Urteil vom Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht (7. Zivilsenat) - 7 U 116/21

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 24.06.2021 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 6. Zivilkammer des Landgerichts Itzehoe teilweise geändert und insgesamt wie folgt neu gefaßt:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

1

Der Kläger nimmt die Beklagte auf schadenersatzrechtliche Rückabwicklung eines Gebrauchtwagenkaufes im Zusammenhang mit dem sogenannten Dieselskandal in Anspruch.

2

Der Kläger erwarb am 16.01.2017 bei dem VW-Vertragshändler X in Y einen gebrauchten (Laufleistung 26.206 km) VW Golf 7 1,6 TDI (Variant). Das Fahrzeug war erstzugelassen am 14.08.2013. Die EG-Typgenehmigung datiert vom 18.05.2013. Der Kaufpreis betrug 17.670,00 €, er war finanziert, die Finanzierung ist mittlerweile abgelöst.

3

Der Wagen ist mit einem von der Beklagten entwickelten und hergestellten Motor vom Typ EA 288 mit einem NOx-Speicherkatalysator (NSK-Katalysator) ausgestattet; der Motor ist typgenehmigt mit der Schadstoffklasse Euro 6 und leistet 81 Kw (110 PS).

4

Neben dem NSK-Katalysator erfolgt die Abgasreinigung im Wege der Abgasrückführung (AGR), die in vollem Umfang aber nur innerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs stattfindet (sog. Thermofenster).

5

In der Motorsteuerung des klägerischen Fahrzeugs ist eine sog. Fahrkurve hinterlegt, die erkennt, wenn sich das Fahrzeug auf dem Rollenprüfstand befindet. Die Programmierung der Fahrkurve in der Motorsteuerung des klägerischen Fahrzeugs ist dem Kraftfahrtbundesamt (KBA) seit Ende 2015 bekannt und sollte gem. der VW-Applikationsrichtlinie vom 18.11.2015 durch ein Software-Update eigentlich wieder entfernt werden. Nach Kenntnis des Klägers wurde ein entsprechendes Software-Update bislang nicht aufgespielt.

6

Der NSK funktioniert so, dass emittierte Stickoxide in der Beschichtung des Katalysators eingelagert werden, der Katalysator „regeneriert“, d. h. er wird geleert, im Straßenverkehr regelmäßig entweder circa alle 5 km oder wenn er voll „beladen“ ist, je nachdem, welches Ereignis zuerst eintritt. Die programmierte Fahrkurve (Zykluserkennung) sorgt dafür, dass im Rahmen der Vorkonditionierung (Precon) für die Messung auf dem Teststand im NEFZ-Verfahren eine Regeneration des NSK erfolgt, so dass dieser zu Beginn der eigentlichen Messung leer oder doch fast leer ist. Damit ist sichergestellt, dass während des circa 11 km langen Prüfprogramms (nur) zwei streckengesteuerte Entleerungen des NSK erfolgen.

7

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe ihn sittenwidrig geschädigt. Sowohl mit dem Thermofenster als auch der Fahrkurvenerkennung seien unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut worden. Weiterhin habe die Beklagte das Onboard-Diagnosesystem (OBD) manipuliert, auch dies stelle eine unzulässige Abschalteinrichtung dar.

8

Mit Anwaltsschreiben vom 08.07.2020 hat er die Beklagte fruchtlos zur Rückzahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs auffordern lassen.

