte zu 1) damals wegen eines Überlastungssyndroms mit emotionaler Erschöpfung und Antriebsarmut bereits überfordert war und deshalb die Organisation von Wohnungssuche und Umzug zu ihrem Zusammenbruch zu führen drohe. Diese – sekundäre - Belastung der Kinder sah das Gericht als mit zunehmendem Alter weniger werdend an. Bei Eintritt der Volljährigkeit des Beklagten zu 2) im Juli 2015 werde auch der Erziehungs- und Betreuungsbedarf der dann 16-jährigen C. erheblich verringert sein, außerdem stehe bis dahin der Beklagten zu 1) ausreichend Zeit zur Verfügung, um an der Behandlung ihrer psychischen Situation mitzuwirken und Hilfe von außen bei der Wohnungssuche zu erlangen, so dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit bis zum 31.07.2015 die Härte entfalle.

25

aa) Dass die für die Fortsetzungsdauer bestimmenden Umstände nicht eingetreten sind, ist nicht ersichtlich oder bewiesen. Der Beklagte zu 2) ist mittlerweile volljährig, seine Schwester C. wird in gut zwei Monaten volljährig. Selbst wenn man den Vortrag der Beklagten als wahr zugrunde legt, dass C. und der Beklagte zu 2) sich in psychotherapeutischer Behandlung befinden und schulische Probleme haben, und dass die Beklagte zu 1) für V. Nachhilfe und Praktikumsplatz organisiert und mit ihm Konflikte wegen exzessiven Computerspielens hat, ergibt sich daraus nicht, dass die Beklagte zu 1) für diese Kinder noch umfängliche Erziehungs- und Betreuungsleistungen zu erbringen hat. Ihren Tagesablauf organisieren Jugendliche erfahrungsgemäß selbst, tagsüber sind sie in der Schule, logistische Leistungen für Nachmittags- oder Abendtermine sind nicht mehr erforderlich. Organisation von Nachhilfe und Praktikumsplatz fällt nur einmal pro Halb- bzw. Schuljahr an. Auch steht nicht fest, dass die Belastung und psychische Verfassung ihrer Mutter, der Beklagten zu 1), für diese fast erwachsenen Kinder noch eine maßgebliche eigene psychische Belastung bedeutet.

26

Das im vorliegenden Rechtsstreit eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dr. H. hat nicht ergeben, dass die Beklagte zu 1) krankheitsbedingt nicht in der Lage ist eine Wohnungssuche und einen Umzug zu bewältigen und die Aussicht der Organisation eines Wohnungswechsels zu einer Destabilisierung führt; dementsprechend hat das Gutachten auch Auswirkungen auf ihre Kinder nicht bestätigt. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Amtsgericht dieses Gutachten zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und das weitere Bestehen eines Härtegrundes abgelehnt. Die Würdigung dieses Gutachtens durch das Amtsgerichts ist nicht fehlerhaft im Sinne des § 546 ZPO, denn sie ist weder in sich widersprüchlich noch läuft sie Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungswerten zuwider.

27

bb) Die Einholung eines neuen Gutachtens ist nicht geboten, denn die Voraussetzungen des § 412 ZPO sind nicht erfüllt. Der Sachverständige ist nicht erfolgreich als befangen abgelehnt worden. Das Amtsgericht hat das Befangenheitsgesuch der Beklagten mit Beschluss vom 19.04.2016 als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen haben die Beklagten keine Beschwerde eingereicht. Das Gutachten ist auch nicht ungenügend.

