Urteil vom Oberlandesgericht Köln - 19 U 22/20
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 23.01.2020 verkündete Urteil der 12 Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Aachen (Az.: 12 O 329/19) einschließlich des ihm ab dem 05.12.2019 zugrundeliegenden Verfahrens aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht des ersten Rechtszugs, dem auch die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens vorbehalten bleibt, zurückverwiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 29.930 € festgesetzt.
1
Gründe:
2I.
3Der Kläger kaufte unter dem 17.03.2017 in Geilenkirchen von der „A GmbH & Co. KG“ einen gebrauchten PKW Audi B Limousine Sport 2,0 TDI (km-Stand 20.576) zum Preis von 29.930 € (Bestellung Anlage K 1, Bl. 17 d. A.), in den ein Motor des Typs EA 288 verbaut ist. Mit Anwaltsschreiben vom 18.06.2019 (Anlage K 2, Bl. 21 f. d. A.) forderte der Kläger die Beklagte auf, an ihn 29.930 € zu zahlen, Zug um Zug gegen Übergabe des PKW. Er vertrat die Ansicht, er müsse sich keine Nutzungen anrechnen lassen.
4Nachdem der Kläger in der Klageschrift behauptet hatte, in dem PKW sei ein EA 189 verbaut (S. 3 der Klageschrift, Bl. 3 d. A.), hat er auf den Vortrag der Beklagten (S. 1 der Klageerwiderung vom 27.11.2019, Bl. 39 d. A.) hin mit nachgelassenem Schriftsatz vom 10.12.2019 (Bl. 71-74 d. A.) eingeräumt, dass ein Motor Typ EA 288 verbaut ist und behauptet, es sei auch dort ebenso wie bei dem EA 189 eine unzulässige Abschalteinrichtung in Gestalt einer Software verbaut, die erkenne, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand befinde und auf dieser Grundlage die Abgasrückführung anders regle als im normalen Straßenverkehr, um so die Stickoxidgrenzwerte einzuhalten, was indes im normalen Straßenverkehr nicht der Fall sei, da hier durchgängig höhere Emissionen produziert würden
5Die Beklagte hat demgegenüber behauptet, der EA 288 verfüge nicht über eine prüfstandoptimierte Umschaltlogik, dies zeigten auch die Felduntersuchungen des Kraftfahrtbundesamtes, wogegen es für die Behauptungen des Klägers keine Anhaltspunkte gebe (S. 1 f. des Schriftsatzes vom 17.01.2020, Bl. 76 f. d. A.). Der EA 288 verfüge lediglich über eine zulässige Fahrkurvenerkennung, die aber keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems habe (S. 3 des Schriftsatzes vom 17.01.2020, Bl. 78 d. A.).
6Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sachvortrages und wegen der erstinstanzlich gestellten Anträge wird auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
7Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Klägervortrag zu einer Abschalteinrichtung bei dem konkreten Fahrzeug sei unsubstantiiert, da er sich in weiten Teilen auf den EA 189 beziehe und im Übrigen in allgemeinen Erwägungen und Spekulationen erschöpfe. Der Kläger behaupte zwar, dass es Vermutungen zu einer Abschalteinrichtung beim EA 288 gebe, trage aber nicht vor, woraus sich eine solche Vermutung ergeben solle und benenne keine konkreten Indizien für die Richtigkeit seiner Behauptung. Weiter hat das Landgericht ausgeführt, gegen eine Verurteilung spreche auch der Kaufzeitpunkt, weil im Oktober 2016 wegen des Bekanntwerdens der Abgasproblematik die Kausalität fehle.
8Hiergegen wendet sich die Berufung des Klägers, mit der er erneut behauptet, im EA 288 sei genau so eine Abschaltvorrichtung verbaut wie im EA 189 (S. 1 f. der Berufungsbegründung, Bl. 98 f. d. A.). Sodann wiederholt der Kläger seinen Vortrag aus dem Schriftsatz vom 10.12.2019. Gemessen an den im Beschluss des Senats vom 06.09.2019 (19 U 51/19) entwickelten Grundsätzen zur Darlegungslast könne vorliegend kein Vortrag „ins Blaue hinein“ angenommen werden (S. 4 der Berufungsbegründung, Bl. 100 d. A.).
9Der Kläger beantragt,
10unter Abänderung des angefochtenen Urteils 12 O 329/19 vom 23.01.2020
111.
12die Beklagte zu verurteilen, Zug-um-Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs Audi B Limousine Sport 2,0 TDI, Fahrzeug-Ident-Nr. C, an den Kläger 29.930,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 04.07.2019 abzüglich einer im Termin zu beziffernden Nutzungsentschädigung zu zahlen;
132.
14festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Annahme des vorbezeichneten Fahrzeuges in Verzug befindet;
153.
16die Beklagte zu verurteilen, ihn von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten der Anwaltskanzlei D & Collegae in Höhe von 691,33 € freizustellen.
17hilfsweise:
18die Aufhebung und Zurückverweisung des angefochtenen Urteils.
19Die Beklagte beantragt,
20die Berufung zurückzuweisen.
21Die Beklagte ist der Ansicht, die Berufungsbegründung befasse sich unzureichend mit der Urteilsbegründung (S. 2, 5 der Berufungserwiderung, Bl. 125, 128 d. A.). Bezugnehmend auf Entscheidungen anderer Obergerichte ist sie der Ansicht, für den klägerischen Sachvortrag gebe es keine greifbaren Anhaltspunkte (S. 8 der Berufungserwiderung , Bl. 131 d. A.). Auch nimmt die Beklagte erneut auf die vom KBA 2016 durchgeführten Felduntersuchungen Bezug (S. 15 der Berufungserwiderung, Bl. 138 d. A.; Bezugnahme auf den Untersuchungsbericht Anlage K 1/B3, Anlagenheft und auf ein Schreiben des KBA vom 16.03.2020 an das LG Bielefeld, Anlage B 4, Anlagenheft; Schreiben des KBA vom 21.09.2010 an das Landgericht Wuppertal, Anlage zum Beklagtenschriftsatz vom 30.10.2020, Bl. 341 f. d. A.). Das Abgasnachbehandlungssystem arbeite beim EA 288 auf dem Prüfstand wie auf der Straße mit identischer Wirksamkeit (S. 17 der Berufungserwiderung, Bl. 140). Es gebe auch zulässige Abschalteinrichtungen, die etwa den Motor vor Beschädigungen schützten oder beim Motorstart technisch erforderlich seien (S. 17 f. der Berufungserwiderung, Bl. 140 f. d. A.).
22II.
23Auf die zulässige und begründete Berufung des Klägers hin ist das angegriffene Urteil des Landgerichts Köln vom 09.08.2019 (Az.: 17 O 336/18) gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO einschließlich des ihm ab dem 19.07.2019 zugrundeliegenden Verfahrens aufzuheben und die Sache an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen.
241.
25Die Berufung ist zulässig. Sie wurde insbesondere – entgegen der Auffassung der Beklagten – formgerecht nach § 520 ZPO begründet.
26Die Berufungsbegründung des Klägers vom 07.02.2020 lässt hinreichend deutlich erkennen, dass der Kläger die Rechtsauffassungen des Landgerichts zur Schlüssigkeit seines Vorbringens und zum Maß der an die Substantiierung zu stellenden Anforderungen, auf denen die angegriffene Entscheidung beruht, angreift. Damit hat er Umstände bezeichnet, aus denen sich eine Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergeben sollen (§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO). Sollte die Rechtsauffassung des Klägers zur Schlüssigkeit Vorbringens zutreffend sein, bestünden zudem Zweifel an der Richtigkeit bzw. Vollständigkeit der landgerichtlichen Tatsachenfeststellungen (§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO), weil dann eine Beweisaufnahme geboten gewesen wäre. Dass der Kläger in seiner Berufungsbegründung ausschließlich Tatsachen und Argumente wiederholt, die er schon erstinstanzlich vorgebracht hat, ist unschädlich. Der Berufungsführer ist nicht gezwungen, in seiner Berufungsbegründung einen neuen Tatsachenvortrag zu halten oder neue rechtliche Erwägungen darzulegen. Eine rein pauschale Bezugnahme auf das erstinstanzliche Vorbringen – die unzureichend wäre (BGH NJW-RR 2018, 386; BGH NJW-RR 2015, 511) – liegt hier nicht vor. Der Kläger macht vielmehr deutlich, warum er meint, dass die von ihm vorgelegten – und in der Berufungsbegründung wiederholten – Indizien für die schlüssige Darlegung einer pflichtwidrigen bzw. deliktischen Handlung der Beklagten ausreichend seien. Daher liegt der Fall hier anders als in der von der Beklagten in Bezug genommenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 21.07.2020, Az. VI ZB 68/19). Die Ausführungen des BGH beziehen sich auf eine Berufungsbegründung, die sich – obwohl wesentlich umfangreicher als im vorliegenden Fall – in Textbausteinen ohne Einzelfallbezug bzw. Bezug zu einem anderen Sachverhalt erschöpften.
27Die hier vorliegende Berufungsbegründung ist knapp gehalten und wurde nicht offensichtlich für eine Vielzahl von gleichgelagerten Rechtsmittelverfahren gefertigt. Weil der Kläger sein Vorbringen zur Abgasmanipulation – anders als das Landgericht – für hinreichend substantiiert erachtet, bleibt ihm in der Sache letztlich auch nichts anderes übrig, als seine Argumente zu wiederholen.
282.
29Die Berufung ist auch begründet und gibt Anlass zu einer Aufhebung und Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO.
30Das angegriffene Urteil leidet an einem wesentlichen Mangel in Gestalt einer Gehörsverletzung i.S.v. Art. 103 Abs. 1 GG, weil die Einholung eines klägerseits angebotenen Sachverständigengutachtens zur Frage einer prüfstandoptimierten Umschaltlogik bei dem Motor des streitgegenständlichen Fahrzeugs unterblieben ist.
31a)
32Ob dem Kläger gegenüber der Beklagten aus den §§ 826, 31 BGB ein Schadenersatzanspruch zusteht, hängt ab von dem Ergebnis einer Beweisaufnahme – in Gestalt der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Installation einer prüfstandoptimierten Umschaltlogik (wie bei Motoren des Typs EA 189 eingesetzt) in dem streitgegenständlichen Fahrzeug.
33aa)
34Die Wertung, dass das Inverkehrbringen eines Fahrzeuges bzw. Motors mit manipulierter Motorsteuerungssoftware grundsätzlich geeignet ist, den Käufer konkludent zu täuschen, entspricht gefestigter Rechtsprechung des Senates (Senatsurteile vom 04.10.2019 – 19 U 98/19, vom 06.09.2019 – 19 U 51/19, vom 05.07.2019 – 19 U 50/19 und vom 20.03.2020 – 19 U 155/19 sowie Senatsbeschluss vom 27.09.2019 – 19 U 150/19, jeweils m.w.N., abrufbar jeweils unter www.NRWE.de), die zwischenzeitlich höchstrichterliche Bestätigung gefunden hat (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, juris, Rn. 25). Die Voraussetzungen für eine Haftung der Beklagten sind auch vorliegend schlüssig vorgetragen.
35bb)
36Entgegen der Ansicht des Landgerichts würde vorliegend nicht bereits aufgrund des Kaufzeitpunkts von fehlender Kausalität ausgegangen werden können. Von der etwaigen Betroffenheit seines Fahrzeuges konnte der Kläger 2017 nichts ahnen, auch eine Eingabe auf der zur Überprüfung der Betroffenheit eingerichteten Website der Beklagten hätte zu einem negativen Ergebnis geführt, da aufgrund des „Berichtes der Untersuchungskommission Volkswagen“ (Anlage K 1/B3, Anlagenheft) allgemein davon ausgegangen wurde, der EA 288 sei nicht betroffen, bzw. nur amerikanische Modelle seien betroffen gewesen – erst ab September 2019 wurde die mediale Diskussion um eine Abschalteinrichtung beim EA 288 aufgrund Recherchen des SWR entfacht (vgl. https://www.tagesschau.de/investigativ/swr/vw-motoren-kba-101.html
37https://www.swr.de/swraktuell/vw-abschalteinrichtung-dokumente-100.html; vgl. auch den Wikipedia-Eintrag zu „EA 288“ https://de.wikipedia.org/wiki/VW_EA288).
38Auch kann bezogen auf den streitgegenständlichen Motor EA 288 nicht bereits mit Rücksicht auf die Ad-Hoc-Mitteilung sowie Pressemitteilung der Beklagten vom 22.09.2015 davon ausgegangen werden, dass der Beklagten der Vorwurf sittenwidrigen Verhaltens im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht mehr gemacht werden könnte (vgl. zu diesem Gesichtspunkt: BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20, Rn. 30, juris).
39cc)
40Soweit ein Anspruch in der Hauptsache zu bejahen sein wird, wird auch Annahmeverzug zu bejahen sein, dies allerdings nicht bereits aufgrund des Anspruchsschreibens vom 18.06.2019 (Anlage K 2, Bl. 21 f. d. A.), sondern erst ab 05.12.2019.
41Zum einen bedurfte es gemäß § 293 BGB eines tatsächlichen Angebotes, welches durch das Schreiben nicht erfolgen konnte. Ein tatsächliches Angebot ist gemäß § 295 BGB nur entbehrlich, wenn der Gläubiger erklärt hat, hat, die Leistung nicht annehmen zu wollen. Hierzu ist nichts vorgetragen. Zum anderen hat der Kläger im Schreiben vom 18.06.2019 die Anrechnung von Nutzungsersatz abgelehnt und so die Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs nicht zu den Bedingungen angeboten, von denen er sie im Hinblick auf den im Wege der Vorteilsausgleichung geschuldeten und vom Kaufpreis in Abzug zu bringenden Nutzungsersatz hätte abhängig machen dürfen (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, Rn. 85, juris).
42Damit liegt eine Leistungsablehnung erst in der auf den Zug-um-Zug-Antrag erfolgenden Ankündigung vollständiger Klageabweisung mit Klageerwiderungsschrift vom 27.11.2019 (Bl. 39 ff. d. A.), die dem Kläger am 05.12.2019 zugestellt wurde (vgl. Protokoll vom 05.12.2019, Bl. 68 d. A.). Erst ab diesem Zeitpunkt genügte das wörtliche Angebot in Gestalt der Antragstellung durch den Klägervertreter, welches beklagtenseits durch Beantragung vollständiger Klageabweisung zurückgewiesen worden ist.
43dd)
44Bei Bestehen eines Hauptanspruchs bestünde ein Zinsanspruch nur aus §§ 288, 291 BGB für die Zeit ab Rechtshängigkeit (25.09.2019).
45Dagegen besteht kein Anspruch auf Verzugszins, weil der Kläger außergerichtlich über die Zuvielforderung hinaus auch die Übereignung und Übergabe des Fahrzeuges von einer zu hohen Zahlung abhängig gemacht hat, was neben dem Annahmeverzug auch den Eintritt von Schuldnerverzug auf Seiten der Beklagten hinsichtlich der Kaufpreiserstattung (§ 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB) verhindert hat, zumal der Schuldner nur in Verzug geraten kann, wenn der Gläubiger die ihm obliegende Gegenleistung ordnungsgemäß anbietet (vgl. BGH, Urteil vom 20.07.2005 - VIII ZR 275/04, juris Rn. 30; Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, juris, Rn. 86).
46ee)
47Bei Bestehen eines Hauptanspruchs wären die vorgerichtlichen Anwaltskosten vorliegend dem Grunde nach als nach § 826 BGB ersatzfähiger Schaden zu bewerten, da die Beklagte mit Anwaltsschreiben vom 18.06.2019 (Anlage K 2, Bl. 21 f. d. A.) nicht lediglich zur Abgabe von Erklärungen, sondern zur Zahlung von 29.930 € aufgefordert worden ist. Allerdings wäre hier bereits Nutzungsersatz in Abzug zu bringen gewesen, weswegen die Gebühr nach einem reduzierten Streitwert von bis 25.000 € zu errechnen sein dürfte. Der Höhe nach bestehen gegen den Ansatz einer 0,65-fachen Gebühr keine Bedenken.
48b)
49Es kommt damit für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits entscheidend darauf an, ob der in das streitgegenständliche Fahrzeug verbaute Motor des Typs EA 288 über eine manipulative Abgassteuerung verfügt. Der dahingehende Vortrag des Klägers ist schlüssig und aufgrund des Bestreitens der Beklagten beweisbedürftig.
50aa)
51Ein Sachvortrag zur Begründung eines Klageanspruches ist schlüssig und damit als Prozessstoff erheblich, wenn der Kläger Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das mit der Klage geltend gemachte Recht als in der Person des Klägers entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nur dann erforderlich, wenn diese für die Rechtsfolgen von Bedeutung sind. Das Gericht muss in der Lage sein, auf Grund des tatsächlichen Vorbringens zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Anspruchs vorliegen. Eine Beweisaufnahme zu einem bestrittenen erheblichen Vorbringen darf nicht abgelehnt werden, wenn die Behauptung konkret genug ist, um eine Stellungnahme des Gegners zu ermöglichen und die Erheblichkeit des Vorbringens zu beurteilen. Für den Umfang der Darlegungslast ist der Grad der Wahrscheinlichkeit der Sachverhaltsschilderung ohne Bedeutung (vgl. BGH, Beschluss vom 26.03.2019 – VI ZR 163/17; BGH, Urteil vom 20.09.2002 – V ZR 170/01, juris).
52Der Kläger ist deshalb grundsätzlich nicht daran gehindert, Tatsachen zu behaupten, über die er keine genauen Kenntnisse hat, die er aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält. Auch die Einführung vermuteter Tatsachen muss jedenfalls dann zulässig sein, wenn die vortragende Partei mangels Sachkunde und Einblick in bestimmte Prozesse – wie etwa Produktionsabläufe bei der gegnerischen Partei – keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben kann (vgl. BGH, Urteil vom 07.02.2019 – III ZR 498/16, juris). Demgegenüber liegt ein wegen Rechtsmissbrauchs unzulässiger Vortrag vor, wenn eine Behauptung ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhaltes willkürlich „aufs Geratewohl“ bzw. „ins Blaue hinein“ aufgestellt wird. Bei der Annahme eines solchen missbräuchlichen Verhaltens ist jedoch Zurückhaltung geboten. Der Vorwurf einer Behauptung „aufs Geratewohl“ bzw. „ins Blaue hinein“ ist daher in der Regel nur bei Fehlen jeglicher tatsächlichen Anhaltspunkte gerechtfertigt (vgl. BGH, Urteil vom 07.02.2019 – III ZR 498/16, juris). Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebotes, die im Prozessrecht keine Stütze hat, verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.07.1996 – 1 BvR 634/94, juris).
53In den Fällen behaupteter Abgasmanipulationssoftware steht der Erheblichkeit eines Klägervorbringens unter Berücksichtigung des Vorstehenden nicht entgegen, dass der Kläger die genaue Funktionsweise der Motorsteuerungssoftware – mangels eigener Sachkunde und mangels Einblicks in die Produktionsabläufe des Herstellers – nicht detailliert beschreiben kann. Prozessual ist es zulässig, als Partei eigenen Vortrag hierzu auf Vermutungen zu stützen (vgl. Urteil des Senats vom 06.09.2019 - 19 U 51/19, juris). Allerdings bedarf es konkreter Anhaltspunkte für den Einbau einer Manipulationssoftware in den streitgegenständlichen Motorentyp.
54bb)
55Zwar kann ein konkreter Anhaltspunkt für den Einbau einer Manipulationssoftware in einem bestimmten Motorentyp nicht allein durch die Behauptung begründet werden, ein anderer Motorentyp sei manipuliert worden. Eine andere Sicht der Dinge würde letztlich dazu führen, dass ein behauptetes Fehlverhalten bezüglich eines Motorentyps zu einem Generalverdacht für alle übrigen denkbaren Fälle führen würde, ohne dass konkrete Anhaltspunkte dargelegt werden müssten. Dies wäre mit den dargestellten Maßstäben der Rechtsprechung nicht vereinbar. Vielmehr bedarf es konkreter Anhaltspunkte bezüglich des jeweiligen streitgegenständlichen Motorentyps (so auch: OLG Köln, Urteil vom 12.12.2019 – 28 U 50/19, Urteil vom 04.09.2019 – 26 U 64/18, Urteil vom 11.04.2019 – 3 U 67/18, Beschluss vom 19.02.2019 – 4 U 175/18, und Urteil vom 09.01.2019 – 28 U 36/18).
56In der zitierten Entscheidung vom 06.09.2019 (Az.: 19 U 51/19, abrufbar unter juris) hat der Senat das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte mit klägerseits vorgelegten Prüfergebnissen der Berner Fachhochschule zum dort streitgegenständlichen Motorentyp begründet, ferner mit klägerseits vorgelegten Medienberichten, wonach der in Rede stehende Motorentyp Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Stuttgart war.
57Konkrete Anhaltspunkte für die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sind jedenfalls nicht erst dann gegeben, wenn das Kraftfahrt-Bundesamt bezüglich des konkreten Fahrzeugtyps eine Rückrufaktion angeordnet hat (BGH, Beschluss vom 28.01.2020, Az.: VIII ZR 57/19, abrufbar unter juris).
58cc)
59Vorliegend ergeben sich konkrete Anhaltspunkte vor allem aus der allgemein zugänglichen und damit offenkundigen (§ 291 ZPO) medialen Berichterstattung.
60So ist zwar durchaus zu realisieren, 2016 in dem „Bericht der Untersuchungskommission“ (dort Seite 20-25 , Anlage K 1/B3, Anlagenheft) die mit einem EA 288 ausgestatteten Fahrzeuge Audi E 2,0 l Euro 6, Audi F 2,0 l Euro 6 und Audi G V 6 3,0 l Euro 6 als ordnungsgemäß bewertet wurden. Dies wird durch die beklagtenseits vorgelegte Twitter-Mittteilung des BMVI vom 12.09.2019, in dem bezugnehmend auf die Untersuchungen des KBA aus 2016 mitgeteilt wird, es hätten keine unzulässigen Abschalteinrichtungen festgestellt werden können (Anlage zum Beklagtenschriftsatz vom 17.01.2020, Bl. 81 d. A.) und das Schreiben des Schreiben des KBA vom 16.03.2020 an das Landgericht Bielefeld (Anlage B 4, Anlagenheft) sowie vom 21.09.2010 an das Landgericht Wuppertal (Anlage zum Beklagtenschriftsatz vom 30.10.2020, Bl. 341 f. d. A.) bestätigt .
61Andererseits befassen sich aber weder die 2016 durchgeführten Untersuchungen, noch die genannten Kurzmitteilungen/Schreiben des BMVI und des KBA mit den im September 2019 durch Recherchen des SWR aufgedeckten Ungereimtheiten (vgl. https://www.tagesschau.de/investigativ/swr/vw-motoren-kba-101.html; https://www.swr.de/swraktuell/vw-abschalteinrichtung-dokumente-100.html).
62Hiernach soll das KBA zu einem Zeitpunkt nach Abschluss der Ermittlungen der Untersuchungskommission - nämlich Ende 2017 - die Beklagte aufgefordert haben, den mit einem EA 288 ausgestatteten VW H 3.0 zurückzurufen, wobei in einem Schreiben eine Abschalteinrichtung kritisiert worden sein soll. Diese Berichterstattung deutet darauf hin, dass das KBA selbst die Erkenntnisse aus 2016 revidiert hat oder dies zumindest erwogen hat. Die allgemein gehaltenen Angaben in den beklagtenseits vorgelegten Mitteilungen des BMVI und des KBA klären das aufgezeigte Verdachtsmoment nicht auf. Weitere Anhaltspunkte ergeben sich aus der Berichterstattung des Handelsblattes, wonach die Staatsanwaltschaft Braunschweig Ende 2019 Räumlichkeiten der Beklagten durchsucht haben soll, dies wegen möglicher Manipulationen am Motor EA 288, was auf interne Kontrollen der Beklagten und eine Information der Beklagten an „die Behörden“ zurückgehe, welche Motorsteuerungssoftware betreffe
63(https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/verdacht-der-manipulation-volkswagens-naechste-grossbaustelle-auch-der-aktuelle-dieselmotor-sorgt-fuer-probleme/25298764.html?ticket=ST-5090223-XYsUr14KOtKcuKlIDdf1-ap1, so auch https://de.wikipedia.org/wiki/VW_EA288).
64Unter tagesschau.de wird berichtet, Vertreter der Beklagten hätten laut einem bis dahin unveröffentlichten Urteil des Landgerichts Duisburg (gemeint sein dürfte: LG Duisburg, Urteil vom 30.10.2018 – 1 O 231/18, Rn. 17, juris) bereits Ende 2018 im Rahmen einer Verhandlung zugegeben, dass bei einem mit dem Motor EA 288 ausgestatteten Fahrzeug eine Abschalteinrichtung verbaut worden sei, welche erkenne, ob sich das Fahrzeug gerade auf dem Prüfstand befinde, was aber im September 2019 gegenüber dem SWR bestritten worden sei (https://www.tagesschau.de/investigativ/swr/vw-abgasskandal-161.html, so auch https://de.wikipedia.org/wiki/VW_EA288).
65Hinzukommt, dass das Landgericht Regensburg aufgrund als unstreitig bewerteten Sachvortrages beim EA 288 verschiedene Betriebsmodi zur Erzielung „prüfstandoptimierter Abgaswerte“ angenommen (LG Regensburg, Urteil vom 19.03.2020 – 73 O 1181/19, Rn. 4, juris) und das LG Wuppertal (Beschluss vom 15.03.2019, 2 O 273/18, juris) zur Frage einer Prüfstandoptimierung beim EA 288 Beweiserhebung angeordnet hat.
66Die Beklagte selbst erklärt demgegenüber auf ihrer Website, EA288 Klagen seien erfolglos, nach der „obergerichtlichen Rechtsprechung“ fehlten jegliche Anhaltspunkte für eine unzulässige Abschalteinrichtung beim Motor des Typs EA288, ohne auf die vorbezeichneten, in der medialen Berichterstattung aufgezeigten Verdachtsmomente einzugehen (https://www.volkswagenag.com/de/group/Diesel/ea288.html).
67Bei dieser Sachlage kann nicht von einem Vortrag „ins Blaue hinein“ die Rede sein. Dem steht nicht entgegen, dass es am Vortrag technischer Anhaltspunkte fehlt, wie sie sich etwa aus einem Privatgutachten ergeben könnten. Würde man zur Substantiierung von einem Fahrzeugeigentümer, der regelmäßig kein KFZ-Sachverständiger ist und über keine weitergehenden Motoreninformationen verfügt, konkrete Darlegungen von Stickoxidemissionswerten zu dem Motorentyp, der Abgasnorm, dem Hubraum, der Motorleistung und dem Produktionszeitraum des jeweils betroffenen Fahrzeuges erwarten, würde dies die dargestellten Anforderungen berücksichtigungsfähigen Vortrag überspannen. Es obliegt den Parteien des Zivilprozesses nicht, zunächst sachverständige Hilfe einzuholen, um etwas prozessual zulässig behaupten oder bestreiten zu können. Vielmehr geht die ZPO im Grundsatz davon aus, dass der gerichtlich bestellte Sachverständige eine Erstbegutachtung vornimmt. Auch die Tatsache, dass sich aus der allgemein zugänglichen medialen Berichterstattung unaufgeklärte Verdachtsmomente ergeben, kann Anhaltspunkt für das Vorbringen von Sachvortrag sein, dessen Richtigkeit lediglich vermutet wird.
