Beschluss vom Oberlandesgericht Hamm - 2 SAF 21/21
Tenor
Örtlich zuständig ist das Amtsgericht – Familiengericht – Herne.
1
Gründe
2I.
3Das beteiligte minderjährige Kind ist am 11.5.2021 wegen Betreuungs- und Erziehungsproblemen der Eltern vom Jugendamt Bochum in Obhut genommen und in einer Bereitschaftspflegefamilie in Herne untergebracht worden. Die Kindesmutter stellte am 07.06.2021 einen Antrag gem. § 19 SGB VIII mit dem Ziel, gemeinsam mit dem Kind in einer Mutter-Kind-Einrichtung aufgenommen zu werden. Die Maßnahme begann sodann trotz erheblicher Bedenken an der Motivation der Mutter am 02.07.2021, wobei allerdings die Mutter zunächst allein in der Einrichtung aufgenommen wurde, um in den nächsten Wochen unter Beweis zu stellen, dass sie in der Lage ist, sich den bestehenden Rahmenbedingungen anzupassen sowie Absprachen zu treffen und einzuhalten. Dieser Versuch scheiterte, so dass die Maßnahme am 26.07.2021 abgebrochen wurde. Das Kind war durchgehend in der Bereitschaftspflegefamilie in Herne verblieben. Die Mutter ist danach in den Haushalt ihrer eigenen Mutter zurückgekehrt. Das vorliegende Verfahren ist sodann aufgrund des unter dem 19.08.2021 beim Amtsgericht – Familiengericht – Bochum gestellten und am 25.08.2021 eingegangenen Antrags des Jugendamtes der Stadt Bochum auf Entziehung der elterlichen Sorge gem. § 1666 BGB eingeleitet worden.
4Das Amtsgericht – Familiengericht – Bochum hat zunächst einen Termin zur Anhörung der Beteiligten auf den 30.9.2021 bestimmt. Mit Verfügung vom 27.9.2021 hat es den Termin aufgehoben und dem Jugendamt aufgegeben, zum ständigen Aufenthalt des Kindes Stellung zu nehmen. Als Grund für die Aufhebung hat es die Klärung der Zuständigkeit des Familiengerichts Bochum angegeben. Im Anschluss an die Stellungnahme des Jugendamts vom 28.9.2021 hat es sich - mit den Beteiligten zugesandtem Beschluss vom 30.9.2021 - für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das von ihm für zuständig gehaltene Amtsgericht – Familiengericht – Herne verwiesen. Mit Verfügung vom 8.10.2021 hat das Amtsgericht Herne die Übernahme des Verfahrens abgelehnt und die Akten an das Amtsgericht Bochum zurückgeschickt. In seiner Verfügung hat es die Ansicht vertreten, dass ein dauerhafter Aufenthalt des Kindes in der Bereitschaftspflegefamilie i. S. v. § 152 I FamFG nicht begründet worden sei. Am 13.10.2021 hat das Amtsgericht Bochum die Akten unter Hinweis auf die Bindungswirkung seines Verweisungsbeschlusses an das Amtsgericht Herne zurückgeschickt. Mit den Beteiligten bekannt gemachtem Beschluss vom 25.10.2021 hat sich das Amtsgericht – Familiengericht – Herne für örtlich unzuständig erklärt und die Sache dem Senat zum Zwecke der Zuständigkeitsbestimmung vorgelegt. In der Begründung seines Beschlusses vertritt das Amtsgicht die Rechtsansicht, dass das Amtsgericht – Familiengericht – Bochum gem. § 152 III FamFG als das Gericht, in dem das Bedürfnis der Fürsorge entstanden sei, für die Sache örtlich zuständig sei.
5II.