28

(1) An der Sachkunde des Sachverständigen bestehen keine Zweifel. Der Umstand, dass der Sachverständige zu einer anderen Diagnose gelangt ist, als die langjährigen Behandler der Beklagten zu 1) und andere Sachverständige, die sie in verschiedenen Verfahren exploriert haben, führt nicht zur Unverwertbarkeit seiner Erkenntnisse. Vielmehr hat der Sachverständige nachvollziehbar und plausibel erläutert, worauf seine Einordnung als Dysthymia - die letztlich wie alle anderen Diagnosen auch eine Störung aus dem Bereich der depressiven Erkrankungen darstellt - beruht, so dass sein Ergebnis letztlich nicht unvereinbar mit den anderen Diagnosen erscheint, die in sich auch kein völlig einheitliches Bild abgeben. Ebenso nachvollziehbar hat er dargestellt, dass die von der Sachverständigen Dr. M. 2012 diagnostizierte Anpassungsstörung (die wohl auch von der Behandlerin Dr. F. angenommen wird, Anlage BK 2, Bl. 267 d.A.) auf ca. 6 Monate begrenzt sei, die bei der Begutachtung in 2012 längst vergangen waren. Eine chronische Depression, wie sie Dr. M. 2012 und der Behandler Z. im November 2015 angenommen haben, sei nach den in seiner aktuellen Exploration erhaltenen Informationen zu Aktivitätsniveau, Alltagsgestaltung und Erwartungen an das Leben nicht zu bestätigen, gegenüber der Exploration von Dr. S. vier Jahre zuvor sei jetzt ein deutlich besseres Niveau in Antrieb, Organisation und Handlungskompetenz gegeben. Das passt damit zusammen, dass im Jahre 2012 für die Beklagten zu 1) noch der Sorgerechtsstreit bezüglich des Sohnes V. im Vordergrund stand, der mittlerweile für sie erfolgreich beendet ist: V. lebt seit Sommer 2014 bei der Beklagten zu 1). Zutreffend hat der Sachverständige Dr. H. darauf hingewiesen, dass sich aus dem Gutachten Dr. M. im Übrigen nicht ergibt, woraus die Erfüllung der ADHS-Kriterien hergeleitet wird. Für ADHS habe er in der Exploration keine hinreichenden Anhaltspunkte gefunden; er hat sie allerdings auch nicht vollends ausgeschlossen (siehe Seite 8 des Gutachtens). Dr. H. hat durchaus die Weitschweifigkeit der Beklagten zu 1) erkannt und eine krankheits- und psychomental bedingte Einschränkung ihrer Belastbarkeit angenommen - dabei aber eine erhebliche Dekompensation mit Auswirkungen auf die Kinder als unwahrscheinlich angesehen. Insgesamt ist festzuhalten, dass sich der Sachverständige in Nachtrag und Anhörung eingehend und überzeugend mit den Fremddiagnosen auseinandergesetzt hat, ohne dass sein eigener Ansatz dabei zweifelhaft erscheint. Zutreffend hat der Sachverständige in der Anhörung aber auch darauf hingewiesen, dass es für die Beweisfrage letztlich nicht auf die genaue Diagnose ankommt, sondern um die tatsächliche Beeinträchtigung der Beklagten zu 1).

29

(2) Der Umstand, dass die Exploration der Beklagten zu 1) beim Sachverständigen Dr. H. sich nur über eine Stunde erstreckt hat, macht das Gutachten ebenfalls nicht ungenügend. Der Sachverständige hat diese Zeit als ausreichend für die Befragung zu dem von ihm zu bearbeitenden Beweisthema angesehen. Welche Maßnahmen und Untersuchungsmethoden ein Sachverständiger anwendet, hat er selbst auf der Grundlage seiner Fachkunde zu entscheiden. Dass für andere Gutachten über die Beklagte zu 1) längere Explorationsgespräche durchgeführt wurden, entwertet nicht die Vorgehensweise des gerichtlichen Sachverständigen, zumal den Aufträgen jeweils unterschiedliche Beweisthemen zugrunde lagen. Soweit die Beklagte zu 1) bemängelt, die Befragung habe weder ihre Wahrnehmung traumatischer Ereignisse aus dem Sorgerechtsstreit noch Nachfragen zum Bereich ihrer Kinder oder der Belastung durch die Sorge für die Mutter der Beklagten zu 1) umfasst, ist zu entgegenzuhalten, dass es um gegenwärtige Belastungen ging, der Sorgerechtsstreit aber bereits erledigt war; die Sorge um die Mutter und ihre Kinder sind in der Exploration, wie auf Seite 5 des Gutachtens ausgeführt, thematisiert worden.

30

(3) Auch der Einwand der Beklagten, das Gutachten enthalte entgegen der Beweisfrage keine Aussagen zu den Kindern, trifft nicht zu: Gefragt war nach einer Destabilisierung der Beklagten zu 1) und ob sich diese auf die Kinder auswirke; diese Frage hat der Sachverständige im letzten Satz des Gutachtens dahingehend beantwortet, dass er eine erhebliche Dekompensation mit Auswirkungen auf die Kinder als unwahrscheinlich ansieht.

31

(4) Der Umstand, dass die Behandler der Beklagten zu 1), Herr Z. und Frau Dr. F., mit den Ergebnissen des Sachverständigen nicht übereinstimmen, entwertet sein Gutachten nicht. Insoweit kann unterstellt werden, dass diese als Zeugen das wiederholen würden, was sie in den Anlage B2, BK1 und BK 2 bereits attestiert haben: Dass aus ihrer Sicht die Beklagte unter Druck nicht handlungsfähig sei und bei Wohnungsverlust dekompensieren würde. Eine Vernehmung als Zeugen ist nicht angezeigt, weil es den Beklagten nicht um die Schilderung erlebten Geschehens geht, sondern um fachliche Bewertung psychischer Vorgänge. Das aber ist die Aufgabe eines Sachverständigengutachtens. Der eigenen fachlichen Einschätzung des Behandlers ist aber wegen der besonderen Nähe im Patientenverhältnis kein Vorrang gegenüber einem gerichtlichen Gutachten einzuräumen. Ganz besonders deutlich zeigt sich die Gefahr, dass der Behandler die für eine Bewertung für gerichtliche Zwecke nötige fachliche Distanz verlieren kann, an den Ausführungen der Frau Dr. F. in Anlage BK 2 (Bl. 267 f. d.A.) unter Frage 3 und Frage 5 jeweils im letzten Absatz.

32

b) Auch ein besonderes Fortsetzungsinteresse nach § 574c Abs. 1 1. Alternative BGB ist nicht gegeben. Eine wesentliche Änderung der Umstände im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn in der Verlängerungszeit neue Härtegründe auftreten, die ursprünglich nicht vorhanden gewesen sind oder wenn sich ein ursprünglich vorhandener Härtegrund (z. B. eine Krankheit) in der Verlängerungszeit wesentlich verschärft oder zum Nachteil des Mieters anders entwickelt haben, als erwartet wurde. Auch das ist zu verneinen.

33

aa) Eine Veränderung in den Lebensumständen der Familie ist zwar insoweit eingetreten, als im Anschluss an den langjährigen Sorgerechtsstreit der Sohn V. im Sommer 2014 zu der Beklagten zu 1) und seinen Geschwistern in die Wohnung gezogen ist. Auch unter Zugrundelegung des streitigen Vortrages, V. sei ein Grad der Behinderung von 70 % zuerkannt worden ist, er sei lernbehindert, besuche eine Förderschule, habe ein eingeschränktes Orientierungsvermögen und einen erhöhten Betreuungsbedarf und sei in jugendpsychiatrischer Behandlung, ergibt sich daraus kein Anhaltspunkt dafür, dass ein Wegzug aus der streitgegenständlichen Wohnung eine nicht zu rechtfertigende Härte für ihn bedeutet, so dass eine Vernehmung seiner behandelnden Psychiaterin B. als Zeugin unterbleiben kann. Ein Umzug erfordert insbesondere bei einem fast volljährigen Kind nicht automatisch einen Schulwechsel, denn Jugendlichen sind auch längere Wege zumutbar. Daran ändern auch Orientierungsschwierigkeiten nichts. Trotz der geltend gemachten Orientierungsprobleme konnte V. einen mit Schul- und vollständigem Umfeldwechsel verbundenen Umzug vom in Schleswig-Holstein lebenden Vater zur Mutter in die streitgegenständliche Wohnung verkraften. Von hier aus besuchte er zunächst die B. Schule in B., die die Anfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln erforderte. Der Wechsel von der B. Schule zur jetzt besuchten noch weiter entfernten R.-Schule in F. war ebenfalls trotz seiner Orientierungsschwäche möglich. Das begleitete Einüben neuer Wege zur Schule und zu Ergo- und Psychotherapie nach einem Umzug erscheint vor diesem Hintergrund nicht als Härte.

