Urteil vom Hamburgisches Oberverwaltungsgericht (4. Senat) - 4 Bf 29/14

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 31. Januar 2014 geändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.901,50 Euro zuzüglich 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 19. Dezember 2012 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die Kosten der Jugendhilfe zu erstatten, die ihr in der Zeit vom 1. Januar 2009 bis zum 31. Dezember 2013 im Jugendhilfefall L… entstandenen sind.

Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens tragen die Klägerin zu 3/5 und die Beklagte zu 2/5.

Das Urteil ist wegen der Zahlungsverpflichtung sowie wegen der Kosten des Verfahrens vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn der jeweilige Kostengläubiger nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten als örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die Kosten zu erstatten, die sie seit dem 1. Oktober 2008 für die Hilfe zur Erziehung im Fall eines Kindes aufgewendet hat und künftig aufwenden wird.

2

Die - nicht miteinander verheirateten - Eltern des … 2006 geborenen L… lebten zunächst in Wiesbaden. Die Vaterschaft war seinerzeit weder anerkannt noch gerichtlich festgestellt. Die Kindesmutter hatte das alleinige Sorgerecht. Anfang September 2006 verzog sie mit dem Kind nach Hamburg. Da sie mit der Pflege und Erziehung des Kindes überfordert war, lebt das Kind seit dem 5. September 2006 bei seiner Großmutter in Siegen. Die Kindesmutter blieb in Hamburg, wo sie seither lebt. Mit Beschluss des Amtsgerichts Hamburg - Familiengericht - vom 18. Juli 2007 wurde der Großmutter die elterliche Sorge für das Kind übertragen.

3

Die Beklagte bewilligte der Großmutter ab dem 23. August 2007 Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege nach §§ 33, 39 SGB VIII. Ab dem 1. Oktober 2008 übernahm die Klägerin die Zuständigkeit für den Hilfefall nach § 86 Abs. 6 SGB VIII.

4

Mit Beschluss vom 25. August 2008 stellte das Amtsgericht Siegen die Vaterschaft für das Kind fest. Der Beschluss wurde am 2. Oktober 2008 rechtskräftig. Der Vater lebte zu dieser Zeit in Wiesbaden-Klarenthal.

5

Nach umfänglichen Korrespondenzen erkannte die Beklagte ihre Kostenerstattungspflicht gegenüber der Klägerin bis einschließlich dem 1. Oktober 2008 an. In weiteren umfänglichen Korrespondenzen bleib zwischen den Beteiligten streitig, ob die Klägerin auch nach der rechtskräftig gewordenen Feststellung der Vaterschaft erstattungspflichtig war.

6

Am 19. Dezember 2012 hat die Klägerin Klage erhoben und im Wesentlichen geltend gemacht: Mit der rechtskräftigen Feststellung der Vaterschaft sei die örtliche Zuständigkeit neu zu bestimmen. Da die Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besäßen, ergebe sich auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 9.12.2010, 5 C 17.09, und v. 15.11.2011, 5 C 25.10) die Zuständigkeit aus § 86 Abs. 5 SGB VIII. Sie sei danach bei der Beklagten verblieben.

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Die Klägerin hat beantragt,

8

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin die ihr im Jugendhilfefall L… vom 1. Oktober 2008 bis 31. Dezember 2008 entstandenen Kosten in Höhe von 1.901,50 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basissatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin auch die ab dem 1. Januar 2009 entstandenen Kosten der Jugendhilfe für L… zu erstatten.

9

Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

11

Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt: Es sei unstreitig, dass sie ohne die nach § 86 Abs. 6 SGB VIII erfolgte Übernahme der Zuständigkeit durch die Klägerin bis zum 1. Oktober 2008 nach § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII zuständig gewesen wäre. Für allein den 1. Oktober 2009 scheide eine Erstattung der an diesem Tag entstandenen Kosten im Hinblick auf die Bagatellgrenze nach § 89f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII aus. Ab dem Zeitpunkt der rechtskräftigen Feststellung der Vaterschaft am 2. Oktober 2008 richte sich die örtliche Zuständigkeit ohne die Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII nicht nach § 86 Abs. 5 SGB VIII, da es bei den Eltern nach Leistungsbeginn nicht zu einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts gekommen sei. Vielmehr sei gemäß § 86 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 4 SGB VIII die Klägerin zuständig, da die Eltern schon vor Leistungsbeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besessen hätten, kein Elternteil personensorgeberechtigt sei und das Kind vor Leistungsbeginn bei keinem Elternteil einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet habe.