6Der Senat ist gem. § 5 Abs. 1 Nr. 4 FamFG zur Bestimmung der Zuständigkeit im vorliegenden Sorgerechtsverfahren berufen, nachdem sich sowohl das Amtsgericht – Familiengericht – Bochum, als auch das Amtsgericht – Familiengericht – Herne jeweils durch den Beteiligten zugesandte Beschlüsse (vgl. Senat, Beschluss v. 11.6.2008 – 2 Sdb 12/08 – FamRZ 2008, 2040, zit. nach juris, Rn. 3; Beschluss v. 22.12.2009 – 2 Sdb 31/09 – FamRZ 2010, 920, 921; Beschluss v. 18.11.2011 – 2 SAF 21/11 – FamRZ 2012, 654, zit. nach juris, Rn. 8) rechtskräftig für unzuständig erklärt haben.
7Das Amtsgericht – Familiengericht – Herne ist für das Verfahren auf Regelung der elterlichen Sorge für Kind A örtlich zuständig.
81) Die Zuständigkeit des Amtsgerichts folgt allerdings nicht aus dem Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Bochum vom 30.9.2021, denn dieser bindet das Amtsgericht – Familiengericht – Herne gem. § 3 Abs. 3 S. 2 FamFG nicht. Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entfällt zwar nicht wegen fehlerhafter Behandlung der Sache. Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses tritt auch dann ein, wenn der Beschluss auf einem Rechtsirrtum beruht oder ansonsten inhaltlich fehlerhaft ist. Sie entfällt aber dann, wenn die Verweisung offensichtlich gesetzwidrig ist, so dass sie objektiv willkürlich erscheint oder wenn sie unter Versagung des rechtlichen Gehörs ergangen ist, d. h. das Gericht den Verfahrensbeteiligten vor der Entscheidung keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat (vgl. BGH, Beschluss v. 10.6.2003 – X ARZ 92/03 - NJW 2003, 3201, 3202; Senat, Beschluss v. 24.2.2011 – 2 SAF 2/11 – FamRZ 2011, 141, zit. nach juris, Rn. 11; Beschluss v. 26.9.2013 – 2 SAF 11/13 – FamRZ 2014, 411, zit. nach juris, Rn. 19; Beschluss v. 14.1.2016 – 2 SAF 27/15 - FamRZ 2016, 1292, zit. nach juris, Rn. 13). So liegen die Dinge hier. Das Amtsgericht - Familiengericht – Bochum hat das Gebot des rechtlichen Gehörs verletzt, weil es den Eltern des beteiligten Kindes vor Erlass des Verweisungsbeschlusses keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Zwar hat es die beteiligten Eltern mit der Terminsaufhebung auf seine Bedenken hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit hingewiesen. In der kurzen Zeit vom Erlass dieses Hinweises mit Verfügung vom 27.9.2021 bis zum Erlass des Verweisungsbeschlusses vom 30.9.2021 (weniger als drei Tage) hatten die beteiligten Eltern jedoch keine Gelegenheit, auf die mitgeteilten Bedenken des Amtsgerichts in angemessener Form zu reagieren. Unter diesen Umständen konnte der Beschluss keine Bindungswirkung entfalten. Gleiches gilt für den Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Herne vom 25.10.2021. Auch dieser konnte – unabhängig von der Frage, ob es sich dabei um eine Verweisung an das Amtsgericht Bochum i. S. d. § 3 Abs. 1 FamFG handelt – keine Bindungswirkung entfalten, denn auch diesem Beschluss ist eine Anhörung der beteiligten Eltern nicht vorausgegangen.
92) Die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts – Familiengericht – Herne folgt aus § 152 FamFG. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob sie aus § 152 Abs. 2 FamFG oder aus § 153 Abs. 3 FamFG ergibt, denn nach beiden Regelungen ist die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Herne gegeben.
