Urteil vom Landgericht Rostock (3. Zivilkammer) - 3 O 26/13

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Die Klägerin verlangt die Zahlung von Nutzungsentschädigung wegen der Inanspruchnahme einer Teilfläche eines im Eigentum der Klägerin stehenden Grundstückes durch den Beklagten.

2

Die Klägerin ist Eigentümerin des Flurstückes …., bei dem es sich im Wesentlichen um die Verkehrsfläche „A.“ in W. handelt.

3

Der Beklagte ist Eigentümer des mit einem Haus bebauten Flurstückes ... An dem Haus befindet sich ein Verandaanbau, der auf dem klägerischen Flurstück steht und eine Fläche von ungefähr 25,5 m² einnimmt. In dem Verandaanbau wird gegenwärtig ein Ladengeschäft betrieben. Der Beklagte nutzt zudem auf klägerischem Grundstück eine Fläche von 1,435 m² als unbebauten Zuweg zu einer Tüsche.

4

Haupthaus und Verandaanbau wurden um 1900 errichtet. Die Errichtung war seinerzeit von dem Rechtsvorgänger der Klägerin genehmigt worden. Bei dem Verandaanbau handelte es sich zunächst um einen Holzbau. Im Jahr 1914 erfolgte ein Umbau des Verandaanbaus und dessen Neuerrichtung, was wiederum von dem Rechtsvorgänger der Klägerin genehmigt worden war. Im Jahr 1993/94 erfolgte eine umfangreiche Schwammsanierung, in deren Verlauf der Verandaanbau komplett abgebrochen und auf Streifenfundamenten neu errichtet wurde. Auf die diesbezüglichen Bauunterlagen, nämlich die Baubeschreibung Anlage K14, GA I/140, die Bauzeichnung vom 14.01.1993 Anlage K15, GA I/144, und das Schreiben des Bauamtes der Klägerin vom 16.09.1993 Anlage K16, GA I/145, wird Bezug genommen.

5

Die Rechtsvorgänger des Beklagten bezahlten ab 1941 bis Anfang der 1990er Jahre eine jährliche Anerkennungsgebühr, deren weitere Annahme die Klägerin jedoch von sich aus ablehnte, weil sie diese Zahlung für unrechtmäßig hielt.

6

Mit Schreiben vom 29.01.2010 (Anlage K7 GA I/25) vertrat die Klägerin gegenüber dem Beklagten unter Berufung auf eine Rechtsprechung des OLG Rostock die Auffassung, der Nutzung des klägerischen Grundstückes liege ein Leihverhältnis zugrunde, welches die Klägerin mit sofortiger Wirkung kündigte, verbunden mit der Aufforderung an den Beklagten, Nutzungsentschädigung zu zahlen.

7

Die Klägerin macht nach Klageerweiterung mittlerweile Nutzungsentschädigung für die Zeit vom 03.02.2010 bis 30.11.2014 in Höhe von insgesamt 9.843,12 € geltend. Sie berechnet die Nutzungsentschädigung mit 170,10 € pro Monat. Für die Einzelheiten ihrer Berechnung wird auf die Ausführungen in der Klageschrift und in dem Klageerweiterungsschriftsatz vom 23.10.2014 verwiesen.

8

Die Klägerin trägt vor,

9

der Verandaanbau sei nicht als Überbau nach § 912 BGB zu behandeln, denn er stehe nicht mit dem Haupthaus auf einem einheitlichen Fundament. Zudem sei die Trennlinie zwischen Haupthaus und Verandaanbau mit der Grundstücksgrenze identisch. Es sei mit Nichtwissen zu bestreiten, dass die Tüschenfläche zur Erschließung des Grundstückes des Beklagten notwendig sei.

10

Die Klägerin beantragt,

11

den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe 9.843,12 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf einen Betrag in Höhe von 3.214,89 € seit dem 08.10.2011, auf weitere 680,40 € seit dem 02.06.2012, auf weitere 1.020,60 € seit dem 04.09.2012, auf weitere 1.014,93 € ab Zustellung der Anspruchsbegründungsschrift vom 30.11.2012 und auf weitere 3.912,30 € ab Zustellung des Schriftsatzes vom 23.10.2014 zu zahlen.