12

Das Verwaltungsgericht hat mit im schriftlichen Verfahren ergangenem Urteil vom 31. Januar 2014 die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Für die am 1. Oktober 2008 angefallenen Kosten von 23,82 Euro könne die Klägerin einen Erstattungsanspruch nicht durchsetzen, da die Bagatellgrenze nicht überschritten werde. Ab dem 2. Oktober 2008 sei die Beklagte nicht zur Erstattung der Leistungen verpflichtet. Mit Eintritt der Rechtskraft des die Vaterschaft feststellenden Urteils habe die Zuständigkeit der Beklagten nach § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII geendet. Da beide Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hätten, die Personensorge keinem Elternteil zustehe und das Kind während der letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung bei keinem Elternteil einen gewöhnlichen Aufenthalt besessen habe, sei die Klägerin nach § 86 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 4 SGB VIII als örtlicher Träger zuständig. Denn das Kind habe zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei der Großmutter in Siegen gehabt. § 86 Abs. 5 SGB VIII sei nicht einschlägig. Dessen Satz 1 regele nach dem eindeutigen Wortlaut den Fall, dass die Elternteile vor Beginn der Leistung einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt besessen und erst nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründet hätten. Soweit das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 14.11.2013, 5 C 34.12) § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII immer dann für anwendbar halte, wenn die Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besäßen, sei dies wenig überzeugend. Außerdem habe der Gesetzgeber mit seiner Änderung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII klargestellt, dass sich Satz 2 auf sämtliche Tatbestände des Satzes 1 beziehe.

13

Das Urteil ist der Klägerin am 7. Februar 2014 zugestellt worden. Am 5. März 2014 hat sie die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und am 4. April 2014 im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Beklagte sei zur Kostenerstattung verpflichtet, da sich ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII aus § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII der Fortbestand ihrer vorherigen Zuständigkeit ergebe. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts komme es für die Anwendung des § 86 Abs. 5 SGB VIII gerade nicht darauf an, dass die Elternteile erst nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründet hätten. Die Regelung sei vielmehr in allen Fällen anwendbar, in denen die Eltern nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besäßen.

14

Die Klägerin beantragt,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 31. Januar 2014 zu ändern und nach dem erstinstanzlichen Klageantrag zu erkennen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

18

Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend: Der Sachverhalt sei zwischen den Beteiligten unstreitig. Unstreitig sei auch, dass bis zur Rechtskraft des die Vaterschaft feststellenden Urteils sie, die Beklagte, ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständig gewesen wäre. Die gerichtliche Feststellung der Vaterschaft führe dazu, dass die Zuständigkeit neu geklärt werden müsse. Erstmals sei von zwei Elternteilen auszugehen. Da diese nicht personensorgeberechtigt seien und schon zu Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besessen hätten, bestimme sich die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 3 SGB VIII. Entgegen der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts sei § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII nicht anwendbar. Das ergebe sich aus dem Wortlaut der Regelung und seiner Systematik. Wenn die Elternteile nicht personensorgeberechtigt seien, dann könne auch das Ziel des Gesetzes, die Erziehungsfähigkeit der Eltern zu stärken, nicht mehr erreicht werden. Dem trage § 86 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII Rechnung, nach dem dann nur noch auf den Aufenthalt des Kindes bzw. der Pflegeperson abgestellt werde. Dies entspreche auch dem Willen des Gesetzgebers. Mit seiner Änderung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII habe er deutlich gemacht, wie er die Regelung verstanden wissen wolle. Da das Kind seit der Feststellung der Vaterschaft zwei Elternteile habe, die beide nicht personensorgeberechtigt seien und unterschiedliche gewöhnliche Aufenthalte hätten, ergebe sich die Zuständigkeit aus § 86 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 4 SGB VIII. Hiernach sei die Klägerin zuständig, da das Kind während der letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung bei seiner Großmutter gelebt habe. Dieses Ergebnis sei auch deshalb sachgerecht, weil Klägerin unmittelbar nach diesen Regelungen auch dann zuständig gewesen wäre, wenn die Vaterschaft des Kindes von Anfang an bekannt gewesen wäre. In diesem Fall wäre sie, die Beklagte, nie zuständig geworden.

19

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Sachakten der Klägerin und der Beklagten Bezug genommen. Die Akten haben dem Gericht bei der Entscheidung vorgelegen.

Entscheidungsgründe

20

Das Berufungsgericht kann über die Berufung der Klägerin im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben (§§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwGO).