9

Der Kläger hat beantragt,

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1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 12.154,51 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 5.8.2020 zu zahlen, Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs der Marke VW Golf VII 1.6 TDI Variant mit der Fahrzeugidentifikationsnummer … nebst zwei Fahrzeugschlüsseln, Kfz-Schein und Kfz-Brief;

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hilfsweise hierzu:

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2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Schadensersatz zu zahlen für Schäden, die aus dem Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung i. S. v. Art. 5 Abs. 2 EG-VO 715/2007 durch die Beklagte in das Fahrzeug der Marke VW Golf 71.6 CDI Variant mit der Fahrzeugidentifikationsnummer … resultieren;

13

sowie weiter

14

3. festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Annahme der in vorgenannten Klaganträgen genannten Zug-um-Zug-Leistung im Annahmeverzug befindet;

15

4. festzustellen, dass der im Antrag zu 1 bezeichnete Anspruch aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung der Beklagten herrührt;

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5. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten des Klägers entstandenen Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von 1.680,28 € freizustellen.

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Die Beklagte hat beantragt,

18

die Klage abzuweisen.

19

Sie ist der Behauptung des Klägers, in seinem Fahrzeug seien unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut, entgegengetreten. Die AGR sei in einem Temperaturbereich von - 24 °C bis + 70 °C voll aktiv. Die Fahrkurvenerkennung stelle keine unzulässige Abschalteinrichtung dar, eine Manipulation des OBD hat sie bestritten.

20

Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf das angefochtene Urteil nebst darin enthaltener Verweisungen Bezug genommen.

21

Das Landgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben.

22

Zur Begründung hat es ausgeführt, die Zykluserkennung im Zusammenspiel mit dem Precon des NSK stelle eine unzulässige Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 dar. Die in der Motorsteuerung des klägerischen Fahrzeuges programmierte Fahrkurve entspreche letztlich der Umschaltlogik des Motors EA 189, des Auslösers des „Dieselskandals“.

23

Dagegen wendet sich die Beklagte unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens.

24

Sie beantragt,

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das angefochtene Urteil im Umfang ihrer Beschwer abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

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Der Kläger trägt unter Verteidigung des angefochtenen Urteils auf Zurückweisung der Berufung an.

27

Zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung am 25.01.2022 hatte das Fahrzeug des Klägers 124.792 km gelaufen.

28

Wegen der Einzelheiten des zweitinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze nebst umfangreicher Anlagen verwiesen.

II.

29

Die Berufung der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil ist rechtsfehlerhaft, die zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO).

30

Ansprüche aus der allein in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage nach § 826 BGB (i.V.m. § 31 BGB) stehen dem Kläger nicht zu.

31

Entgegen der vom Landgericht vertretenen Ansicht handelt es sich bei der Fahrkurvenerkennung nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007; auch das Thermofenster in seiner konkreten Ausgestaltung und schon gar nicht die behauptete „Manipulation“ des OBD stellen unzulässige Abschalteinrichtungen dar.

32

Auch im Übrigen fehlt es an den Voraussetzungen für einen Anspruch aus § 826 BGB.

33

Der Senat hat bereits mit Verfügung vom 20.09.2021 (Bl. 456/457 d.A.) darauf hingewiesen, dass die Berufung der Beklagten Erfolg haben dürfte. Ergänzend dazu ist noch Folgendes auszuführen:

34

1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Haftung nach §§ 826, 31 BGB liegen nicht vor. Für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB ist nämlich in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln. Sittenwidrig ist demnach ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch die umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde vertragliche Pflichten oder das Gesetz verletzt oder bei einem anderen einen Vermögensschaden hervorruft (BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19). Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zu Tage tretenden Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (vgl. BGH, Urteil vom 19.11.2013, Az. VI ZR 336/12). Dabei kann sich die Verwerflichkeit auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 28.06.2016, Az. VI ZR 536/15). Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (grundlegend dazu BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19 m.w.N.). Nach diesen Maßstäben ergeben sich aus dem Vortrag des Klägers sowie den getroffenen Feststellungen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass das Verhalten der Beklagten in diesem Sinne als sittenwidrig zu qualifizieren bzw. entsprechender Vorsatz nachzuweisen ist. Dieses trifft zwar für das Herstellen und Inverkehrbringen von Fahrzeugen mit manipulierter Motorensteuerung zu, wie z.B den VW Dieselmotor EA 189, der nur bei erkanntem Prüfzyklus in einen besonderen Betriebsmodus schaltete, in dem die Abgasgrenzwerte ausnahmsweise eingehalten wurden und damit die Täuschungsabsicht und die Verwerflichkeit auf der Hand lagen (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19). Hier geht es aber nicht um den Motortyp EA 189, sondern um das Nachfolgeaggregat EA 288 Euro 6 mit unstreitig anderer Steuerungssoftware und Abgasreinigungstechnik.

35

Eine Haftung nach § 826 BGB kommt außerdem dann nicht mehr in Betracht, wenn die erste potenzielle schadenursächliche Handlung und der Eintritt des Schadens zeitlich auseinanderfallen und der Schädiger sein Verhalten zwischenzeitlich nach außen erkennbar geändert hat (BGH, Urteil vom 23.03.2021, VI ZR 1180/20, amtl. Leitsatz). Die Beklagte hatte bereits vor Erwerb des streitgegenständlichen Fahrzeuges durch den Kläger ihr Verhalten nach außen hin im oben dargestellten Sinne verändert, sodass es in der Gesamtschau nicht mehr als sittenwidrig i.S.v. § 826 BGB qualifiziert werden kann. Das KBA hat die Informationen der Beklagten im Oktober/November 2015 nämlich zum Anlass genommen, Fahrzeuge mit EA 288 Aggregaten umfangreichen Untersuchungen zu unterziehen. Insgesamt gab es drei verschiedene Untersuchungen, nämlich den VW-Untersuchungsbericht 2015/2016, den Bericht des Nationalen Forums Diesel aus 2017/2018 mit der anschließenden Softwarefreigabe sowie spezifische Feldüberwachungen als Marktüberwachungsbehörde in 2019/2020. Im Ergebnis wurden keine unzulässigen Abschalteinrichtungen festgestellt und es kam - bis auf den VW T6 - unstreitig zu keinen Rückrufanordnungen.

36

2. ThermofensterInsoweit bemängelt der Kläger, dass die Steuerung des in seinem Fahrzeug verbauten Motors temperaturgesteuert die zur Verringerung des NOx-Ausstoßes eingesetzte Abgasrückführung in die Verbrennung des Motors außerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs (sogenanntes Thermofenster) herunterschaltet bzw. ganz abschaltet. Die Beklagte hat insoweit jedoch substantiiert vorgetragen, dass sich lediglich aus Motorschutzgründen bei dem Fenster unter - 24° bzw. über + 70° C die Abgasreinigung nicht mehr voll durchführen lasse.

37

Ob es sich bei einem Thermofenster um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 S. 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/07 handelt, kann im Ergebnis offen bleiben. Selbst wenn man zu Gunsten des Klägers unterstellt, das eine derartige temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung als unzulässige Abschalteinrichtung zu qualifizieren ist, reicht der darin liegende - unterstellte - Gesetzesverstoß nicht aus, um das Gesamtverhalten der Beklagten als sittenwidrig zu qualifizieren und einen entsprechenden Vorsatz der Beklagten nachzuweisen.

38

Ein derart vorsätzliches, sittenwidriges Verhalten kann vielmehr nur dann angenommen werden, wenn über die bloße Kenntnis von dem Einbau einer Einrichtung mit der in Rede stehenden Funktionsweise in den streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass dies von Seiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen und dieser Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wurde, um eine tatsächlich nicht gerechtfertigte Typengenehmigung zu erlangen (vgl. BGH, Beschluss v. 19.01.2021, Az. VI ZR 433/19). Insoweit kann der Kläger sich nicht mit Erfolg auf die hinsichtlich des von der Beklagten entwickelten Motors Typ EA 189 ergangene Rechtsprechung (grundlegend BGH, Urteil v. 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19) verweisen. Die Implementierung einer zum Zwecke der Erkennung der Prüfstandssituation entwickelten Software, die ausschließlich in diesen Fällen das Emissionsverhalten des Fahrzeugs verändert, stellt sich als qualitativ vollständig anders dar als ein temperaturabhängiges Abgasrückführungssystem, welches vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeitet wie auf dem Prüfstand, und bei dem Gesichtspunkte des Motor- bzw. des Bauteilschutzes als technische Rechtfertigung plausibel und nachvollziehbar angeführt werden können. In derartigen Fällen kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die verantwortlichen Organe der Beklagten von einer - möglicherweise - letztlich unzutreffenden, aber dennoch vertretbaren und im Übrigen auch von den im Überprüfungsverfahren involvierten staatlichen Stellen geteilten Gesetzesauslegung und -anwendung ausgegangen sind (OLG Bamberg, Urteil vom 15. April 2021 - 1 U 328/19; OLG Bamberg, Beschluss v. 14.08.2020, Az. 1 U 286/20; OLG Köln, Beschluss v. 04.07.2019, Az. 3 U 148/18; OLG München, Beschluss v. 10.02.2020, Az. 3 U 7524/19). Der Senat schließt sich insoweit der entsprechenden obergerichtlichen Rechtsprechung an (OLG Schleswig, Urteil vom 13.07.2021, 7 U 188/20; OLG Bamberg, Urteil vom 15. April 2021 – 1 U 328/19; OLG München, Beschluss v. 10.02.2020, Az. 3 U 7524/19; OLG Köln, Beschluss vom 04.07.2019, Az. 3 U 148/18; OLG Stuttgart, Urteil v. 30.07.2019, Az. 10 U 134/19), nach der bereits die kontrovers geführte Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 a VO (EG) 2007/715 zeigt, dass die Gesetzeslage an dieser Stelle nicht unzweifelhaft und eindeutig ist. Konsequenz dieser Unschärfe der europäischen Regelung könnte sein, dass unter Berufung auf den Motorschutz die Verwendung von Abschalteinrichtungen letztlich stets dann gerechtfertigt war, wenn von Seiten des Fahrzeugherstellers nachvollziehbar dargestellt wird, dass ohne die Verwendung einer solchen Einrichtung dem Motor Schaden droht. Dies gilt jedenfalls für den vorliegend maßgeblichen Zeitpunkt der Entwicklung und Produktion des streitgegenständlichen Motors EA 288, bei dem eine Konkretisierung der Voraussetzungen gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung 715/2007/EG durch die Entscheidung des EuGH v. 17.12.2020 (Az. C-693/18, Celex-Nr. 62018CJ0693) noch nicht erfolgt war.

39

Schließlich hat auch der BGH hinsichtlich der Thermofensterproblematik inzwischen festgestellt, dass die Entwicklung und der Einsatz der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) nicht mit der Verwendung der im Motor EA 189 verwendeten Prüfstandsoftware zu vergleichen ist und für sich genommen nicht ausreicht, um einen Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung (§ 826 BGB) zu begründen (BGH, Beschluss v. 19.01.2021, Az. VI ZR 433/19; Beschluss vom 09.03.2021, Az. VI ZR 889/20). Anders als die sog. Umschaltlogik bei VW-Motoren vom Typ EA-189 unterscheidet sich selbst bei erkanntem Prüfstandsbetrieb das Abgasverhalten des Fahrzeuges aufgrund des Thermofensters nicht von demjenigen im Straßenbetrieb, vielmehr arbeitet es in beiden Fahrsituationen im Grundsatz in gleicher Weise. Unter den für den Prüfzyklus maßgebenden Bedingungen entspricht die Rate der Abgasrückführung im normalen Fahrbetrieb nämlich derjenigen auf dem Prüfstand (vgl. BGH, Urteil v. 09.03.2021, VI ZR 889/20, Rn. 27 m.w.N.). Insoweit ist auch nicht erkennbar, dass allein die Implementierung eines Thermofensters auf eine Täuschung der Typgenehmigungsbehörde abzielen würde; vielmehr ist allgemein bekannt, dass viele Dieselfahrzeuge (auch anderer Hersteller) über ein Thermofenster verfügen.

40

Im Übrigen fehlt es auch an der hinreichenden Darlegung einer etwaigen Zurechnung nach §§ 826, 31 BGB. Dazu fehlt bislang konkreter Vortrag des Klägers über die bei der Entwicklung des Motors Typ EA 288 bei der Beklagten erfolgte Entscheidungsprozesse sowie die inhaltliche Auseinandersetzung der Organe der Beklagten mit den Voraussetzungen nach Art. 5 Abs. 2 EG-VO 715/2007.

41

Gleiches gilt für eine etwaige Täuschung des KBA im Genehmigungsverfahren. Es ist weder vorgetragen noch ansatzweise ersichtlich, dass die Beklagte im Genehmigungsverfahren bewusst in Täuschungsabsicht unzutreffende Angaben zu dem Thermofenster gemacht haben könnte. Die Angabe konkreter Parameter zum Abgasrückführungssystem gegenüber der Zulassungsbehörde war jedenfalls zum Zeitpunkt der Typengenehmigung für dieses Fahrzeug (Mai 2013) gesetzlich noch nicht erforderlich und ist erst durch die nachfolgende VO (EU) 2016/646 vorgegeben worden. Deshalb kommt eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten im Hinblick auf ihre internen Entscheidungsvorgänge hier auch nicht in Betracht (OLG Schleswig, Urteil vom 13.07.2021, 7 U 188/20; OLG Bamberg, Urteil vom 15. April 2021, 1 U 328/19, Juris Rn. 33; OLG Dresden, Urteil vom 09.07.2019, 9 U 567/19; a.A. offenbar der 1. Senat OLG Schleswig, Urteil v. 19.02.2021, 1 U 91/20, NJW RR 2021,745 - dort ging es aber um ein gänzlich anderes Fahrzeug - Mercedes-Benz GLK 220 CDI, Euro 5). Dies würde auf eine Umkehr der Beweislast hinauslaufen, die das Gesetz nicht vorsieht.

42

Die Implementierung eines Thermofensters kann deshalb keine Grundlage für einen Anspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung sein.

43

3. Fahrkurvenerkennung (Zykluserkennung)Ähnliches gilt für die sog. Fahrkurvenerkennung, die hier unstreitig noch in der Motorsteuerung programmiert ist. Grundsätzlich ist die Programmierung einer Fahrkurvenerkennung nämlich erst einmal nicht zu beanstanden; zu einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne der vorgenannten VO (EG) 715/07 wird eine Fahrkurvenerkennung erst dann, wenn sie auf dem Prüfstand dazu führt, dass gegenüber dem normalen Fahrzeugbetrieb verringerte Abgasemissionen herbeigeführt werden. Dafür lässt sich dem Klägervortrag - bezogen auf den konkreten Fahrzeugtyp - nichts Hinreichendes entnehmen.

44

Die Fahrkurvenerkennung deaktiviert zwar nach Durchlauf des sogenannten Precon einen Teil des Emissionskontrollsystems, nämlich die beladungsgesteuerte Regeneration des NSK-​Katalysators. Hiermit geht aber keine Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, einher. Zwar läge - worauf das Oberlandesgericht Naumburg zu Recht hinweist (Urteil vom 09.04.2021 - 8 U 68/20, BeckRS 2021, 8880 Rn. 21) - nach dem Sinn und Zweck der Regelung auch dann eine Abschalteinrichtung vor, wenn die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems nicht im normalen Fahrbetrieb verringert, sondern umgekehrt im Prüfstandsbetrieb erhöht würde (vgl. auch EuGH, NJW 2021, 1216, 1221 Rn. 102). Dies kann der Senat hier aber nicht feststellen. Denn es ist auch im normalen Fahrbetrieb ohne Weiteres möglich, dass es auf einer Fahrstrecke, die dem NEFZ im Wesentlichen entspricht, zu genau zwei NSK-​Regenerationen kommt. Denn auch im normalen Fahrbetrieb kann der NSK-​Katalysator bei Beginn der Fahrt leer sein, nämlich dann, wenn das Fahrzeug unmittelbar oder kurz nach der zuletzt ausgelösten Regeneration abgestellt wurde. Auch ist - beispielsweise bei einer langsamen und daher eher emissionsarmen - Fahrt denkbar, dass es innerhalb des Fensters der streckengesteuerten Regeneration (5 Kilometer) zu keiner beladungsgesteuerten Regeneration kommt. Dies hat seinen Grund darin, dass - und hierin liegt der wesentliche Unterschied zur Umschaltlogik beim Motor EA 189 der Beklagten - das Emissionskontrollsystem beim EA 288 EU 6 NSK trotz der Fahrkurvenerkennung im realen Fahrbetrieb und im Prüfstandsbetrieb im Wesentlichen in gleicher Weise funktioniert. Der einzige Unterschied ist, dass die sogenannten DeNox-​Events im Prüfstandsbetrieb nicht dynamisch, sondern nach einem festen Schema gesetzt werden. Dies führt in der Konsequenz aber lediglich dazu, dass der Prüfstandsbetrieb nicht sämtliche denkbaren Konstellationen der im realen Fahrbetrieb vorkommenden Regenerationen abbildet. Dies gilt aber generell für den NEFZ-​Prüfzyklus, der aus diversen Gründen nur sehr eingeschränkt mit den vielfältigen realen Fahrsituationen übereinstimmt.

45

Soweit das Oberlandesgericht Naumburg demgegenüber die Ansicht vertreten hat, es sei durch das NEFZ-​Verfahren zumindest zu gewährleisten gewesen, dass die Grenzwerte auf jeder denkbaren 11-​km-​Strecke eingehalten werden, weil der NEFZ auf eine Strecke von 11 Kilometern angelegt ist und gerade dies habe die Fahrkurvenerkennung verhindert (Urteil vom 09.04.2021 - 8 U 68/20, BeckRS 2021, 8880 Rn. 21), findet dies in den zum Zeitpunkt der Erstzulassung des streitgegenständlichen Fahrzeugs gültigen Regelungen über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen letztlich keine Stütze. Zwar sind nach Erwägungsgrund 12 bzw. Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der VO 715/2007/EG die Hersteller gehalten, ihre Fahrzeuge so zu entwickeln, dass die Emissionsgrenzwerte grundsätzlich auch im normalen Fahrbetrieb stets eingehalten werden. Gleichzeitig war es aber eine dem Verordnungsgeber gemäß Erwägungsgrund 15 bewusste Realität, dass dieses Ziel erst erreicht werden kann, wenn ein anerkannter Prüfzyklus eingesetzt wird, der dieses Erfordernis realistisch abbildet und auf den sich die Fahrzeughersteller im Vorfeld einstellen können. Dies ist beim NEFZ-​Prüfmodus, der für das klägerische Fahrzeug unstreitig allein maßgeblich ist, nicht vollständig der Fall. Denn er bildet viele reale Bedingungen (u. a. niedrige Außentemperaturen, Höhenunterschiede) nicht ab und bietet den Herstellern zahlreiche Optimierungsmöglichkeiten. Unter anderem ist das Fahrzeug bis zur Messung mindestens sechs Stunden lang einer Temperatur zwischen 20 und 30° Celsius ausgesetzt und die Kühlwasser- und Öltemperatur liegt zwischen 20 und 30° Celsius. Es kann mit erhöhtem Reifendruck gemessen werden. Die Prüfung erfolgt mit geöffneter Motorhaube. Es war zudem anerkannt, dass Fugen der Außenhülle abgeklebt und elektrische Verbraucher abgeklemmt werden durften (vgl. auch OLG Stuttgart, Urteil vom 04.05.2021 – 16a U 202/19 –, juris Rn.60 f.).