12

Der Beklagte beantragt,

13

die Klage abzuweisen.

14

Der Beklagte trägt vor,

15

der Verandaanbau sei als Überbau nach § 912 BGB auch dann zu behandeln, wenn er nicht zeitgleich mit dem Haupthaus errichtet worden sei. Im Zuge der Schwammsanierung im Jahr 1993 sei von der Klägerin im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens eine innere räumliche Verbindung des Verandaanbaus mit dem Haupthaus zum Zweck der Einrichtung eines Ladengeschäftes genehmigt worden. Bei Entfernung des Verandaanbaus stünde das Haupthaus im Erdgeschoss ohne Außenmauern da. Die Vorfläche zur Tüsche sei für die Erschließung des Grundstückes des Beklagten notwendig, weshalb er diese Fläche aufgrund eines Wegerechtes als Zuweg nutzen könne.

16

Für die weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf deren Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe

17

Die Klage ist unbegründet.

18

Der Klägerin steht ein Anspruch auf Nutzungsentschädigung nach den Vorschriften über das Eigentümer-Besitzer-Verhältnis weder hinsichtlich des Verandaanbaus, noch hinsichtlich der Vorfläche zur Tüsche zu.

19

A. Verandaanbau

I.

20

Ein Anspruch auf Zahlung nach § 987 BGB besteht nicht.

21

Ein etwaiger Herausgabeanspruch der Klägerin hinsichtlich der streitigen Teilfläche nach § 985 BGB ist nicht rechtshängig. Zudem hat der Beklagte hinsichtlich eines durch die von der Klägerin ausgesprochene Kündigung des Grundstücksleihvertrages möglicherweise weggefallenen Besitzrechts jedenfalls keine positive Rechtskenntnis (§ 990 Abs.1 Satz 2 BGB).

II.

22

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Nutzungsentschädigung nach § 988 BGB wegen eines unentgeltlich erlangten Besitzes des Beklagten an der streitigen Teilfläche, denn die Klägerin hat den Besitz des Beklagten an der Teilfläche nach der Vorschrift des § 912 BGB zu dulden.

23

1. Voraussetzung für einen Überbau im Sinne von § 912 Abs. 1 BGB ist, dass bei der Errichtung eines einheitlichen Gebäudes über die Grenze gebaut worden ist. Ob ein einheitliches Gebäude vorliegt, muss unter Würdigung aller Umstände des Sachverhaltes beantwortet werden. Neben der körperlichen bautechnischen Beschaffenheit kommt es auf die funktionale Einheit an ( BGH, Urteil vom 02.06.1989, V ZR 167/88).

24

2. Liegt sachenrechtlich ein Überbau nach § 912 Abs. 1 BGB vor und hat der beeinträchtigte Grundstückseigentümer diesem zugestimmt (rechtmäßiger Überbau), fallen dem Überbauenden erst recht weder Vorsatz, noch Fahrlässigkeit zur Last, so dass der jeweilige Eigentümer des überbauten Grundstücks analog § 912 BGB den Überbau stets zu dulden hat und dem jeweiligen Eigentümer des Stammgrundstücks das Eigentum am überbauten Gebäudeteil und ein Recht zum Besitz an der überbauten Fläche zustehen. Darin liegt eine Verdinglichung der obligatorischen Zustimmung in Ansehung der Duldungspflicht, das heißt der Rechtsnachfolger im Eigentum an dem überbauten Grundstück hat die Überbauung nach § 912 Abs. 1 BGB zu dulden (BGH, Urteil vom 16.01.2004 V ZR 243/03, Textziffer 14, Urteil vom 28.01.2011, V ZR 147/10, Textziffer 37; Roth in Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearbeitung 2009, § 912 BGB, Rn. 69, 71).