A

21

Die zulässige Berufung hat teilweise Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Leistungsklage und zum Teil auch die Feststellungsklage zu Unrecht abgewiesen. Im Übrigen ist die Feststellungsklage unbegründet. Insoweit hat das Verwaltungsgericht sie im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

22

Die Klage ist zulässig. Das gilt unproblematisch für die Leistungsklage, aber auch für die erhobene Feststellungsklage. Auch wenn in der vorliegenden Konstellation die Rechtsverfolgung durch eine Leistungsklage - gerichtet auf die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung bezifferter Aufwendungen - möglich ist (§ 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO), bestehen gegen die Zulässigkeit der Feststellungsklage keine Bedenken, wenn - wie hier - öffentlich-rechtliche Körperschaften vor den Verwaltungsgerichten ihre Zuständigkeit bzw. ihre Pflicht zur Kostenerstattung (dem Grunde nach) klären lassen wollen (BVerwG, Urt. v. 22.2.2001, 5 C 34/00, BVerwGE 114, 61, juris Rn. 8.; Urt. v. 27.10.1970, VI C 8/69, BVerwGE 36, 181, juris Rn. 12; OVG Hamburg, Urt. v. 1.9.2005, 4 Bf 441/01).

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Rechtsgrundlage für das Leistungsbegehren der Klägerin sowie für die Feststellung der darüber hinausgehenden Kostenerstattungspflicht der Beklagten ist § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Danach sind Kosten, die ein örtlicher Träger auf Grund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der zuvor zuständig war oder gewesen wäre. Diese Erstattungsregelung ist einschlägig. Die Klägerin hat zum 1. Oktober 2008 die Zuständigkeit für den Hilfefall nach § 86 Abs. 6 SGB VIII übernommen. Die Klägerin war hiernach zuständig geworden, weil das Kind seit September 2006 und damit seit mehr als zwei Jahren bei seiner in Siegen wohnhaften Großmutter lebte. Diese war Pflegeperson im Sinne des § 86 Abs. 6 SGB VIII, da sie ihren Enkel ab dem 5. September 2006 über Tag und Nacht in ihren Haushalt aufgenommen hatte (vgl. die Legaldefinition in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 1.9.2011, 5 C 20/10, BVerwGE 140, 305, juris Rn. 12 ff.). Der Verbleib des Kindes dort war auch auf Dauer zu erwarten (§ 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII).

24

Hiernach ist die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die geltend gemachten Kosten in Höhe von 1.901,50 Euro sowie die Kosten zu erstatten, die der Klägerin bis zum 31. Dezember 2013 für den Hilfefall entstanden sind (hierzu unter I.). Hinsichtlich der Kosten, die seit dem 1. Januar 2014 angefallen sind und noch anfallen werden, ist die Beklagte hingegen nicht erstattungspflichtig (hierzu unter II.).

I.

25

Die Klägerin hat gegen die Beklagte nach § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII einen Anspruch auf Erstattung von 1.901,50 Euro. Diese Kosten sind der Klägerin - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - in der Zeit vom 1. Oktober 2008 bis zum 31. Dezember 2008 für den Jugendhilfefall L… entstanden. Diese Kosten sind Teil der laufend über diesen Zeitraum hinaus anfallenden Leistungen der Jugendhilfe und überschreiten zudem für sich genommen die Bagatellgrenze des § 89f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII. Nach § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist die Beklagte verpflichtet, der Klägerin auch über den genannten Zeitraum hinaus die Kosten zu erstatten, die ihr für diesen Jugendhilfefall bis zum 31. Dezember 2013 entstanden sind.

26

Bis zur Übernahme des Hilfefalls durch die Klägerin war die Beklagte für den Hilfefall nach § 86 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 SGB VIII zuständig, da die Vaterschaft weder anerkannt noch gerichtlich festgestellt war und die Mutter des Kindes in Hamburg ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Hiervon gehen auch die Beteiligten aus. Ohne den Zuständigkeitswechsel nach § 86 Abs. 6 SGB VIII wäre die Beklagte für den Hilfefall zuständig geblieben, sodass ihre Erstattungspflicht über den 1. Oktober 2008 hinaus fortbestand.

27

Die am 2. Oktober 2008 rechtskräftig gewordene gerichtliche Feststellung der Vaterschaft hat an der Zuständigkeit der Beklagten nichts geändert. Das ergibt sich aus Folgendem:

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1. Die rechtskräftige Feststellung der Vaterschaft ist allerdings ein Umstand, der dazu führen kann, die Zuständigkeit neu zu bestimmen (BVerwG, Urt. v. 14.11.2013, 5 C 31/12, NVwZ-RR 2014, 390, juris Rn. 22).

29

Entgegen der Auffassung der Beteiligten ist im vorliegenden Fall nicht unmittelbar § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII anwendbar. Denn es geht hier nicht um die Frage, ob sich die tatsächliche Zuständigkeit für einen Hilfefall ändert. Vielmehr geht es um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen im Fall einer fortbestehenden Zuständigkeit des räumlich der Pflegestelle zugeordneten Trägers nach § 86 Abs. 6 SGB VIII die Erstattungspflicht auf einen anderen Träger übergeht. Das regelt § 89a Abs. 3 SGB VIII. Danach wird dann, wenn sich während der Gewährung der Leistung nach Absatz 1 der für die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt ändert, der örtliche Träger kostenerstattungspflichtig, der ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständig geworden wäre. Dieser Wechsel in der Kostenerstattungspflicht hängt also von der hypothetischen Zuständigkeit ab, die sich aus einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts ergäbe.

30

Nach dem Wortlaut des § 89a Abs. 3 SGB VIII entfällt die hypothetische Zuständigkeit der Beklagten durch die Feststellung der Vaterschaft allerdings nicht. Geändert hat sich zum 2. Oktober 2008 nämlich nicht der gewöhnliche Aufenthalt der maßgeblichen Personen. Geändert hat sich der im Rahmen des § 86 Abs. 1 SGB VIII relevante Umstand, dass die Vaterschaft bislang nicht anerkannt oder gerichtlich festgestellt war, was zur Folge hatte, dass es deshalb nach § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII bei der Anwendung der Zuständigkeitsregelungen nicht auf die Eltern, sondern allein auf die Mutter ankam. Auch die Änderung dieses Umstands ist allerdings im Rahmen des § 89a Abs. 3 SGB VIII zu berücksichtigen. Die Norm ist über den Wortlaut hinaus auf alle Fälle anzuwenden, in denen sich Umstände ändern, die für die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII maßgeblich sind (vgl. u.a. VGH Mannheim, Urt. v. 31.5.2013, 12 S 2346/11, JAmt 2013, 475, juris Rn. 60; OVG Münster, Beschl. v. 20.9.2012, 12 A 1857/12, juris Rn. 3 ff.; Kunkel/Pattar in LPK-SGB VIII, 5. Aufl. 2014, § 89a Rn. 20; Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 89a Rn. 10; Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, § 89a Rn. 8a; a.A., auf den Wortlaut abstellend: VG Magdeburg, Urt. v. 17.1.2012, 4 A 453/09, juris Rn. 29; VG Würzburg, Urt. v. 24.3.2005, W 6 K 05.173, juris Rn.13; offengelassen: BVerwG, Urt. v. 9.12.2010, 5 C 17/09, NVwZ-RR 2011, 203, juris Rn. 17 ff.).

31

Diese erweiternde Auslegung über den reinen Wortlaut der Norm hinaus ist durch den Zweck der Regelung geboten. Geht im Fall einer Dauerpflege die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII auf den räumlich der Pflegestelle zugeordneten örtlichen Träger über, so erwirbt dieser einen Erstattungsanspruch gegen den bislang zuständigen Träger. Das dient dem Schutz der „Pflegeorte“, damit die Bereitschaft bestehen bleibt, Pflegestellen anzubieten. Dass der bisher zuständige örtliche Träger zur Erstattung der Kosten verpflichtet ist, trägt dem Umstand Rechnung, dass er durch den Wechsel der Zuständigkeit für den Hilfefall keinen Vorteil erlangen soll. Er soll im Ergebnis so gestellt werden, als wäre er weiterhin zuständig geblieben. Das verlangt zugleich aber auch, dass er durch den Wechsel der Zuständigkeit auf den der Pflegestelle zugeordneten örtlichen Träger keinen Nachteil erleidet (vgl. Kunkel/Pattar, a.a.O, Rn. 17; Wiesner, a.a.O., Rn. 10). Wäre die Zuständigkeit nicht nach § 86 Abs. 6 SGB VIII auf den örtlichen Träger am Ort der Pflegestelle übergegangen, so hätte er seine Zuständigkeit verloren, wenn sich die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII geändert hätte und die Zuständigkeit für den Hilfefall „gewandert“ wäre. Diesen Vorteil hätte er nicht nur dann gehabt, wenn sich ein für die örtliche Zuständigkeit maßgeblicher gewöhnlicher Aufenthalt geändert hätte, sondern auch dann, wenn sich ein anderer zuständigkeitsrelevanter Umstand geändert hätte. Endete seine Erstattungspflicht hingegen nur dann, wenn - dem Wortlaut des § 89a Abs. 3 SGB VIII entsprechend - sich die (hypothetische) Zuständigkeit aufgrund eines Wechsels des gewöhnlichen Aufenthalts änderte, nicht jedoch dann, wenn sie sich beispielsweise aufgrund einer Änderung der Personensorge änderte, so wäre er dadurch benachteiligt, dass die tatsächliche Zuständigkeit auf den Träger des Pflegeortes übergegangen ist. Eine derartige Benachteiligung ließe sich nicht rechtfertigen und ist mit der gesetzlichen Regelung einer Kostenerstattungspflicht auch nicht beabsichtigt.

32

2. Durch die Feststellung der Vaterschaft hat sich die zuvor bestehende Zuständigkeit der Beklagten allerdings bis zum 31. Dezember 2013 nicht geändert.

33

Bis zu diesem Zeitpunkt wäre § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII in der bis zum 31. Dezember 2013 geltenden alten Fassung anzuwenden gewesen. Nach dieser Norm bleibt die bisherige Zuständigkeit bestehen, solange die Personensorge beiden Elternteilen gemeinsam (Alt. 1) oder keinem Elternteil (Alt. 2) zusteht. Hier liegt ein Fall der 2. Alternative vor, denn die Personensorge stand keinem Elternteil zu. Für diese 2. Alternative des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII a.F. ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urt. v. 14.11.2013, 5 C 34/12, BVerwGE 148, 242, juris Rn. 23 ff.), der sich das Berufungsgericht angeschlossen hat (Beschl. v. 4.3.2015, 4 Bf 129/13), geklärt, dass sie trotz ihrer Stellung im Gesetz nicht am Begriff des „Begründens“ in § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII anknüpft und deshalb nicht voraussetzt, dass die Elternteile ihre verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalte erst nach Beginn der Leistung begründet haben. Die Vorschrift setzt auch nicht voraus, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt eines Elternteils geändert hat. Vielmehr ist sie auch dann einschlägig, wenn sich ein anderer zuständigkeitsrelevanter Umstand geändert (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.10.2011, 5 C 25/10, BVerwGE 141, 77, juris Rn. 34, dort: Entzug des Sorgerechts). Vielmehr erfasst § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII a.F. alle Fälle, in denen die nichtsorgeberechtigten Eltern nach Leistungsbeginn unterschiedliche Aufenthalte besitzen (BVerwG, Urt. v. 14.11.2013, a.a.O., juris Rn. 23).. Das war hier nach der Feststellung der Vaterschaft der Fall, da es nunmehr erstmals zwei Elternteile mit unterschiedlichen gewöhnlichen Aufenthalten gab.

34

Dieses Ergebnis entspricht der Konzeption der gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen in § 86 SGB VIII. Diese Konzeption gründet auf dem Umstand, dass die individuellen Jugendhilfeleistungen darauf ausgerichtet sind, die Erziehungsfähigkeit der Elternteile zu stärken und ihre erzieherische Kompetenz zu fördern, um auf diese Weise eine eigenständige Wahrnehmung der elterlichen Erziehungsverantwortung zu ermöglichen. Dieser Situation Rechnung tragend verfolgen die Bestimmungen über die örtliche Zuständigkeit das Ziel, eine effektive Aufgabenwahrnehmung sicherzustellen, indem grundsätzlich an den gewöhnlichen Aufenthalt der Erziehungsverantwortlichen angeknüpft wird. Die räumliche Nähe zwischen dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe und den Eltern begünstigt es, die Aufgaben effektiv wahrzunehmen. Dieser räumlichen Nähe bedarf es hingegen nicht, wenn kein Elternteil das Sorgerecht hat. In Fällen, in denen - wie hier - die Erziehungsverantwortung infolge des Entzugs der elterlichen Sorge nicht mehr bei den Eltern liegt und sich das Kind auch nicht bei einem Elternteil aufhält, besteht keine Notwendigkeit, die örtliche Zuständigkeit weiterhin an den (künftigen) gewöhnlichen Aufenthalt eines Elternteils zu binden und sie mit diesem „mitwandern“ zu lassen (BVerwG, Urt. v. 14.11.2013, a.a.O., juris Rn. 25).

35

So liegt es auch hier, sodass der vorliegende Fall keinen Anlass bietet, die Auslegung des Gesetzes infrage zu stellen. Zwar führt die Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII a.F. im vorliegenden Fall dazu, dass die (hypothetische) örtliche Zuständigkeit bei dem örtlichen Träger verbleibt, der wegen des gewöhnlichen Aufenthalts der Mutter für den Hilfefall zuständig war, obwohl die Mutter nicht mehr über das Sorgerecht verfügt und es nicht darum gehen kann, ihre Erziehungsfähigkeit zu stärken. Allerdings gibt es auch keinen anderen örtlichen Träger, bei dem das in Betracht käme. Denn der Vater des Kindes besitzt ebenfalls kein Sorgerecht. Es macht deshalb fachlich keinen Sinn, die örtliche Zuständigkeit allein aufgrund der rechtskräftigen Feststellung der Vaterschaft „wandern“ lassen.

36

Diesem Verständnis der Norm steht schließlich nicht entgegen, dass durch Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Verwaltungsvereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe vom 29. August 2013 (BGBl. I S. 3464) in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII nach dem Wort „Solange“ die Wörter „in diesen Fällen“ eingefügt worden sind und dass in der Gesetzesbegründung u.a. von einer Klarstellung die Rede ist (BR-Drs. 17/1351, S. 8). Allein der Umstand, dass der Gesetzgeber im Nachherein erklärt, er wolle seine frühere Regelung anders verstanden wissen, als sie in der Rechtsprechung verstanden wird, genügt nicht, um die Auslegung des früheren Rechts zu ändern. An den Gründen, die diese Auslegung tragen, hat sich nichts geändert. Vielmehr hat der Gesetzgeber hierauf reagiert und das Gesetz in einem - wie noch auszuführen sein wird - wesentlichen Punkt geändert, damit es auf dieser geänderten Grundlage anders ausgelegt werden kann.

37

3. Begründet ist die Klage schließlich auch wegen der Nebenforderung. Der geltend gemachte Anspruch auf Prozesszinsen für die mit der Zahlungsklage begehrte Kostenerstattung in Höhe von 1.901,50 Euro folgt aus der entsprechenden Anwendung der §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.

II.

38

Mit Wirkung vom 1. Januar 2014 hat sich die für die Erstattungspflicht nach § 89a Abs. 3 SGB VIII maßgebliche hypothetische Zuständigkeit geändert. Von diesem Tag an wäre die Klägerin auch ohne Anwendung des § 80 Abs. 6 SGB VIII zuständig geworden. Insoweit bleibt ihre Feststellungsklage deshalb ohne Erfolg.

39

Die bereits angesprochene Änderung des § 85 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII ist am 1. Januar 2014 in Kraft getreten (Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes vom 29.8.2013, BGBl. I S. 3464, 3466). Das Änderungsgesetz enthält keine Übergangsvorschriften in Bezug auf laufende Hilfefälle. Das führt dazu, dass die für die Erstattungspflicht wesentliche (hypothetische) örtliche Zuständigkeit erneut zu prüfen ist. Hiernach ergibt sich die örtliche Zuständigkeit nunmehr aus § 80 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 4 SGB VIII. Dabei ist § 80 Abs. 3 SGB VIII analog anzuwenden, da es für die Neubewertung der örtlichen Zuständigkeit eines Leistungsträgers in diesem Fall an einer gesetzlichen Regelung fehlt. Im Einzelnen:

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1. Wie ausgeführt, sind in § 86 Abs. 5 Satz 2 nach dem Wort „Solange“ die Wörter „in diesen Fällen“ eingefügt worden. Aufgrund dieser Gesetzesänderung ist es nicht mehr möglich, § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII - ganz oder teilweise - unabhängig von dem vorstehenden Satz 1 zu betrachten. Vielmehr knüpft der gesamte Absatz 2 nunmehr sowohl vom Wortlaut als auch von der Binnensystematik der Norm her eindeutig an Satz 1 an und setzt damit für beide in Satz 2 geregelten Alternativen voraus, dass die Elternteile (erst) nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründet haben.

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2. Diese Gesetzesänderung hilft für die hier maßgebliche Frage, nämlich ob sich durch die rechtskräftige Feststellung der Vaterschaft die (hypothetische) örtliche Zuständigkeit ändert, unmittelbar nicht weiter. Dieser Umstand stellt nach dem Wortlaut der maßgeblichen Regelungen weder einen Fall § 86 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 SGB VIII oder des § 86 Abs. 3 SGB VIII noch des § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII dar. Die dadurch auftretende Gesetzeslücke ist durch eine entsprechende Anwendung des § 86 Abs. 3 SGB VIII zu schließen.

42

a) Die Zuständigkeit ergibt sich dann, wenn - wie hier - nach Leistungsbeginn die Vaterschaft gerichtlich festgestellt wird, die Eltern verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben und kein Elternteil das Sorgerecht besitzt, nicht aus § 86 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 SGB VIII.