68Der Kläger hat damit eine mit der Funktionsweise der von der Beklagten in Motoren des Typs EA 189 eingesetzten Manipulationssoftware vergleichbare Motorsteuerung in prozessual zu berücksichtigender Weise dargelegt.
69c)
70Die übrigen Voraussetzungen für eine Zurückverweisung gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO liegen ebenfalls vor.
71Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat im Senatstermin vom 25.09.2020 – jedenfalls hilfsweise – die Zurückverweisung beantragt.
72Der Senat hält in Ausübung seines Ermessens eine Zurückverweisung der Sache anstelle einer Selbstentscheidung für vorzugswürdig. Als maßgeblicher Gesichtspunkt dieser Ermessensentscheidung ist die Prozessökonomie zu erwägen und als Alternative zur Zurückverweisung in Betracht zu ziehen, selbst gemäß § 538 Abs. 1 ZPO in der Sache zu entscheiden (BGH, Urteil vom 30.03.2001 – V ZR 461/9, abrufbar unter juris). Im Hinblick auf die erforderliche weitere Sachaufklärung spricht aus Sicht des Senates nichts dafür, dass diese mit Blick auf die Prozessökonomie günstiger seitens des Senates vorgenommen werden könnte als durch das Landgericht. Insoweit ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund die noch nicht begonnene und daher von Grund auf durchzuführende Beweisaufnahme vor dem Landgericht mehr Zeit in Anspruch nehmen oder umständlicher sein sollte. Nicht ohne Belang ist insoweit auch, dass den Parteien im Falle der Selbstentscheidung durch den Senat eine Tatsacheninstanz genommen würde.
73d)
74Weil die erstinstanzlich getroffenen Feststellungen unvollständig sind, bedarf es auch einer Aufhebung des zugrundeliegenden Verfahrens ab dem 05.12.2019.
75III.
76Die Kostenentscheidung bleibt dem erstinstanzlichen Schlussurteil vorbehalten.
77Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit erfolgt im Hinblick auf die §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO (vgl. OLG München NZM 2002, 1032).
78Für die Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO besteht keine Veranlassung. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Rechtsfragen grundsätzlicher Natur, die über den konkreten Einzelfall hinaus von Interesse sein könnten, haben sich nicht gestellt und waren nicht zu entscheiden.
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Referenzen
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- VI ZR 252/19 3x (nicht zugeordnet)
- VI ZR 5/20 1x (nicht zugeordnet)
- VIII ZR 275/04 1x (nicht zugeordnet)
- VI ZR 163/17 1x (nicht zugeordnet)
- V ZR 170/01 1x (nicht zugeordnet)
- III ZR 498/16 2x (nicht zugeordnet)
- 1 BvR 634/94 1x (nicht zugeordnet)
- 28 U 50/19 1x (nicht zugeordnet)
- 26 U 64/18 1x (nicht zugeordnet)
- 3 U 67/18 1x (nicht zugeordnet)
- 4 U 175/18 1x (nicht zugeordnet)
- 28 U 36/18 1x (nicht zugeordnet)
- VIII ZR 57/19 1x (nicht zugeordnet)
- 1 O 231/18 1x (nicht zugeordnet)
- 73 O 1181/19 1x (nicht zugeordnet)
- 2 O 273/18 1x (nicht zugeordnet)