25

3. Ist ein Gebäudeteil nicht bei der Errichtung eines Gebäudes, sondern nachträglich durch Anbau an ein schon bestehendes Gebäude über die Grenze gebaut worden, findet § 912 BGB zwar keine unmittelbare Anwendung. Die Vorschrift ist aber Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes, welcher über den unmittelbar im Gesetz geregelten Fall hinaus auf ähnliche Tatbestände ausgedehnt werden kann. Sie will die mit der Beseitigung eines Überbaus verbundene Zerschlagung wirtschaftlicher Werte vermeiden, die dadurch entsteht, dass sich der Abbruch eines überbauten Gebäudeteils meist nicht auf diesen beschränken lässt, sondern zu einer Beeinträchtigung und Wertminderung auch des bestehen bleibenden, auf eigenem Grund gebauten Gebäudeteils führt. Zu diesem Zweck stellt § 912 BGB das Interesse an dem Erhalt der Gebäudeeinheit über das Interesse des Nachbarn an der Durchsetzung seiner Eigentumsrechte, sofern der Überbauer nicht grob fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt und der Nachbar dem Überbau nicht sofort widersprochen hat. Diese Wertung kann grundsätzlich auch zum Ausgleich widerstreitender Interessen von Nachbarn herangezogen werden, die bestehen, wenn eine Grundstücksgrenze in Folge nachträglicher Veränderungen eines - zunächst innerhalb der Grenzen errichteten - Gebäudes überbaut wurde. Dabei ist eine entsprechende Anwendung von § 912 BGB nicht auf bestimmte Baumaßnahmen, wie die Erweiterung des vorhandenen Baukörpers, beschränkt. Bei Veränderungen eines bestehenden Gebäudes wird der Grundgedanke des § 912 BGB allerdings nicht in jedem Fall zum Tragen kommen und daher nicht stets von einem Überbau im Rechtssinne auszugehen sei. Dies gilt insbesondere bei nachträglich angefügten Gebäudeteilen, wie Fensterläden und Markisen, weil bei deren Beseitigung nicht von der Zerstörung wirtschaftlicher Werte gesprochen werden kann. Die Möglichkeit einer entsprechenden Anwendung von § 912 BGB hängt deshalb aber nicht von der Art der Baumaßnahme ab, sondern von den mit einem Rückbau verbundenen Folgen. Entscheidend ist, ob sich eine Beseitigung des Überbaus nicht auf diesen beschränken lässt, sondern die Gebäudeeinheit beeinträchtigt und auf diese Weise zwangsläufig zu einem Wertverlust der innerhalb der Grundstücksgrenzen befindlichen Gebäudeteile führt (BGH, Urteil vom 19.09.2008, V ZR 152/07, Textziffer 9 und 10).

26

Bei einer Erweiterung des bestehenden Baukörpers ist Voraussetzung, dass das erweiterte Gebäude nun mit wesentlichen Teilen auf zwei Grundstücken steht. Ein Überbau liegt auch dann nicht vor, wenn nachträglich ein Anbau wie z.B. eine Garage errichtet wird, der vollständig auf dem Nachbargrundstück durchgeführt wird und ohne Nachteil für das Hauptgebäude abgerissen werden kann. Anders liegt es, wenn die Garage etwa in Folge eines gemeinsamen Hausdaches in den Baukörper des Gebäudes einbezogen ist und ein Abriß dann auch das sich innerhalb des Grundstücks befindliche Gebäude beeinträchtigt (Roth, aaO, § 912 BGB, Rn. 17).

27

4. Unterstellt, der Verandaanbau sei nicht zugleich mit dem Haupthaus errichtet worden, ist die Klägerin jedenfalls in analoger Anwendung von § 912 BGB nach den oben ausgeführten Grundsätzen zur Duldung verpflichtet.

28

4.1. Dabei ist davon auszugehen, dass die Nutzung der streitigen Teilfläche mit Zustimmung der Klägerin bzw. deren Rechtsvorgängern im Eigentum erfolgt ist. Gegenteiliges hat die Klägerin nicht dargetan. Sie geht vielmehr selbst davon aus, dass die Nutzung der Teilfläche als Verandaanbau von dem ursprünglichen provisorischen Ausbauzustand bis zum heutigen Ausbauzustand mit ausdrücklicher Genehmigung der städtischen Behörden erfolgt ist. Dabei liegen die in Betracht kommenden Zeitpunkte nicht in dem Zeitraum der Existenz der ehemaligen DDR.

29

Gleich, ob die Erteilung der Zustimmung zeitlich um 1900, in das Jahr 1914 oder das Jahr 1993/94 eingeordnet wird, ist die Klägerin an die Zustimmung des seinerzeit Verfügungsbefugten als Rechtsnachfolgerin im Eigentum gebunden.