43

Bei der Bewertung der Zuständigkeit ist vom Zeitpunkt der gerichtlichen Feststellung der Vaterschaft an nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern abzustellen. Es kommt nicht mehr - wie zuvor - auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter an. Das ist nach § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII nur solange der Fall, wie die Vaterschaft nicht anerkannt oder gerichtlich festgestellt ist.

44

Auf dieser Grundlage liegt hier im Zeitpunkt der erforderlichen Neubestimmung der Zuständigkeit aufgrund der gesetzlichen Änderung zum 1. Januar 2014 kein Fall des § 86 Abs. 2 SGB VIII vor. Dessen Sätze 1 und 2 scheiden aus, weil kein Elternteil sorgeberechtigt ist. Damit liegen auch die Voraussetzungen der Sätze 3 und 4 nicht vor, da sie an Satz 2 anknüpfen und mithin voraussetzen, dass die Personensorge den Eltern gemeinsam zusteht.

45

b) Die (hypothetische) Zuständigkeit des örtlichen Trägers ergibt sich auch nicht unmittelbar aus § 86 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 SGB VIII.

46

§ 86 Abs. 3 SGB VIII betrifft den Fall, dass die Personensorge keinem Elternteil zusteht und dass die Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben. In diesem Fall ergibt sich die Zuständigkeit aus dem entsprechend anwendbaren § 86 Abs. 2 Satz 2 und 4 SGB VIII. Ein derartiger Fall liegt hier nicht vor. Zwar haben die Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte. Voraussetzung ist es jedoch weiter, dass diese verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalte bereits vor oder bei Beginn der Leistung bestehen (BVerwG, Urt. v. 14.11.2013, 5 C 34/12, BVerwGE 148, 242, juris Rn. 20; vgl. auch Kunkel/Kepert in LPK-SGB VIII, 5. Aufl. 2014, § 86 Rn. 30). Das ergibt sich auch aus der Abgrenzung zu § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII, der ausdrücklich den Fall regelt, dass die Elternteile erst nach Hilfebeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen.

47

Bei Beginn der Leistung, hier also im August 2007, bestanden keine verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalte der Elternteile im Sinne dieser Regelung. Denn bei Leistungsbeginn gab es im Rechtssinne noch keinen Vater, auf dessen gewöhnlichen Aufenthalt hätte abgestellt werden können. Bis zur Anerkennung oder - wie hier - gerichtlichen Feststellung der Vaterschaft gibt es im System des § 86 SGB VIII rechtlich keinen Vater. Das zeigt die Regelung des § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII, die den biologischen Vater ausblendet und nur auf die Mutter abstellt, „solange“ der Vater nicht anerkannt oder festgestellt worden ist. Erst mit der Anerkennung oder gerichtlichen Feststellung der Vaterschaft tritt der Vater im Rechtssinne neu, also mit Wirkung ab jetzt für die Zukunft, hinzu (vgl. Kunkel/Kepert in LPK-SGB VIII, 5. Aufl. 2014, § 86 Rn. 20; Lange in Schlegel/Voelzke, JurisPK-SGB VIII, 1. aufl. 2004, § 86 Rn. 70). Das schließt es aus, zugleich einen Fall des § 86 Abs. 3 SGB VIII anzunehmen und auf den gewöhnlichen Aufenthalt abzustellen, den der - biologische - Vater vor Feststellung seiner Vaterschaft hatte (so aber Lange, a.a.O.).

48

c) Es liegt schließlich auch kein Fall des § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII vor. Diese Regelung setzt voraus, dass bei Beginn der Leistung (noch) ein gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt der Eltern innerhalb des Zuständigkeitsbereichs desselben Trägers bestand und dass erst nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründet werden (BVerwG, Urt. v. 14.11.2013, 5 C 34/12, BVerwGE 148, 242, juris Rn. 18). Einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt hatten die Elternteile vor Beginn der Leistung im Rechtssinne nicht, weil der Vater rechtlich erst nach Leistungsbeginn durch die Feststellung seiner Vaterschaft hinzugetreten ist.

49

3. Damit besteht eine gesetzliche Regelungslücke. Wie die Regelung des § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII zeigt, stellt das Gesetz ausdrücklich darauf ab, ob die Vaterschaft anerkannt bzw. gerichtlich festgestellt worden ist oder nicht. Da hiernach allein auf die Mutter abzustellen ist, „solange“ die Vaterschaft nicht anerkannt oder gerichtlich festgestellt worden ist, geht das Gesetz - wie ausgeführt - davon aus, dass die Anerkennung der Vaterschaft oder ihre gerichtliche Feststellung Auswirkungen auf die örtliche Zuständigkeit soll haben können. Dem werden die weiteren Regelungen jedoch nicht in vollem Umfang gerecht. Sie berücksichtigen nicht den Fall, dass die Vaterschaft erst nach Leistungsbeginn gerichtlich festgestellt wird und kein gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt der Eltern besteht.