10Gem. § 152 Abs. 2 FamFG ist für Kindschaftssachen, wenn keine Ehesache i. S. d. § 152 Abs. 1 FamFG anhängig ist, das Gericht zuständig, in dessen Bezirk das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Das Verfahren auf Regelung der elterlichen Sorge ist gem. § 151 Nr. 1 FamFG eine Kindschaftssache. Eine Ehesache ist nicht anhängig. Ist die Zuständigkeit eines deutschen Gerichts nach § 152 Abs. 2 FamFG nicht gegeben, ist gem. § 152 Abs. 3 FamFG das Gericht zuständig, in dessen Bezirk das Bedürfnis der Fürsorge bekannt wird. Dabei kommt es gem. § 2 Abs. 1 FamFG auf die tatsächlichen Verhältnisse zu dem Zeitpunkt an, in welchem das Gericht mit der Angelegenheit erstmals befasst wird. Das ist bei Antragsverfahren der Zeitpunkt, in dem der Antrag bei Gericht eingeht (vgl. Senat, Beschluss v. 24.2.2011 – 2 SAF 2/11 – a. a. O., Rn. 14). In Amtsverfahren liegt ein Befassen in dem Zeitpunkt vor, in dem das Gericht von den Umständen Kenntnis erhält, die eine Verpflichtung zum Tätigwerden auslösen (vgl. Keidel-Sternal, FamFG, 20. Aufl., § 2 Rn. 15). Nach diesen Grundsätzen war das Gericht erstmals mit Eingang der Gefährdungsmitteilung des Jugendamts der Stadt Bochum am 25.8.2021 beim Amtsgericht Bochum mit der Sache befasst. Zu diesem Zeitpunkt war das Kind bereits in Obhut genommen und seinen Bereitschaftspflegeeltern in Herne zugeführt worden.
11a) Für die Frage, ob das Kind im Bezirk des Amtsgerichts Herne einen dauernden Aufenthalt i. S. d. § 152 Abs. 2 FamFG begründet hat, kommt es darauf an, ob es an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Maßgeblich sind dabei insbesondere die Dauer des Aufenthalts sowie der Umfang und die Intensität der sozialen Beziehungen zum Aufenthaltsort (vgl. Senat, Beschluss v. 13.1.2016 – 2 SAF 17/15 – FamRZ 2016, 1391, zit. nach juris, Rn. 17; Keidel-Engelhardt, a. a. O., § 152 Rn. 6 m. w. N.). Verweilt das Kind erst kurze Zeit an einem Aufenthaltsort, kommt es darauf an, ob der Aufenthalt von Beginn an auf Dauer angelegt ist und künftig Daseinsmittelpunkt des Kindes sein soll (vgl. Senat, Beschluss v. 13.1.2016 – 2 SAF 17/15 – a. a. O.). Dazu, ob der am 11.5.2021 begründete Aufenthalt von A in seiner Bereitschaftspflegefamilie in Herne auf Dauer angelegt ist, sind bislang keine Feststellungen getroffen worden. Allein der Hinweis des Jugendamts in seiner Stellungnahme vom 28.9.2021 darauf, dass das Kind sich in der Bereitschaftspflegefamilie befindet und sich dort bis zur Perspektivfindung auch weiterhin aufhalten wird, sagt nichts über die voraussichtliche Dauer seines Aufenthalts in der Bereitschaftspflegefamilie aus, in welcher er nunmehr bereits seit mehreren Monaten lebt. Zwar ist der Aufenthalt eines in Obhut genommenen Kindes in einer Bereitschaftspflegefamilie in der Regel nur ein vorübergehender und nicht auf Dauer angelegt (vgl. Senat, Beschluss v. 13.1.2016 – 2 SAF 17/15 – FamRZ 2016, 1391, zit. nach juris, Rn. 19). Maßgeblich sind jedoch die tatsächlichen Verhältnisse, die erst dann hinreichend sicher prognostiziert werden können, wenn die Überlegungen des Jugendamts, ob das in Obhut genommene Kind längere Zeit in der Bereitschaftspflegefamilie verbleiben, in eine Dauerpflegefamilie wechseln oder in einem Heim untergebracht werden soll, abgeschlossen sind. Vorliegend kann im Hinblick auf die bisherige Dauer des Aufenthalts von A in der Bereitschaftspflegefamilie von mehr als einem halben Jahr und den Umstand, dass infolge des – bereits vor Antragstellung erfolgten – Scheiterns der Mutter-Kind-Maßnahme seine zeitnahe Rückkehr in den Haushalt der Mutter nicht in Betracht kommen dürfte, jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass sein Aufenthalt in der Bereitschaftspflegefamilie noch eine gewisse Zeit andauern wird.
12b) Aber auch wenn der Aufenthalt von A im Rahmen seiner Fremdunterbringung in der Bereitschaftspflegefamilie in Herne ein vorübergehender wäre, mit der Folge, dass er nicht geeignet wäre, die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts – Familiengerichts – Herne nach den in § 152 Abs. 2 FamFG normierten Voraussetzungen zu begründen, wäre das Amtsgericht – Familiengericht – Herne jedenfalls gem. § 152 Abs. 3 FamFG örtlich zuständig geworden, weil das Bedürfnis der Fürsorge erstmals während des Aufenthalts des Kindes im Rahmen seiner Fremdunterbringung im Bezirk des Amtsgerichts Herne bekannt geworden ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Regelung in § 152 Abs. 3 FamFG um einen weit auszulegenden Auffangtatbestand handelt (vgl. BT-Drucks. 16/6308, S. 234), der nicht auf den Begriff der konkreten Fürsorge für eine Person eingeschränkt werden kann. Denn die Regelung dient dem Ziel, eine bestehende Lücke zur Zuständigkeit nach § 152 Abs. 1 und 2 FamFG zu schließen. Sie ist daher weit auszulegen. Ein Bedürfnis der Fürsorge besteht überall dort, wo das Kind der Fürsorge durch das Familiengericht bedarf und das Gericht amtlich von Tatsachen Kenntnis erlangt, die Anlass zu gerichtlichen Maßnahmen sein können (vgl. Senat, Beschluss v. 19.3.2013 – 2 SAF 4/12 – FamRZ 2013, 2004, zit. nach juris, Rn. 13; Beschluss v. 13.1.2016 – 2 SAF 17/15 - a. a. O.; Keidel-Engelhardt, a. a. O., § 152 Rn. 7). Zum maßgeblichen Zeitpunkt, zu dem das Gericht erstmals durch die Gefährdungsanzeige des Jugendamts der Stadt Bochum vom Fürsorgebedürfnis des minderjährigen Kindes Kenntnis erlangt hat, befand sich A bereits im Rahmen der Fremdunterbringung im Bezirk des Amtsgerichts – Familiengericht – Herne. Dort ist daher auch das Bedürfnis für die Fürsorge entstanden.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- BGB § 1666 Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls 1x
- 2 Sdb 12/08 1x (nicht zugeordnet)
- FamFG § 5 Gerichtliche Bestimmung der Zuständigkeit 1x
- 2 SAF 4/12 1x (nicht zugeordnet)
- 2 SAF 21/11 1x (nicht zugeordnet)
- FamFG § 2 Örtliche Zuständigkeit 1x
- 2 SAF 2/11 2x (nicht zugeordnet)
- 2 SAF 27/15 1x (nicht zugeordnet)
- X ARZ 92/03 1x (nicht zugeordnet)
- Beschluss vom Oberlandesgericht Hamm - 2 SAF 17/15 4x
- FamFG § 151 Kindschaftssachen 1x
- 2 SAF 11/13 1x (nicht zugeordnet)
- 2 Sdb 31/09 1x (nicht zugeordnet)
- FamFG § 152 Örtliche Zuständigkeit 13x
- FamFG § 3 Verweisung bei Unzuständigkeit 2x
- § 19 SGB VIII 1x (nicht zugeordnet)
- FamFG § 153 Abgabe an das Gericht der Ehesache 1x