30

Die Bindung der Klägerin an die vergangenheitlich erteilten Zustimmungen ergibt sich aus der oben zitierten sogenannten Verdinglichung der Zustimmung und der Gesamtrechtsnachfolge der Klägerin in das Eigentum an dem überbauten Grundstück. Dabei kann sich die Klägerin nicht darauf berufen, dass eine Zustimmung einer städtischen Behörde lediglich Verwaltungshandeln bedeute, nicht jedoch einer von der Klägerin als Verfügungsbefugte über das Eigentum erteilten Zustimmung gleichgesetzt werden könne. Angesichts der historischen Entwicklung der Verandagrundstücke in ganz Warnemünde, die durch baurechtliche, städtebauliche und denkmalschutzrechtliche Bestimmungen gesteuert worden ist und wird, ist es nicht vorstellbar, dass die vertretungsberechtigten Organe der Klägerin bzw. ihrer Rechtsvorgänger im Eigentum davon keine Kenntnis hatten oder bei entsprechender Kenntnis nicht sofort Widerspruch erhoben hätten, wenn sie Verandaanbauten nicht erlauben wollten.

31

Im übrigen spricht für eine vergangenheitlich erfolgte Zustimmung auch, dass die Klägerin die Nutzung bis zur Kündigung im Jahr 2010 widerspruchslos duldete und selbst in der Kündigung den Einwand rechtswidriger Nutzung in der Vergangenheit nicht erhob.

32

4.2. Der Verandaanbau als nachträglicher Anbau erfüllt die oben entwickelten Voraussetzungen für eine analoge Anwendung des § 912 BGB. Es kommt nicht darauf an, ob die Trennlinie zwischen Haupthaus und Verandaanbau identisch ist mit der Grundstücksgrenze. Auf ein einheitliches Fundament kann es schon deshalb nicht ankommen, weil nachträgliche Anbauten typischerweise nicht auf einem einheitlichen Fundament mit dem Haupthaus stehen, denn das würde die gleichzeitige Errichtung voraussetzen.

33

Im vorliegenden Fall wird der Verandaanbau nicht nur als Ladengeschäft genutzt. Vielmehr ist nach dem von der Klägerin nicht bestrittenen Vortrag des Beklagten im Zuge der Schwammsanierung eine innere räumliche Verbindung des Verandaanbaus mit dem Haupthaus gerade zum Zweck der Einrichtung eines Ladengeschäfts genehmigt worden. Demnach ist der Verandaanbau in den Baukörper des Haupthauses einbezogen worden. Bei Beseitigung des Verandaanbaus wäre das Haupthaus an dieser Seite ohne Außenwand. Eine Beseitigung des Verandaanbaus würde sich deshalb nicht auf diesen beschränken, sondern die Gebäudeeinheit insgesamt beeinträchtigen und auf diese Weise zwangsläufig zu einem Wertverlust des innerhalb der Grundstücksgrenzen des Beklagten befindlichen Haupthauses führen.

34

Da somit wegen der Duldungspflicht der Klägerin analog § 912 BGB dem Beklagten ein Recht zum Besitz zusteht, kommt ein Nutzungsentschädigungsanspruch nach § 988 BGB nicht in Betracht.

35

B. Vorfläche zur Tüsche

36

Ein Anspruch auf Zahlung von Nutzungsentschädigung nach § 988 BGB besteht nicht.

37

Dem Anspruch steht entgegen, dass der Beklagte nach § 917 BGB berechtigt ist, die Tüschenvorfläche als Notweg zu benutzen, und die Klägerin diese Nutzung zu dulden hat.

38

Das klägerische Bestreiten des Vortrages des Beklagten zur Tüschenvorfläche mit Nichtwissen ist nach § 138 Abs. 4 ZPO unzulässig. Die streitige Tüschenvorfläche steht im Eigentum der Klägerin. Sie kann sich zu den Verhältnissen an einem in ihrem Eigentum stehenden Grundstücksteil nicht mit Nichtwissen erklären.

39

C. Nebenentscheidungen

40

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 709 ZPO.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen