Beschluss vom Hanseatisches Oberlandesgericht (1. Strafsenat) - 1 Rev 61/15

Tenor

1. Der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 19. Juni 2015 wird aufgehoben.

2. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 6. Februar 2015 wird nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen.

3. Der Angeklagte trägt die Kosten seiner Revision.

Gründe

I.

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Das Amtsgericht Hamburg-St. Georg hat den Angeklagten mit Urteil vom 6. Oktober 2014 wegen Leistungserschleichung und vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung zu einer bedingten Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Die dagegen eingelegte Berufung des Angeklagten hat das Landgericht mit Urteil vom 6. Februar 2015 wegen Ausbleibens des Angeklagten verworfen.

2

Gegen das in seiner Abwesenheit ergangene Urteil, das dem Angeklagten am 17. Februar 2015 zugestellt wurde, hat der Angeklagte am 13. Februar 2015 Revision eingelegt, die er mit am 21. März 2015 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz begründet hat. Durch Beschluss vom 19. Juni 2015 hat das Landgericht die Revision als unzulässig verworfen. Gegen den ihm am 25. Juni 2015 zugestellten Verwerfungsbeschluss hat der Angeklagte die Entscheidung des Revisionsgerichts beantragt und hilfsweise um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist nachgesucht.

II.

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1. Der gemäß § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO statthafte und fristgerecht gestellte Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts hat Erfolg. Er führt zur Aufhebung des angefochtenen Verwerfungsbeschlusses. Das Landgericht hat die fristgerecht begründete Revision des Angeklagten zu Unrecht nach § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen.

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Nach § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO sind die Revisionsanträge und ihre Begründung spätestens binnen eines Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels anzubringen. Die Frist zur Einlegung der Revision begann nach § 341 Abs. 2 StPO mit der Zustellung des in Abwesenheit des Angeklagten verkündeten Verwerfungsurteils vom 6. Februar 2015 an diesen am 17. Februar 2015 und endete am 24. Februar 2015. Die anschließende Monatsfrist zur Begründung der Revision nach § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO begann mithin am 25. Februar 2015 und endete nach § 43 Abs. 1 StPO am 25. März 2015. Die Revisionsbegründung ist jedoch am 21. März 2015 und damit fristgerecht i.S.d. § 345 Abs. 1 StPO beim Landgericht eingegangen.

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2. Der zugleich hilfsweise gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ist gegenstandslos, weil eine Frist aus den oben genannten Gründen nicht versäumt worden ist.

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3. Die Revision des Angeklagten ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

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a) Die Zustellung des landgerichtlichen Urteils vom 6. Februar 2015 ist wirksam. Dem Verteidiger ist eine mit der Urschrift des Urteils übereinstimmende Ausfertigung zugestellt worden (zum Übereinstimmungserfordernis BGH, Beschluss vom 21. November 2000 - 4 StR 354/00, BGHSt 46, 204; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 24. Februar 1989 - 3 Ss 142/88, NStE Nr. 10 zu § 275 StPO; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 37 Rn. 2; Gericke in KK-StPO, 7. Aufl. § 345 Rn. 6). Die Unterschrift der Vorsitzenden der Kleinen Strafkammer unter dem Fertigstellungsvermerk des Hauptverhandlungsprotokolls stellt hier zugleich eine Unterschrift des vollständig mit den Gründen in das Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommenen Urteils dar.

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aa) Das schriftliche Urteil ist gemäß § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterschreiben. Ebenso ist das über die Hauptverhandlung aufgenommene Protokoll von dem Vorsitzenden und dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, soweit dieser in der Hauptverhandlung anwesend war, gemäß § 271 Abs. 1 Satz 1 StPO zu unterschreiben. Hinsichtlich Form und Inhalt unterliegt das in die Sitzungsniederschrift aufgenommene Urteil - mit Ausnahme der sich bereits aus dem Protokoll gemäß § 272 StPO ergebenden Angaben des Urteilskopfes nach § 275 Abs. 3 StPO (OLG Celle, Beschluss vom 21. September 2011 - 32 Ss 110/11, juris) - den gleichen Anforderungen wie das in einer getrennten Urkunde erstellte Urteil (RG, Urteil vom 25. Mai 1889 - 1206/89, RGSt 19, 233, 234; BGH, Beschluss vom 8. Mai 2013 - 4 StR 336/12, BGHSt 58, 243, 249).

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bb) Ob ein vollständig in die Sitzungsniederschrift aufgenommenes Urteil neben der nach § 271 Abs. 1 Satz 1 StPO erforderlichen Unterschrift des Vorsitzenden unter dem Protokoll regelhaft zusätzlich von diesem gemäß § 275 Abs. 1 Satz 1 StPO unterschrieben werden muss, wenn er der einzige an der Entscheidung mitwirkende Berufsrichter ist, wird nicht einhellig beantwortet (zustimmend HansOLG Hamburg, Beschlüsse vom 8. März 2011 - 2-51/10 (REV) und vom 16. Februar 2015 - 2 Rev 44/15; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 275 Rn. 1; Stuckenberg in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 275 Rn. 20; Greger in KK-StPO, a.a.O., § 275 Rn. 4; Frister in SK-StPO, 4. Aufl., § 275 Rn. 5; dagegen OLG Hamm, Beschlüsse vom 8. Oktober 2012 - III-3RBs 273/12, NStZ 2013, 304 und vom 10. Januar 2013 - III-5 RBs 181/12, juris; in diesem Sinne, aber letztlich offenlassend, OLG Celle, Beschluss vom 21. September 2011 - 32 Ss 110/11, StraFo 2012, 21f.; Peglau in BeckOK StPO, Edition 22, § 275 Rn. 1).

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(1) Die Regelung des § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO ist im Fall eines Protokollurteils eines allein an der Entscheidung mitwirkenden Berufsrichters dahin auszulegen, dass neben der Unterzeichnung des Protokolls durch den Vorsitzenden eine gesonderte Unterschrift unter den im Protokoll enthaltenen Urteilsgründen regelmäßig nicht erforderlich ist. Denn bereits einer einzigen vom Richter geleisteten Unterschrift wird sich die Verantwortungsübernahme für die Fertigstellung des Protokolls (§ 271 Abs. 1 Satz 1 StPO) ebenso wie für die Urteilsgründe (§ 275 Abs. 2 Satz 1 StPO) entnehmen lassen.

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Zwar scheinen der Wortlaut und die systematische Verortung des Unterschriftserfordernisses in zwei Normen unterschiedlichen Regelungsgehalts es nahezulegen, dass der Vorsitzende im Fall einer in die Sitzungsniederschrift aufgenommenen Urteilsgründe nicht nur das Protokoll, sondern zusätzlich mit einer zweiten Unterschrift die Urteilsgründen zu unterzeichnen hat (HansOLG Hamburg, Beschlüsse vom 8. März 2011 - 2-51/10 (REV) und vom 16. Februar 2015 - 2 Rev 44/15; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 275 Rn. 1; Stuckenberg, a.a.O.; Greger, a.a.O.; Frister, a.a.O.). Aber weder § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO noch § 271 Abs. 1 Satz 1 StPO fordern ihrem Wortlaut noch dem regelungssystematischen Zusammenspiel nach zwei Unterschriften. Vielmehr sind beide Unterschriftserfordernisse am Sinn und Zweck der jeweiligen Bestimmung zu messen (BGH, Beschluss vom 10. August 1977 - 3 StR 240/77, BGHSt 27, 236, 238 und Beschluss vom 14. Mai 1981 - 4 StR 694/80, BGHSt 30, 97, 101), wobei rein formelle Erwägungen nicht das entscheidende Gewicht erhalten dürfen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Einl. Rn. 196). Bei zweckbezogener Auslegung des § 275 Abs. 1 und 2 StPO sollen die Unterschriften unter dem Urteil beurkunden, dass die Urteilsgründe mit dem Beratungsergebnis des Kollegialgerichts übereinstimmen (RG, Urteil vom 25. Mai 1889, a.a.O.; BGH, Urteil vom 25. Februar 1975 - 1 StR 558/74, BGHSt 26, 92, 93; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 275 Rn. 19). Entsprechendes gilt für den Fall des Einzelrichters, der mit seiner Unterschrift beurkundet, dass die Urteilsgründe mit denjenigen Gründen übereinstimmen, die für seinen Urteilsspruch maßgebend waren (OLG Hamm, Beschluss vom 8. Oktober 2012, a.a.O.).

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Diese Verantwortungsübernahme ist regelmäßig auch im Fall eines in die Sitzungsniederschrift aufgenommenen Urteils nicht zweifelhaft, wenn mit dieser Unterschrift zugleich auch das Protokoll fertiggestellt wird. Denn einer solchen Unterschrift wird im Wege der Auslegung (vgl. RG, Urteil vom 2. Juni 1930 - II 1201/29, RGSt 64, 214, 215) eine entsprechende duale Willensrichtung des Vorsitzenden zu entnehmen sein. Vor diesem Hintergrund ist nach der obergerichtlichen Rechtsprechung im Fall der Entscheidung eines einzelnen Berufsrichters - anders mag dies bei einer Entscheidung eines Kollegialgerichts mit weiteren Berufsrichtern sein - eine gesonderte, zweite Unterschrift entbehrlich, wenn deutlich wird, dass der Vorsitzende mit seiner Unterschrift unter dem Protokoll sowohl das Urteil selbst einschließlich seiner vollständigen, das Beratungsergebnis zutreffend wiedergebenden Gründe als auch den Protokollinhalt als inhaltlich zutreffend zeichnet (vgl. OLG Hamm, Beschlüsse vom 8. Oktober 2012, a.a.O., und vom 10. Januar 2013 - III-5 RBs 181/12, juris; in diesem Sinne, aber letztlich offenlassend, OLG Celle, Beschluss vom 21. September 2011 - 32 Ss 110/11, juris; Peglau, a.a.O.). Die allein auf die Existenz zweier Normen abhebende Gegenansicht verstellt sich hierauf den Blick (vgl. HansOLG Hamburg, Beschlüsse vom 8. März 2011 - 2-51/10 (REV) und vom 16. Februar 2015 - 2 Rev 44/15; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 275 Rn. 1; Stuckenberg, a.a.O.; Greger, a.a.O.; Frister, a.a.O.).

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(2) Eine diesen Maßgaben verpflichtet Auslegung ergibt hier, dass das angefochtene Urteil vom 6. Februar 2015 unterschrieben ist. In das Hauptverhandlungsprotokoll wurden die Urteilsformel der Berufungsverwerfung einschließlich der Kostenentscheidung und sodann die vollständigen, sich über zwei DIN A4-Seiten erstreckenden Urteilsgründe aufgenommen. Unmittelbar unter dem letzten Satz der Urteilsgründe befindet sich der Fertigstellungsvermerk mit den Unterschriften der Richterin und der Urkundsbeamtin (zu einer anderen Konstellation vgl. HansOLG Hamburg, Beschluss vom 8. März 2011 - 2-51/10 (REV)). Angesichts dessen hat sich der Senat die sichere Überzeugung gebildet, dass die Vorsitzende nicht nur das Protokoll, das auf zwei Seiten identisch mit den Urteilsgründen ist, sondern auch die Urteilsgründe beurkunden wollte. Eine Verantwortungsübernahme der Vorsitzenden ausschließlich für das Protokoll, nicht aber für die Urteilsgründe, die integraler Bestandteil des Protokolls sind, ist in Ermangelung gegenteiliger Anhaltspunkte in der Urkunde fernliegend.

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b) Weder Sachbeschwerde noch Verfahrensrüge führen zum Erfolg. Die Verfahrensrüge ist unzulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Es fehlt an dem Vortrag, dass der verteidigungs- und vertretungsbereite Verteidiger sich auf eine ihm in schriftlicher Form erteilte besondere Vollmacht des abwesenden Angeklagten berufen und diese dem Gericht nachgewiesen hat (vgl. KG, Beschluss vom 16. September 2015 - (2) 121 Ss 141/15 (51/15), juris, m.w.N.). Die Überprüfung des angefochtenen Urteils auf die Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

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