50

Diese Regelungslücke ist durch eine entsprechende Anwendung des § 86 Abs. 3 SGB VIII zu schließen. Dies wird der heutigen Rechtslage am ehesten gerecht und es ist deshalb anzunehmen, dass der Gesetzgeber - hätte er die Regelungslücke erkannt - sie in diesem Sinne geschlossen hätte.

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Sowohl § 86 Abs. 3 SGB VIII als auch § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII kommen vom jeweiligen Regelungsansatz dem vorliegenden Fall nahe und bieten sich deshalb für eine analoge Anwendung an. Beide Regelungen betreffen den Fall, dass die Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben und keinem Elternteil die Personensorge für das Kind zusteht. Nach dem Regelungskonzept liegt es näher, zur Analogiebildung den Absatz 3 heranzuziehen als den Absatz 5. Der vorliegende Fall entspricht von der Lebenswirklichkeit her eher dem Fall, den Absatz 3 vor Augen hat. Wie in Absatz 3 gibt es bei Leistungsbeginn keinen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern, während Absatz 5 gerade das voraussetzt, wenn er Regelungen für den Fall trifft, dass die Eltern nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen. Einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt haben die Eltern des Kindes jedoch schon seit längerer Zeit nicht besessen.

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Für eine analoge Anwendung des § 86 Abs. 3 SGB VIII statt des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII spricht überdies der Zweck der letzten gesetzlichen Änderung. In der Begründung zur Änderung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII (BT-Drs. 17/13531, S.8) wird maßgeblich auf den Grundsatz der dynamischen Zuständigkeit abgestellt. Dieser Grundsatz soll ausdrücklich gestärkt und eine Ausweitung der Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII verhindert werden. Diese Regelung, nach der die bisherige Zuständigkeit erhalten bleibt und damit „versteinert“ wird, soll ausdrücklich auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt werden. Dem liefe es zuwider, wenn diese Regelung im Wege einer Analogiebildung auf bislang von ihr nicht erfasste Fälle erstreckt würde. Zwar kann die Dynamik der Zuständigkeit dazu führen, dass eine Behörde zuständig wird, ohne dass dies fachlich begründbar ist, so z.B., wenn die Zuständigkeit mit dem maßgeblichen Elternteil „wandert“, obwohl dieser kein Sorgerecht hat und demzufolge der neu zuständig werdende örtliche Träger mit dem Hilfefall tatsächlich nicht berührt ist. Dies spricht jedoch nicht dagegen, auch im vorliegenden Fall eine dynamische Zuständigkeit anzunehmen. Denn derartige Ergebnisse hat der Gesetzgeber mit dem Vorrang des Prinzips der dynamischen Zuständigkeit im Ergebnis, wenn auch möglicherweise nicht bewusst, in Kauf genommen.

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4. Wendet man § 80 Abs. 3 SGB VIII auf den vorliegenden Fall analog an, so ergibt sich, dass mit der gesetzlichen Feststellung der Vaterschaft ab dem 1. Januar 2014 die Klägerin für den Hilfefall auch dann zuständig geworden wäre, wenn kein Fall des § 86 Abs. 6 SGB VIII vorläge. Das ergibt sich aus § 86 Abs. 2 SGB VIII, dessen Sätze 2 und 4 entsprechend heranzuziehen sind. Hier ist § 86 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII einschlägig, da das Kind während der letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung, dem 23. August 2007, bei keinem Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Das Kind lebte bereits seit September 2006 bei seiner Großmutter, der später die elterliche Sorge übertragen wurde. In diesem Fall ist nach § 86 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich das Kind vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Das war in Siegen, mithin im Zuständigkeitsbereich der Klägerin.

B

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO und nimmt im Übrigen die Kostenentscheidung des Verwaltungsgerichts - soweit die Berufung zurückgewiesen wird - auf. Die Kostenquote entspricht dem jeweiligen Obsiegen und Unterliegen (insgesamt geht es um 200 Leistungsmonate bis zur Volljährigkeit des Kindes, von denen die Klägerin 124 und die Beklagte 76 zu übernehmen hat).

55

Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

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Die Revision wird nach § 132 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

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