46

Für eine arglistige Täuschung der Genehmigungsbehörde wegen fehlender Offenlegung oder Verschleierung der Fahrkurvenerkennung zum Zeitpunkt der Antragstellung (hier EG-Typgenehmigung vom 28.05.2013) fehlt es an greifbaren Anhaltspunkten. Insoweit trifft den Kläger die Darlegungs- und Beweislast für solche Umstände, aus denen sich die Verwerflichkeit des Handelns der Mitarbeiter der Beklagten ergeben soll (BGH, Beschluss v. 19.01.2021 - VI ZR 433/19; juris-Rn. 19). Vor diesem Hintergrund muss sich daher die Beklagte auch nicht im Rahmen einer sekundären Darlegungslast dazu entlasten, keine zureichenden oder fehlerhaften Informationen gegenüber der Genehmigungsbehörde bezüglich der Eigenschaften und Funktionsweise der von ihr verwendeten Motorsteuerungssoftware abgegeben zu haben, oder entsprechende Unterlagen vorlegen. Sich zu den Einzelheiten der von ihr erfolgten Angaben im Typengenehmigungsverfahren zu erklären, obläge der Beklagten vielmehr erst dann, wenn der Kläger seinerseits hinreichende Anhaltspunkte für unzureichende oder unrichtige Angaben vorgetragen hätte. Eben hieran fehlt es vorliegend jedoch.

47

Detaillierte Angaben zu den Emissionsstrategien im Typengenehmigungsverfahren sind erst seit Mitte 2016 mit der Verordnung (EU) 2016/646 und damit nach Erteilung der Typengenehmigung für das streitgegenständliche Fahrzeug eingeführt worden. Im Übrigen lassen sich selbst aus einer Verletzung von Mitteilungspflichten nach Art. 3 Nr. 9 VO (EG) 692/08 keine berechtigten Rückschlüsse auf eine bewusste Informationsverschleierung ziehen. Selbst wenn die Beklagte im Beschreibungsbogen keine Angaben zu der Fahrkurvenerkennung und ihre Auswirkungen auf das Emissionskontrollsystem gemacht haben sollte, reicht dies für die Darlegung eines bewussten Gesetzesverstoßes nicht aus. Denn ein einfacher Gesetzesverstoß begründet noch keine Sittenwidrigkeit, erst recht nicht, wenn das KBA als Genehmigungsbehörde mit den erfolgten Angaben zufrieden war und keine Rückfragen gestellt hat (OLG Celle, Urteil vom 25.08.2021, 16 U 305/21, juris Rn. 40 m.H.a. OLG Celle, Urteile vom 13.11.2019, 7 U 367/18 und vom 18.12.2019, 7 U 511/18, juris). Es hätte dem zuständigen KBA oblegen, bei aus seiner Sicht unvollständigen Angaben im Wege der Amtsermittlung Angaben nachzufordern (BGH, Urteil vom 16.09.2021, VII ZR 286/20, Rn. 26 bei juris; OLG Schleswig, Urteil vom 10.12.2021, 1 U 47/21, BeckRS 2021, 40935 Rn. 62). Die Beklagte hat außerdem substantiiert vorgetragen, dass dem KBA die EA 288-Aggregate bereits Ende 2015 im Rahmen der Herausgabe der Applikationsrichtlinie vom 18.11.2015 und bei einem Technik-Workshop am 22.01.2016 umfassend vorgestellt worden und vom KBA weder damals noch in der Folgezeit beanstandet worden seien. Der Umstand, dass das KBA auch nach über 5-jähriger Prüfung rund um den Motor EA 288 das streitgegenständliche Fahrzeug nicht zurückgerufen hat, spricht dagegen, dass es sich im Typengenehmigungsverfahren oder später als getäuscht ansehen würde (OLG Bamberg, Urteil vom 20.05.2021, 1 U 90/20, BeckRS 2021, 28927 Rn. 47).

48

4. On-Board-Diagnosesystem (OBD)Die Behauptung des Klägers, die Beklagte habe in das OBD eingegriffen, damit dieses keine Fehlermeldung bei der unzureichenden Abgasreinigung außerhalb des vorprogrammierten Temperaturfensters anzeige, beruht auf der (fehlerhaften) Prämisse, dass es sich bei dem Thermofenster um eine unzulässige, zum alleinigen Zweck der Abgasmanipulation mit sittenwidriger Zielrichtung eingebaute Abschalteinrichtung handelt. Es ist nicht Aufgabe des OBD, konstante Messungen der Schadstoffemissionen vorzunehmen und bei Überschreitung bestimmter Schwellenwerte Signale zu setzen bzw. zu speichern (OLG Hamm, Urteil vom 28.01.2021, 18 U 21/20). Ein vermeintlich manipuliertes OBD ist aber schon per definitonem keine „Abschalteinrichtung“, da es nicht auf irgendein beliebiges Teil des Emissionskontrollsystems einwirken kann, sondern dieses System nur überwacht.

49

Es kann auch offenbleiben, ob das OBD-System falsch programmiert ist. Selbst wenn ein entsprechender Mangel anzunehmen wäre, hätte der Kläger nach §§ 437 Nr. 2, 323 Abs. 1 BGB erst dann vom Vertrag zurücktreten können, wenn er der Beklagten bzw. seiner Verkäuferin zuvor erfolglos eine angemessene Frist zur Nacherfüllung gesetzt hätte, was unstreitig nicht erfolgt ist. Die Erforderlichkeit der Setzung einer Nacherfüllungsfrist ist auch nicht wegen Unmöglichkeit nach §§ 326 Abs. 5, 275 Abs. 1, 242 BGB entfallen. Eine Nacherfüllung in Form Nachbesserung nach § 439 Abs. 1 BGB ist wegen eines unbehebbaren Mangels im Sinne des § 275 Abs. 1 BGB unmöglich, wenn die Leistung weder vom Schuldner noch von einem Dritten erbracht werden kann (BGH, Urteil vom 19.10.2007, V ZR 211/06, Juris Rdnr. 23 ff.; OLG Saarbrücken, Urteil vom 28.08.2019, 2 U 94/18, Juris Rdnr. 26; OLG Stuttgart, Urteil vom 11. Dezember 2020, 3 U 101/18, Juris Rdn. 59). Diese Voraussetzungen sind hier zweifellos nicht gegeben.(vgl. OLG Schleswig, Urteil vom 16.02.2021, 7 U 68/20).

50

Soweit das OLG Naumburg bzw. dessen 8. Zivilsenat in der vom Landgericht zitierten Entscheidung vom 9. April 2021 (8 U 68/20) in vergleichbaren Sachverhaltskonstellationen Schadensersatzansprüche gemäß §§ 826, 31 BGB gegen die Beklagte bejaht hat, hält das OLG Naumburg an der genannten Entscheidung ausdrücklich nicht mehr fest. Vielmehr hat es mit zwei Urteilen vom 10.12.2021 (8 U 63/21 und 8 U 64/21) seine Rechtsprechung geändert und Berufungen vermeintlich Geschädigter gegen klagabweisende erstinstanzliche Urteile zurückgewiesen. Diese Auffassung hat das OLG Naumburg nochmals mit Hinweis vom 13.12.2021 bestätigt (8 U 24/21; Anl. BB15).

51

Mangels Hauptanspruches hat der Kläger auch keinen Anspruch auf den Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.

52

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91, 708 Nr. 10 und 713 ZPO.

53

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht (mehr) vor, insbesondere weicht der Senat nicht von der Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte ab.


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