34

bb) Soweit mit der Berufung erstmalig vorgetragen wird, seit Dezember 2015 habe sich V.s psychische Verfassung augenscheinlich verschlechtert und er habe lebensmüde Gedanken geäußert, kann offen bleiben, ob dieser Vortrag nach § 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO überhaupt berücksichtigt werden darf, denn auch wenn dieser Vortrag zugrunde gelegt wird, führt er nicht zu der Bewertung, die Beendigung des Mietverhältnisses bedeute eine nicht gerechtfertigte Härte, so dass die Vernehmung der Zeugin B. – die nur zu ihren Beobachtungen, nicht aber zu ihrer fachlichen Schlussfolgerungen zu befragen wäre – nicht angezeigt ist. Denn ist es ist weder dargelegt noch unter Beweis gestellt, dass diese Verschlechterung seiner Verfassung und die suizidalen Gedanken mit einem anstehenden Wohnungswechsel im Zusammenhang stehen. Das Attest der Kinder- und Jugendpsychiaterin lässt vielmehr Auswirkungen der jahrelangen innerfamiliären Konflikte als Ursache vermuten, die unabhängig von einem Umzug bestehen. Soweit geltend gemacht wird, der Zustand von V. verschlechtere sich durch die Verschlechterung der Verfassung seiner Mutter, hat das vom Amtsgericht eingeholte, auch für das Berufungsgericht nachvollziehbare und plausible Sachverständigengutachten gerade keine maßgebliche Destabilisierung der Beklagten zu 1) ergeben.

35

cc) Schließlich ergeben sich auch in der Person der Beklagten zu 1) selbst keine neuen oder eine Verschärfung der ursprünglichen Härtegründe. Auch wenn jetzt mit ihrem Sohn V. eine weitere Person im Haushalt lebt, die nach ihrem Vortrag trotz des Alters von fast 18 Jahren gesteigerten Betreuungsbedarf hat, hat sich auf der anderen Seite ihre Lage durch den Wegfall des Sorgerechtsstreits, der sie während des Vorprozesses noch in ganz starkem Maße in Anspruch genommen hatte, entspannt. Auch sind die beiden anderen Kinder altersbedingt nur noch in verringertem Maße betreuungsbedürftig. Dass im Falle eines Umzuges sie den Sohn V. in einer Umstellungsphase auf dem Weg zu Schule und Therapeuten begleiten müsste, stellt keine Härte dar, sondern ist noch zu den gewöhnlichen Nachteilen eines Umzuges zu rechnen. Auch, dass die Beklagte zu 1) Betreuungsleistungen für ihre in der Nähe lebende Mutter erbringt, führt nicht zu einem neuen Härtegrund. Es steht ihr frei, diese Leistungen auch von einer anderen Unterkunft – möglicherweise mit größerem Aufwand wegen längerer Wege – fortzuführen. Dass diese Leistungen zusammen mit der Sorge für die Kinder sie psychisch und physisch derart in Anspruch nehmen würden, dass sie zur Wohnungssuche nicht in der Lage wäre, hat das auch für das Berufungsgericht nachvollziehbare und plausible Gutachten ebenso wenig ergeben, wie eine drohende Dekompensation, und dementsprechend keine sekundäre Auswirkung auf die Kinder. Insoweit kann auf die vorstehenden Ausführungen Bezug genommen werden. Vielmehr hat das Gutachten ergeben, dass die Beklagte zu 1) zwar sehr belastet, aber imstande ist, eine Wohnungssuche und den anschließenden Umzug zu bewältigen. Nach dem Verständnis der Kammer wäre dies erst recht leistbar, wenn sich die Beklagten zu 1) für diese vorübergehende Phase im Wesentlichen dieser Aufgabe widmete. Insoweit könnte die Beklagte zu 1) jedenfalls ihren Aufwand für die Betreuung ihrer Mutter reduzieren durch Inanspruchnahme der für ältere oder pflegebedürftige Mitbürger zur Verfügung stehenden ambulanten Hilfsmaßnahmen von Sozialstationen oder Pflegediensten (z.B. für Haushaltstätigkeiten, Einkäufe, Ankleidehilfe). Wenn sie diese Angebote nicht wenigstens vorübergehend für die Zeit der Wohnungssuche und des Umzugs nutzt, kann das nicht zu Lasten des Klägers und seines festgestellten Eigenbedarfs gehen, denn der Mieter ist zur Mitwirkung an der Beseitigung von Härtegründen verpflichtet (vgl. Schmidt-Futterer/Blank, 12. Aufl., § 574c Rn 7).

36

3. Die Entscheidung über die Räumungsfrist folgt aus § 721 ZPO. Das Berufungsgericht hält unter Berücksichtigung der psychischen Erkrankung der Beklagten zu 1) und der sich daraus ergebenden Einschränkungen eine weitere Räumungsfrist bis zum 28.02.2017 für angemessen. Diese Zeit wird sie benötigen, um ggfs. unter Einschaltung der Fachstelle für Wohnungsnotfälle und sonstiger Dritter eine neue Unterkunft zu finden.

37

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

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