Beschluss vom Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht (5. Senat) - 5 O 9/21
Tenor
Auf die Beschwerde der Schuldnerin wird der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts – 7. Kammer, Einzelrichter – vom 23. April 2021 geändert.
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Gläubiger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
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Die Beschwerde ist zulässig. Statthafter Rechtsbehelf ist die Beschwerde gemäß § 146 VwGO und nicht die Erinnerung gemäß § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 766 ZPO, da der Einzelrichter des Verwaltungsgerichts über den Vollstreckungsantrag des Gläubigers nach Anhörung der Schuldnerin entschieden hat. Die Erinnerung ist nur dann der zulässige Rechtsbehelf, wenn eine Vollstreckungsmaßnahme ohne Anhörung des Schuldners vorgenommen wird (OVG Lüneburg, Beschluss vom 30. Juli 2020 – 8 OB 58/20 –, juris Rn. 2 m.w.N.).
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Die Beschwerde ist begründet.
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Das Verwaltungsgericht war bei dem Erlass der angefochtenen Entscheidung ordnungsgemäß besetzt. Ist im Erkenntnisverfahren bei dem Verwaltungsgericht gemäß § 6 Abs. 1 VwGO ein Einzelrichter bestellt worden, so ist dieser auch „Vollstreckungsbehörde“ gemäß § 169 Abs. 1 Satz 2 VwGO (str., wie hier OVG Lüneburg, a.a.O. Rn. 2; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. November 2016 – 3 K 65.15 –, juris Rn. 2; OVG Weimar, Beschluss vom 16. Februar 2010 – 1 VO 93/09 –, juris Rn. 20 ff.; Pietzner/Möller, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand 2020, § 169 Rn. 25; Heckmann, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 169 Rn. 23; Porz, in: Fehling u.a., VwGO, 5. Auflage 2021, § 169 Rn. 3; Kraft, in: Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 169 Rn. 3; Waldhoff, in: Gärditz, VwGO, 2. Auflage 2018, § 169 Rn. 7; a.A. OVG Schleswig, Beschluss vom 29. April 2019 – 2 O 4/18 –, juris Rn. 5 ff.; Clausing, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand 2020, § 6 Rn. 56; Gersdorf, in: Posser/Wolff, VwGO, Stand 2019, § 6 Rn. 8; Schmidt-Kötters, in: Posser/Wolff, a.a.O., § 169 Rn. 6; Kopp/Schenke, VwGO, 26. Auflage 2020, § 169 Rn. 2; Bader, in: Bader u.a., VwGO, 7. Auflage 2018, § 169 Rn. 3; Bamberger, in: Wysk, VwGO, 3. Auflage 2020, § 169 Rn. 2; Kugele, VwGO, Stand 2020, § 169 Rn. 3; Sadler/Kremer, in: Sadler/Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Aufl. 2020, § 4 VwVG Rn. 16).
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§ 169 Abs. 1 Satz 2 VwGO regelt die Zuständigkeit in zwei Schritten, indem zunächst auf das „Gericht des ersten Rechtszugs“ (vgl. insoweit auch § 167 Abs. 1 Satz 2, § 170 Abs. 1 Satz 1, § 172 Satz 1 VwGO) und sodann auf dessen „Vorsitzenden“ verwiesen wird. Mit „Gericht“ ist das im Erkenntnisverfahren zuständige Gericht gemeint, vergleichbar mit dem „Prozessgericht“ gemäß §§ 887, 888, 890 ZPO. Anders als beispielsweise in § 764 ZPO wird in §§ 167 ff. VwGO keine völlig eigenständige, vom Erkenntnisverfahren losgelöste Zuständigkeit für das Vollstreckungsverfahren geschaffen. Stattdessen werden die Zuständigkeiten miteinander verknüpft (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. März 2007 – 5 AV 1.07 –, juris Rn. 6). Dies geschieht aus Gründen der Sachnähe. Die Regelung ermöglicht es, dass – vorbehaltlich der Geschäftsverteilung durch das Präsidium – die bereits im Erkenntnisverfahren erstinstanzlich mit der Materie befassten Richter bzw. deren Vorsitzender für das Vollstreckungsverfahren zuständig bleiben. Dies setzt eine Kontinuität in der Gerichtsbesetzung voraus. Für die Besetzung der Kammer des Verwaltungsgerichts im Vollstreckungsverfahren bleibt demnach die Besetzung im Erkenntnisverfahren gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 VwGO maßgeblich. War die Kammer mit einem Einzelrichter besetzt, so bleibt es dabei. Der Einzelrichter ist daher auch der Vorsitzende im Sinne von § 169 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Dem kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, rein sprachlich könne der Einzelrichter nicht „Vorsitzender des Gerichts“ sein. Nach einer Übertragung auf den Einzelrichter gemäß § 6 Abs. 1 VwGO ist dieser allein – bezogen auf den betreffenden Rechtsstreit – der Gerichtsvorsitzende. Hingegen verliert der Vorsitzende Richter, dem das Präsidium gemäß § 4 Satz 1 VwGO i.V.m. § 21e Abs. 1 Satz 1, § 21f Abs. 1 GVG den Vorsitz im Spruchkörper zugeteilt hat, mit der Übertragung des Rechtsstreits auf ein anderes Mitglied der Kammer als Einzelrichter diese Stellung vollständig (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Februar 1996 – 2 BvR 136/96 –, juris Rn. 18). Unter „Spruchkörper“ ist nicht die mit einem Einzelrichter, sondern die kollegial besetzte Kammer zu verstehen.
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Die Voraussetzungen für die Zwangsvollstreckung liegen jedoch nicht vor. Es fehlt die nach § 169 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 3 Abs. 1 VwVG erforderliche Vollstreckungsanordnung. Diese ist auch dann nicht entbehrlich, wenn ein gerichtlicher Titel gemäß § 168 Abs. 1, § 169 Abs. 1 VwGO vollstreckt wird (str., wie hier VGH Mannheim, Beschluss vom 29. Juli 2020 – 6 S 1635/20 –, juris Rn. 5 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. Februar 2006 – 9 L 74.05 –, BeckRS 2006, 134727; Pietzner/Möller, a.a.O. Rn. 35; Bamberger, a.a.O. Rn. 2; von Nicolai, in: Redeker/von Oertzen, VwGO, 15. Auflage 2010, § 169 Rn. 7; Troidl, in: Engelhardt u.a., VwVG/VwZG, 12. Auflage 2021, § 3 VwVG Rn. 9c; a.A. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. November 2016 – 3 K 90.15 –, juris Rn. 8; Heckmann, a.a.O. Rn. 35; Schmidt-Kötters, a.a.O. Rn. 11; Kopp/Schenke, a.a.O. Rn. 3; Kraft, a.a.O. Rn. 5; Bader, a.a.O. Rn. 2; Waldhoff, a.a.O. Rn. 4; Kugele, a.a.O. Rn. 5; differenzierend Sadler/Kremer, a.a.O., § 3 VwVG Rn. 76).
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Für die Erforderlichkeit einer behördlichen Vollstreckungsanordnung spricht vor allem der Wortlaut von § 169 Abs. 1 Satz 1 VwGO, aber auch der Sinn der Anordnung. Die Anordnungsbehörde hat zu prüfen, ob sie aus Billigkeits- oder Zweckmäßigkeitsgründen von einer Vollstreckung ganz oder auf Zeit absehen oder die Forderung stunden will (VGH Mannheim, a.a.O. Rn. 6). Einer ausdrücklichen Vollstreckungsanordnung bedarf es zwar nicht, wenn der Vollstreckungsantrag so ausgelegt werden kann, dass er die Anordnung schlüssig enthält. Wegen des hoheitlichen Charakters der Anordnung ist eine solche Auslegung aber ausgeschlossen, wenn – wie hier – der Antrag durch Prozessbevollmächtigte gestellt wird (VGH Mannheim, a.a.O. Rn. 7 f.).
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Der Vollstreckungsantrag ist im Übrigen hinreichend bestimmt. Er zielt auf die Vollstreckung in das bewegliche Vermögen. Eine weitere Konkretisierung ist nicht erforderlich. Insbesondere müssen mit dem Vollstreckungsantrag keine einzelnen Vollstreckungsmaßnahmen bezeichnet werden. Die Wahl der Maßnahmen obliegt vielmehr dem Gericht (str., wie hier VGH Mannheim, a.a.O. Rn. 6; Heckmann, a.a.O. Rn. 36; Schmidt-Kötters, a.a.O. Rn. 11.2; Kopp/Schenke, a.a.O. Rn. 3; a.A. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. November 2016, a.a.O. Rn. 3; Pietzner/Möller, a.a.O. Rn. 38, 44 ff.; Kraft, a.a.O. Rn. 5; Bader, a.a.O. Rn. 4). Der Gesetzgeber hat sich bei der Vollstreckung zugunsten der öffentlichen Hand bewusst gegen eine Anwendung der Zivilprozessordnung entschieden. Stattdessen richtet sich die Vollstreckung gemäß § 5 VwVG nach der Abgabenordnung bzw. nach dem entsprechenden Landesrecht, in Schleswig-Holstein nach dem Landesverwaltungsgesetz. Diese Gesetze, die die Vollstreckung im Verwaltungswege regeln, stellen das „Wie“ der Vollstreckung in das Ermessen der Vollstreckungsbehörde (vgl. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, Stand 2021, § 249 AO Rn. 11; Fischer, in: Foerster u.a., LVwG, Stand 2020, vor § 262 Anm. 4.3). Bei der entsprechenden Anwendung auf die Vollstreckung durch den Gerichtsvorsitzenden gemäß § 169 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO ändert sich daran nichts.
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Das Verwaltungsgericht hat die Landeskasse Schleswig-Holstein mit der Ausführung der Vollstreckung beauftragt. Das ist gemäß § 169 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO im Grundsatz zulässig. Die Landeskasse ist Vollstreckungsbehörde gemäß § 1 Nr. 1 Buchst. a der Landesverordnung über die zuständigen Vollstreckungsbehörden vom 23. Oktober 2003 (GVOBl. S. 534). Die Entscheidung, welche Behörde ggf. als Vollstreckungshelfer um Amtshilfe ersucht wird, steht im Ermessen des Gerichts. Dem Antrag des Gläubigers, ihn selbst mit der Vollstreckung zu beauftragen, konnte schon aus Rechtsgründen nicht stattgegeben werden. Der Gläubiger ist als eine der Aufsicht des Landes unterstehende Körperschaft des öffentlichen Rechts ohne Gebietshoheit keine Vollstreckungsbehörde (vgl. § 1 Nr. 4 der vorstehend genannten Landesverordnung). Ob es davon abgesehen mit dem Grundsatz der Fremdvollstreckung vereinbar wäre, gerade den Gläubiger mit der Vollstreckung zu beauftragen, kann dahingestellt bleiben (vgl. zu dieser Frage OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. November 2016, a.a.O. Rn. 5; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 12. März 2012 – 15 M 7/12 –, juris Rn. 4).
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Allerdings ist es dem Vorsitzenden des Gerichts nicht gestattet, die Vollstreckung – wie mit dem angefochtenen Beschluss geschehen – vollständig aus der Hand zu geben. Er hat die Vollstreckung vielmehr eigenverantwortlich zu leiten und das Verfahren so weit wie möglich unter Kontrolle zu halten. Dazu gehört insbesondere, dass er die Auswahl der Vollstreckungsmaßnahmen selbst vornimmt und sie nicht einem Vollstreckungshelfer überlässt (allg. Meinung, vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. November 2016, a.a.O. Rn. 5; VGH München, Beschluss vom 25. Oktober 2013 – 4 C 13.1830 –, juris Rn. 2; Pietzner/Möller, a.a.O. Rn. 27; Heckmann, a.a.O. Rn. 24; Schmidt-Kötters, a.a.O. Rn. 14; Kopp/Schenke, a.a.O. Rn. 7; Kraft, a.a.O. Rn. 3; Bamberger, a.a.O. Rn. 4; von Nicolai, a.a.O. Rn. 6; Kugele, a.a.O. Rn. 5; Troidl, a.a.O., § 4 VwVG Rn. 4a, 4b). Hinzukommt, dass der Vorsitzende einen Vollstreckungshelfer nur dann in Anspruch nehmen darf, wenn er die betreffende Vollstreckungshandlung nicht selbst ausführen kann. Daher darf der Vollstreckungshelfer beispielsweise nicht – wie hier geschehen – mit einer Forderungspfändung beauftragt werden. Der Erlass eines entsprechenden Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses ist gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 5 Abs. 1 VwVG, §§ 309, 314 AO Sache des Gerichtsvorsitzenden (VGH München, a.a.O. Rn. 2 f.; Pietzner/Möller, a.a.O. Rn. 77; Bamberger, a.a.O. Rn. 4).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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